05.07.2016
Dieser Text soll keineswegs die Freude am Fußball mindern, noch mit den vielfältigen wunderbaren Schriften von Poeten wie Peter Handke oder vor allem Ror Wolf konkurrieren. Noch nicht einmal wird hier ausführlich darauf eingegangen werden, wie mannigfaltig oder gar durchgehend auch das Fußballspiel von Design eingerahmt und partiell geleitet wird. Dabei ist dies Engagement von Design durchaus sehr aufregend. Denn immerhin ist beispielsweise der Ball selber ein hochkomplexes Konstrukt von Ingenieur- wie von Design-Kompetenz – und dabei geht es nicht allein darum, dass er die vielen harten Tritte und gelegentliche Fäuste problemlos schluckt, zugleich eine nahezu fantastische Aerodynamik entwickelt und sowohl im Stadion als auch im Fernsehen oder auf anderen Geräten sichtbar ist (noch vor einigen Jahren übrigens war der Einfluss von Design hier sichtbarer, denn ganz deutlich erkannte man, des Balles ansichtig, an ihm das berühmte geometrische Programm des Architekten und Designers Buckminster Fuller, vergleichbar dessen berühmtem geodätischen Kuppelbau in Montreal).
Eigentlich interessant wäre angesichts des Spielplatzes und der Spielerinnen und Spieler ebenfalls, dass der Rasen, auf dem gespielt wird, ganz deutlich nach Gestaltungs-Richtlinien geschoren ist; zudem wird er nach klarer grafischer Anordnung mit Linien versehen. Und auf dem Rasen rennen dann Menschen herum, die durch Design als zwei Mannschaften und als Schiedsrichter visuell voneinander getrennt werden. Dabei haben Gestalterinnen und Gestalter auch noch die Zahlen und Namen auf dem Rücken und die Werbung auf der Vorderseite der Trikots entwickelt. Mehr noch, die Fahnen der Linienrichter, die Trillerpfeife des Schiedsrichters, die aufdringlichen und heutzutage meist elektronisch gesteuerten Werbebanner,
die Sitzplätze, die VIP-Lounge mitsamt dem Interieur, sämtliche Wegweiser, Sicherheitsmaßnahmen und Schilder oder die Stände für Esswaren nebst meistens diesen selber: Alles Ausdruck von Design. Mehr oder weniger gelungen oder klug.
Zugegeben, es ist immer etwas merkwürdig, einen Text mit dem Hinweis darauf zu beginnen, wovon er nicht handeln wird. Doch gelegentlich ist das ganz vernünftig, da man sonst als Autor etwas einseitig auftritt. Dies betrifft präzise die nun folgenden Nachdenklichkeiten, denn diese wirken im Verhältnis zu der gewaltigen Attraktion des Fußballspiels ziemlich peripher.
Gleichwohl gehört dies dazu, ist ebenfalls Resultat von Design und prägt jede Meisterschaft. So offenbart jede und ebenfalls die Europa-Meisterschaft erst einmal ein Logo, das mehr oder minder kitschig formuliert ist und gerne den meist ebenfalls grässlich gestalteten Pokal zitiert. Sodann beginnt das Vorprogramm auf dem Rasen: Diverse Menschen rennen in Kostümen (Fashion Design) auf die Grünfläche, breiten Bildwelten aus und laufen oder tanzen herum. 2016 in Frankreich traktierte man das Grün mit einer riesigen Version des Logos nebst ebenso großen Fassungen der Trikots der jeweils beiden beteiligten Mannschaften und der nationalen Fahnen. Diese wurden jeweils auf ausfahrbaren und selbstverständlich dafür genau gestalteten Konstrukten so befestigt, dass alle diese sehen und die vielen Frauen und Männer, die das auf den Rasen gebracht hatten, um diese herum laufen konnten.
Gewissermaßen völlig sinnlos oder lediglich in der Geste begründet, die nun statisch befestigten Bilder durch das Laufen zu verlebendigen. Womit diese Menschen – und das ist durchaus ein Problem – nicht mehr als solche auftreten, sondern als Mechanik funktionieren. Im härtesten Sinn von Funktionalität. Ihre Eigenheiten verschwinden zu Gunsten des einfachen Ornaments. Bloße Partikel, fest strukturierte Elemente, blasser Teil der sie überwachenden Bildwelten.
Nun unterstellt man gewiss, dass diese Menschen das doch sehr gerne so tun. Mag sein, und tatsächlich genießen Menschen recht häufig, nicht als solche oder gar als sie selber kenntlich zu werden, vielmehr in einer anonymen Menge, eben im Ornament, unterzugehen und so nicht mehr verantwortlich zu sein, nicht mehr aufzufallen mit dem, was man tut. Die Gemeinschaft als Ornament tilgt jegliche Eigenart und Verantwortung. Innerhalb des Ornaments ist man niemals schuld an dem, was passiert. Es sei denn, man fällt innerhalb des Ornaments aus der Rolle. Denn nur das ist deutlich: Das Ornament funktioniert lediglich, wenn alle genau funktionieren.
Bei der Eröffnung des Spiels erweitert sich diese Situation auf die Ränge des Stadions. Dort nämlich treten, separiert in einzelnen Blöcken, die Fans der beiden Mannschaften auf. Durchaus in vergleichbarer Formation. Sie alle sind, je nach mannschaftlicher Zugehörigkeit, untereinander sehr ähnlich gekleidet, nämlich mit den Accessoires, die von entsprechenden Unternehmen angeboten und selbstverständlich von Designerinnen und Designern gestaltet werden. Dann mag die eine einen vermeintlich besonderen Hut oder extravagante Schminke tragen und ein anderer kurze Hose und ein T-Shirt mit den Mannschaftsfarben – doch niemand vereinzelt sich in solch einem Block, alle reißen die gleichen Schals in die Höhle, bewegen sich in gemeinsamer Welle und singen dieselben Sprüche.
Schnell angemerkt: Mittlerweile hat irgendein Forschungsinstitut tatsächlich herausgefunden, dass es zumindest sechzig bis achtzig Leute braucht, solch eine Welle wirklich so zu starten, dass die anderen mitmachen. Daraufhin erschallen die beiden Nationalhymnen, und alle der entsprechenden Nation – meist außer einigen Spielern, die nur so tun – singen lautstark im großen akustischen Ornament mit.
Nun könnte man das vordergründig als allgemeinen Enthusiasmus und als soziales Erlebnis oder Erlebnis von Sozialität benennen und goutieren. Als bloße Freude am Ereignis. Wenn damit nicht immer wieder ein furchtbares Erbe angetreten würde. Kennt man doch solche Ornamentalisierung der Menschen zu abstrakten Massen allemal aus dem Militär, wo das genau dafür genutzt wird, dass alle willenlos, bewusstlos und verantwortungslos mitmachen sollen. Ohne jedes Nachdenken. Was allgemeine Mode wurde in den dafür berüchtigten Hollywood-Filmen, in denen nahezu Hunderte von Menschen in sehr fröhlich gestalteten Tanz- und anderen Massenszenen jegliche Eigenheit oder Erkennbarkeit als Individuen emsig verloren. Wiederum sind sie in diesen Filmen lediglich gestaltetes Ornament und wirken bloß in dieser Weise, also irgendwie beliebig.
Man kann das noch verschärfen und auf das sehr kluge Buch von Siegfried Kracauer „Das Ornament der Masse“ verweisen: „Das von seinen Trägern abgelöste Ornament ist rational zu erfassen. Es besteht aus Graden, Kreisen, wie sie in den Lehrbüchern der euklidischen Geometrie sich finden; auch die Elementargebilde der Physik, Wellen und Spiralen, bezieht es mit ein. Verworfen bleiben die Wucherungen organischer Formen und die Ausstrahlungen des seelischen Lebens. Die Tillergirls lassen sich nachträglich nicht mehr zu Menschen zusammensetzen, die Massenfreiübungen werden niemals von den ganz erhaltenen Körpern vorgenommen, deren Krümmungen sich dem rationalen Verständnis verweigern. Arme, Schenkel und andere Teilstrecken sind die kleinsten Bestandstücke der Komposition.“
Kracauer argumentierte sehr überzeugend in den 1930er-Jahren, wie sehr autoritäre Regime genau diese Umwandlung von Menschen in ornamentale Strukturen schätzen, verordnen und durchziehen. Explizit erläuterte er dies angesichts von italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus. Und noch heute klingt doch recht erschreckend, wenn Deutsche beim Fußball mit gewollt tiefer Stimme alle zusammen „Sieg“ rufen – und das „Heil“ mitklingt. Oder man erinnere nur den Film „Triumph des Willens“ oder die Olympischen Spiele 1936 – wobei furchtbarerweise fast alle solche Olympischen Spiele (vielleicht mit Ausnahme derer einst in München und dann in London) genau diese Wandlung von Menschen in Ornamente realisierten. Eben als attraktiv gestaltete und de facto (doch auch dies gehört leider zu bestimmten Aspekten von Design) zutiefst autoritäre Zurichtung der Menschen in eine bestimmte Gleichförmigkeit und Funktion. Denn das Ornament, eben auch das aus Menschen gebaute, vermittelt Sicherheit und gradlinige Ausrichtung auf einen Zweck. Nichts anderes aber beruhigt die Autoritäten und leider oft auch zumindest für eine gewisse Zeit im Rahmen eines Ereignisses die Menschen, weil auf diesem Weg klare Verhältnisse herrschen. Individualität zuzulassen nämlich verlangt, weil etwas chaotisch, mehr Aufmerksamkeit, Verantwortlichkeit und Empathie.
Ja, auch an dieser Zurichtung der Menschen ist wieder einmal das Design substanziell beteiligt. Es entwirft die Ornamente und jegliche Mittel, diese zu produzieren. Noch trostloser: Es tut dies in einer Manier, dass sich solche letztlich brutale Organisation in Wohlwollen auflöst. Damit ist zweifellos nicht das Fußballspiel an und für sich diskeditiert. Das mag weiterhin Begeisterung und Zustimmung finden und gewinnt diese wahrscheinlich sogar gerade deshalb, weil es letztendlich viel chaotischer ist, als all die schlauen Strategen glauben und glauben machen.
Denn das ist die wirkliche Qualität der sozialen Dimension von Fußball wie von Design: Am Ende gestaltet der Gebrauch und brechen die Menschen – hoffentlich – immer wieder aus der geplanten und gestalteten Ordnung aus.
Michael Erlhoff
Er ist Autor, Design-Theoretiker, Unternehmensberater, Kurator und Organisator; einst CEO des Rat für Formgebung, Mitglied des Beirats der documenta 8 und Gründungsdekan (und dann bis 2013 Professor) der Köln International School of Design/KISD. Erlhoff war Gründer der Raymond Loewy Foundation, ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung und leitete als Gastdozent Projekte und Workshops an Universitäten in Tokio, Nagoya, Fukuoka, Hangzhou, Shanghai, Taipei, Hongkong, New York und Sydney. Seit diesem Jahr lehrt er als Honorarprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.