top

Perfektes Design

Wenn alle tradierten Kriterien beschworen werden
26.06.2017

Eine Kolumne von Michael Erlhoff 

1. Einfältig

Für sehr lange Zeit galten innerhalb von Design und ebenso im allgemeinen Verständnis von Design sehr klare Kategorien, dies als gelungen oder misslungen zu erörtern – einst sprach man in diesem Zusammenhang sogar ganz moralisch von „gutem“ und „schlechtem“ Design. Im Selbstverständnis jener Zeit und teilweise noch heutzutage erachtete man diese Kriterien zudem als eindeutig und als problemlos. So wirken sie auch auf den ersten Blick und konnten sich somit leicht verallgemeinern. Denn dabei geht es beispielsweise um die angemessene Funktion, also darum, dass genau das, was man mit einem entsprechenden Gerät oder Zeichen erreichen wolle, genau gemäß dieser Vorstellung geschieht. Ganz maschinell oder automatisch.

Ein weiteres wichtiges Kriterium war und ist die Effizienz, eben kostengünstige wie eilige und erneut problemlose Funktion. Desweiteren sind aufzuführen zum Beispiel Sauberkeit, da Produkte eher Schmutz entfernen als diesen entwickeln sollen, oder einfache Handhabung nebst klarem Verständnis sowohl von Gegenständen als auch von jeglichen Zeichen und Medien.

Was zusammengefasst werden könnte und häufig wird unter der Kategorie der Ergonomie. Ergonomisch meint, es diene dem Menschen, sei demgemäß human oder auch nur bequem gestaltet. Wenn alles dann auch noch langlebig ist und verhältnismäßig einfach oder wenigstens plausibel hergestellt werden kann, dann spricht man geflissentlich von perfektem Design – und gewinnt dazu die entsprechenden Designpreise und öffentliches Ansehen.
Das klingt einfach und verständlich und entspricht auch dem heute zu gerne zitierten Satz, Design löse Probleme und schaffe jeweils die intendierte Verbesserung von etwas.

2. Zwiespältig

Folgt man dieser Liste von Kriterien für gutes und erfolgreiches Design, dann stolpert man unter etlichen anderen auch über einen der berühmtesten Designer der Vereinigten Staaten von Amerika, der schon Mitte der achtziger Jahre genau mit diesen Kriterien in einer TV-Dokumentation sein Design öffentlich und durchaus voller Stolz präsentierte – übrigens einer Dokumentation, die lediglich seine eigenen Kommentare zu den Produkten und zum Glück keinerlei fremde Erläuterungen enthielt und Anfang der neunziger Jahre unter anderem von „Spiegel TV“ ausgestrahlt wurde.

Bei diesem Designer handelt es sich um Frederick A. Leuchter (in der englischen Sprache tendiert man dazu, ihn als „ljutschter“ auszusprechen). – Zugegeben, eigentlich, und so empfand oder empfindet er sich noch immer, einer der tatsächlich berühmtesten und in seinem Metier einflussreichsten Designer, gleichwohl innerhalb der Design-Szene leider nur sehr wenig wahrgenommen. Dabei war dieser Mann für etliche Jahre der offizielle „Electric Chair Designer USA“.

Dieser Frederick Leuchter gestaltete und re-designte nämlich in vielen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten die elektrischen Stühle zum Vollzug der Todesstrafe. Und zwar mit der demonstrativen Präsenz all jener Kriterien, die allgemein zur Beurteilung von „gutem Design“ herangezogen werden.
In jener TV-Dokumentation geschieht das überaus deutlich. Leuchter bewegt sich sprachlich dabei fortwährend im Kontext von Ergonomie und der Verbesserung humaner Bedingungen. So verdeutlicht er die dringende Effizienz, auf dass die Hinrichtung möglichst problemlos vonstatten gehen sollte, also präzise und eilig. Außerdem komfortabel für die Kandidatinnen und Kandidaten des elektrischen Stuhls. Die sollten bequem sitzen, man sollte ihnen einfach das entsprechende elektrische Geschirr anschnallen und sie danach auch simpel entsorgen können.

Die Funktion musste stimmen. Dazu alles sauber verlaufen, da es doch Zeugen bei der Hinrichtung gibt, die durch den Anblick nicht besonders erschüttert werden sollten. Preisgünstig und einfach herstellbar sowieso, dazu ohne großen Aufwand machbar. Frederick Leuchter zeigte dies in jener Dokumentation ganz ausführlich und detailliert, er setzte sich sogar zuerst ein altes Gerät (Teil des ganzen Systems) auf seinen eigenen Kopf, erläuterte dessen Probleme und tauschte es dann mit großer Begeisterung gegen seinen neuen Entwurf aus, der viel besser passte. Außerdem – nicht zuletzt eine weitere Kategorie zur Bestimmung von „gutem Design“ – war dieses von ihm gestaltete Teil viel schöner als das alte, einfach attraktiver. Sogar „Langlebigkeit“ als wichtiges Kriterium wurde von ihm erwähnt – womit er jedoch nur das Gerät meinen konnte. Also insgesamt besser, ein klarer Fortschritt.

Alles ist stimmig in dieser Dokumentation, und Frederick Leuchter offenbarte sich zusätzlich auch noch als Sammler des vorzüglichen Design, was ebenfalls viele Designer offen oder hintergründig ebenso auszeichnet. Denn er öffnete die Tür zu seinem Design-Museum voller Teile von solchem Gerät oder kompletter elektrischer Stühle und dazugehöriger Gerätschaften. Ganz stolz, selbst beeindruckt.

Ja, dieser Frederick Leuchter war zeitweilig in den Vereinigten Staaten gar so erfolgreich in seiner Branche, dass er von den Justizbehörden diverser Bundesstaaten beauftragt wurde, ebenso für ein Re-Design von Gaskammern und von Hinrichtungen durch Injektion zu sorgen. Was er geflissentlich tat und wofür er, wie insgesamt, sowohl finanziell als auch publizistisch sehr gewürdigt wurde. Denn alles, was er in jener Zeit gestaltete, war fraglos präzise, ökonomisch gut kalkuliert und entsprach oder entspricht bis zum heutigen Tag den Vorstellungen von perfektem Design. Es behauptet sich als funktional, ergonomisch, langlebig, effizient, sauber und auch noch attraktiv und sogar als Gegenstand von Sammelleidenschaft.

Somit bleibt bloß die deprimierende Nachricht, dass jene so gerne vorgetragenen Kriterien für „gutes Design“ keineswegs bedeutungslos, allerdings trostlos sich gebärden. Wenn nicht bedacht wird, wofür jene Funktionalität mitsamt dem Rest eingesetzt wird, dann artikulieren die Kategorien einen jämmerlichen Zustand im Design und in der allgemeinen Beurteilung von Design.
Und noch eine Anmerkung für Insider: Dies alles geht übrigens unbedingt auch konform mit jener derzeit in der Forschung so beliebten „Actor Network Theory / ANT“ des Bruno Latour, wurde von diesem und wird von dessen Apologeten allerdings als Problem nicht benannt. Womit unter anderem die substantielle Banalität und mangelnde Aussagekraft sowie ohnehin veraltete Fassade dieser Theorie mal wieder offensichtlich wird.

Bleibt die biografische Notiz zu jenem Frederick A. Leuchter nachzuholen: Er wurde am 7. Februar 1943 als Sohn eines Justizvollzugsbeamten geboren, beendete 1964 sein Studium der Geisteswissenschaften an der Boston University mit dem BA und verschaffte sich dann auf irgendwelchen dubiosen Wegen die Kenntnisse als Exekutions-Fachmann, als Ingenieur und Designer für Hinrichtungen. Erst in den 1990er Jahren verlor er an Einfluss und Ansehen auch in den Vereinigten Staaten, da bekannt wurde, dass er 1988 einen angeblich wissenschaftlichen Bericht verfasst hatte, der im Auftrag irgendeiner Institution (das ist immer noch etwas unklar) wissenschaftlich beweisen sollte, dass in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern kein Gas eingesetzt worden war. Immerhin ruinierte dies seine Karriere.
Allerdings muss man ja insgesamt über diese Karriere staunen. Da doch seine so drastisch und komplex ausgearbeitete Gestaltung und deren laut vorgetragene Selbstgewissheit längst vorher sowohl seine Aktionen als auch die damit verbundenen Vorstellungen von Design alle Widersprüche hätte verdeutlichen müssen. Aber das wurde, wie so manches im Design und ohnehin andernorts, simpel verdrängt. Denn die Kriterien stimmten ja.

3. Nachträglich

Als ich Anfang der neunziger Jahre in meiner wöchentlichen Vorlesung an der Köln International School of Design / KISD diese TV-Dokumentation über jenen Designer komplett vorgeführt hatte und direkt danach mich verabschiedete und den Hörsaal verlassen wollte, blieben die etwa 150 Studierenden geschlossen sitzen und erklärten mir, dass sie sofort mit dem Design-Studium aufhören würden, wenn es nun nicht eine ausführliche Diskussion darüber gäbe. Die fand statt und geriet sehr intensiv – und alle setzten ihr Studium fort.

Michael Erlhoff

Er ist Autor, Design-Theoretiker, Unternehmensberater, Kurator und Organisator; einst CEO des Rat für Formgebung, Mitglied des Beirats der documenta 8 und Gründungsdekan (und dann bis 2013 Professor) der Köln International School of Design/KISD. Erlhoff war Gründer der Raymond Loewy Foundation, ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung und leitete als Gastdozent Projekte und Workshops an Universitäten in Tokio, Nagoya, Fukuoka, Hangzhou, Shanghai, Taipei, Hongkong, New York und Sydney. Seit 2016 lehrt er als Honorarprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.