Reklamationen
Eine Kolumne von Michael Erlhoff
In vielen Städten erlebt man dies in der letzten Zeit, wenn man mit einer Straßenbahn durch solche rollt: Der versuchte Blick aus dem Fenster, der doch so attraktiv die Straßenbahn von dessen unterirdischem Pendant, der U-Bahn, unterscheidet und die entsprechende Stadt ansehnlich darstellen soll, wird gepixelt und ist durch diverse Farbpartikel auf den Scheiben unmöglich. Die Aussicht ist zerstört, lässt lediglich noch bunte Schatten der Stadtansicht übrig. Von außen betrachtet erläutert sich dieses Phänomen: Die Waggons vieler Straßenbahnen sind komplett, also auch die Fenster, von Werbegestaltern mit Farbe besprüht oder mit Folien überzogen, was in der jeweils spezifischen Anordnung für irgendetwas werben soll. Die öffentlichen Verkehrsmittel nämlich sind zumindest schon partiell und gewiss mit steigender Tendenz zu Werbeträgern geronnen. Für Fußballvereine, Waschmittel und vieles andere.
Nur schnell als Nebengedanke: Galt einst die farbige Belastung von Gebäuden und Verkehrsmitteln durch die Nutzung von Spraydosen als strafrechtlich verfolgbares Delikt, so ist dies längst schick geworden und für die Werbung nützlich. Aber zurück zum Problem der von außen bemalten Straßenbahnen. Hier könnte man mit gutem Recht einwenden, diese öffentlichen Verkehrsmittel hätten gewissermaßen immer schon geworben. Eben für die jeweilige Stadt, in der sie sich durch den öffentlichen Raum bewegen. Nämlich als ein substantieller Teil des Corporate Design, also der sehr präsenten Selbstdarstellung der entsprechenden Stadt. Farbig waren diese Fahrzeuge immer, meist angestrichen in den Farben der betreffenden Stadt. Beispielsweise in Rot und Weiß in Köln. Kam man dort von irgendwoher an, so wusste man spätestens angesichts der Bahnen, wo man war.
So warben demgemäß die Straßenbahnen mitsamt ihrer Bemalung für ihr jeweiliges Zuhause, für die Stadt, die sie repräsentierten. Nur betraf das die Stadt selber und führte dies durchaus zu einem Wohlgefallen, zu einer gewissen Befriedigung, wieder zuhause zu sein oder wenigstens zu wissen, in welcher Stadt man gelandet war. – Was eigenartig sogar für jene Stadt galt und immer noch gilt, in der diese komplette Nutzung der Straßenbahn für die geschäftige Werbung erfunden wurde. Für Hongkong.
Denn in Hongkong Central, also im südlichen Teil der großen Stadt, fuhren schon seit Jahrzehnten in einem langen, gleichwohl weitgehend gradlinigem Schienensystem jene doppelstöckigen kurzen (immer nur ein Waggon) Straßenbahnen herum, die alle ohne jede Ausnahme komplett – allerdings ohne die Fenster und ohne den Blick aus ihnen heraus zu verhindern – mit Werbung bemalt waren und immer noch sind. Allerdings wirkt dies ganz anders, gehört es, weil schon so alt und einst einzig in der Welt, also originell, zur Identität von Hongkong. Ist es eines der typischen Motive für touristische Fotos und ebenso für Publikationen von und über Hongkong. Das war lange Zeit und ist noch heute wegen der so eigentümlichen Formate der Straßenbahn etwas Besonderes.
Was bekanntlich alles für die neuen städtischen Reklamebahnen keineswegs zutrifft. Die sind in der Farbgebung zwar, wie man so sagt, technisch gereifter, nur unter anderem deshalb auch soviel aufdringlicher und unansehnlicher. Offenbar existiert da seit einiger Zeit eine Technik, recht schnell die gesamten Gefährte inklusive der Fenster mit farbigen Motiven zu überziehen und führt dies bei denen, die das kommerziell betreiben, zu einer Euphorie des farbigen Überziehens von Straßenbahnen. Nichts davon wirkt auch nur annähernd als durchdachte Gestaltung, und das Ergebnis davon ist lediglich, dass wir weder aus dem Fenster unbeeinträchtigt hinausschauen noch angesichts der Straßenbahnen wissen, wo wir sind.
Gut, man könnte an dieser Stelle einwenden, es habe Werbung auf den öffentlichen Verkehrsmitteln schon länger gegeben. Hässlich genug, doch das waren lediglich Banner, die zwischen den Fenstern und der Unterkante der Waggons für irgendein Produkt oder eine Dienstleistung werben sollten, keineswegs jedoch den Gesamteindruck und die spezifische Farbigkeit der Bahnen zerstörten. Also die Gesamtgestaltung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht komplett ruinierten.
Denn tatsächlich beinhalten und artikulieren die öffentlichen Verkehrsmittel ein beträchtliches Maß an Design. Immerhin bedeuten solche Fahrzeuge hochkomplexe Aufgaben für die Gestaltung sowohl im Innenraum – Sitzplätze und Stehplätze, manchmal Fahrkartenautomaten oder Vorrichtungen, um Fahrausweise zu entwerten, das Licht, Möglichkeiten, sich festzuhalten, die gesamte Anordnung des Fahrersitzes inklusive der entsprechenden Bedienelemente sowie die Knöpfe zur Ankündigung, aussteigen zu wollen, und jener, die Türen zu öffnen, ebenso die Türen und deren Mechanismus selber, den Prozess des Aussteigens zu regeln, aber auch die Fahrgeräusche, die Ankündigung von Haltestellen und dann noch die gesamte nicht sichtbare Fahrtechnik – als auch der äußerlichen Präsenz und Technik, also das gesamte Erscheinungsbild, die Stromabnehmer, die Lichter, den gesamten Komfort und anderes mehr. Nicht zu vergessen die Fenster mitsamt dem Ausblick.
Nun haben sich die Menschen in wirtschaftsorientierten Kulturen schon lange an die Intervention von Werbung im öffentlichen Raum gewöhnen müssen. Überall blockieren Plakatwände und mittlerweile jene beleuchteten Rollenbilder die Perspektive und haben diese längst etliche Architektur augenscheinlich verwirrt. Was nicht an und für sich bloß stört – und immerhin hat ja auch ein Künstler wie Andy Warhol als Plakatmaler angefangen. So gehört das mittlerweile irgendwie zur visuellen Kultur des urbanen Raums, allerdings mit der untröstlichen Tendenz, im Rahmen der Globalisierung auch in der Werbung alle Städte ziemlich gleich aussehen zu lassen.
Doch das mit den Straßenbahn und mit jener Werbung, die sogar noch den Blick nach draußen verhindert, also den Waggon zum Bunker macht: Das ist perfide. Außer für diejenigen, die ohnehin nicht mehr um sich herum schauen, sondern allein noch auf ihr Smartphone.
So zerstört die Werbung skrupellos das Design von Straßenbahnen und insgesamt von Urbanität. Doch stopp: Wer gestaltet denn die Werbung für jene Orte in der Stadt? Offenkundig doch Designerinnen und Designer. Denn selbstverständlich ist ebenfalls Werbung in jedem Aspekt Teil von Design. Was in unserem Fall der Straßenbahn ganz einfach bedeutet, dass hier Designerinnen und Designer, mit der Werbung und deren farbigen Flächen auf den Straßenbahnen heftig beschäftigt, die Gestaltung von anderen Designerinnen und Designern gründlich vernichten oder zumindest stören. So kämpfen im Design seltsam die einen gegen die anderen. Zum Schaden derer, die damit leben müssen. Uneinsichtig und ohne Ausblick.
Michael Erlhoff
Er ist Autor, Design-Theoretiker, Unternehmensberater, Kurator und Organisator; einst CEO des Rat für Formgebung, Mitglied des Beirats der documenta 8 und Gründungsdekan (und dann bis 2013 Professor) der Köln International School of Design/KISD. Erlhoff war Gründer der Raymond Loewy Foundation, ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung und leitete als Gastdozent Projekte und Workshops an Universitäten in Tokio, Nagoya, Fukuoka, Hangzhou, Shanghai, Taipei, Hongkong, New York und Sydney. Seit 2016 lehrt er als Honorarprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.