Neue Wege statt Meisterkult
David Kasparek: Mit dem Buch "Schwarzer Rolli, Hornbrille" hast du ein Plädoyer für einen Wandel in der Planungskultur vorgelegt. Gab es für dich persönlich diesen einen speziellen Moment, eine Initialzündung: Jetzt muss ich dieses Buch schreiben?
Karin Hartmann: Ja, diese Initialzündung gab es: die Corona-Pandemie. Gerade in den ersten Monaten zeigte sich, wie schnell die Errungenschaften der Gleichberechtigung verloren gehen können. Chancengleichheit, habe ich dabei gemerkt, ist kein linearer Prozess, sondern geht schnell wieder verloren, wenn es eine Krise gibt. Das hat mich wirklich erschreckt, weil ich den Glauben hatte, dass Progressives immer nach vorne geht und damit auch die Gleichberechtigung. Dass wir aber solch einen Rückschlag erlebten, hat mich schockiert. Ich hatte das Thema schon lange im Kopf, und ich wollte auch schon früher beispielsweise Publikationen gegendert haben. Während der Pandemie dachte ich, es sei an der Zeit, es aufzuschreiben – auch weil ich finde, dass es diese Art Statement so in unserer Branche noch nicht gibt.
Wie leicht oder schwer ist es dir gefallen, die inhaltlich sehr breit aufgestellten und fundierten Zahlen und Fakten aus dem Bereich intersektionaler Feminismus für die Architektur zusammenzutragen?
Karin Hartmann: Mir ist es relativ leichtgefallen. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass es ein Buch sein müsste, das nicht so sehr im Detail in die Tiefe geht, sondern mit vielen Punkten einen Bogen spannt, um ein großes Bild zu skizzieren. Natürlich besteht die Gefahr, dass man in einem großen Bild nicht bei allen einzelnen Punkten ganz trittsicher ist. Das ist auch ein Grund, warum ich bei den Themen, auf die ich eingehe, viele Quellen zitiere.
Der Titel des Buchs spielt auf das modische Ideal eines Architekten an, der zum schwarzen Rollkragenpullover Hornbrille trägt. Was symbolisiert dieses Klischee für dich?
Karin Hartmann: Ich habe in den 1990er-Jahren studiert und ich fühle mich da ganz klar an "die Meister" der architektonischen Moderne erinnert. Dabei geht es um einen Kodex der Zugehörigkeit zur Architektur, und für mich – und das ist durch Studien belegt – ist er männlich codiert. Ich kann mich selbst noch erinnern, wie wir zu Beginn des Studiums alle ganz unterschiedlich angezogen waren und ab dem dritten Semester gab es irgendwie diesen Bruch hin zur einfarbigen Kleidung: Es gab Jobs in Büros, da wurde gemusterte Mode kommentiert, also zog man sie nicht mehr an. So etwas gibt es in anderen Bereichen aber auch und ist nicht auf die Architektur beschränkt.
In Deutschland absolvieren mehr weiblich gelesene Personen das Architekturstudium als männliche. Das spiegelt sich weder auf Ebene der GeschäftsführerInnen, noch auf Seite der InhaberInnen wider. Viele Frauen sehen trotz guter Ausbildung und bester Noten keine dauerhafte Perspektive für sich als Architektin in den hiesigen Büros. Du legst im Buch anschaulich dar, woran das liegt: Es geht offenkundig um strukturelle Benachteiligung. Wenn du morgen als Sachverständige in einen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesbauministerin Clara Geywitz initiierten ExpertInnenrat berufen würdest und dort eine Änderung an der aktuellen Situation vorschlagen könntest, was wäre deine erste Empfehlung?
Karin Hartmann: Die Grundlage für diese exkludierenden Mechanismen, die sich später systemisch so in der Praxis widerspiegeln, wird in der Lehre gelegt. In der Lehre könnte am schnellsten reagiert werden. Wenn diese so aufgebaut wäre, dass es zum Beispiel eine Rekanonisierung gäbe, dass die Architekturgeschichte aufgearbeitet würde, dass auch weibliche Vorbilder geschichtlich ins Verhältnis gesetzt würden und Professorinnen und Professoren pari pari die Lehre ausübten, dass eine gesunde Arbeitsweise eingeübt würde, dann kämen die Leute anders aus dem Studium und dies würde sich auf die Arbeitskultur in der Praxis auswirken. Ich weiß nicht, ob es ein Projekt für Olaf Scholz wäre oder für die Bundesbauministerin, aber ich sehe da tatsächlich die größten Chancen (lacht).
Für das Buch hast du ein Interview mit Afaina de Jong geführt, die unter anderem den niederländischen Beitrag zur letzten Architekturbiennale in Venedig mit kuratiert hat und selbst in der Lehre tätig ist. Sie weist darauf hin, dass jungen Frauen ebenso die weiblichen Vorbilder fehlen, wie BIPoCs oder Personen mit Migrationsgeschichten. Du hast selbst Architektur studiert. Wie war das in Deinem Studium: Gab es Professorinnen, die als Vorbild taugten, und spielten Architektinnen überhaupt eine Rolle?
Karin Hartmann: Frauen haben als Vorbilder keine Rolle gespielt, weil es sie quasi nicht gab. Ich habe es neulich recherchiert und der Anteil der Professorinnen war damals im einstelligen Bereich. Wir hatten außerdem das Gefühl, es wäre wirklich komplett egal, ob wir Frauen oder Männer sind. Dennoch haben die strukturellen Benachteiligungen gewirkt: Es waren nur männliche Professoren da, die Männer hatten einen größeren Redeanteil et cetera. Die Strukturprobleme waren uns nicht bewusst. Rückblickend kann ich sagen, dass ich damals viele Seminararbeiten über Architektinnen gemacht habe, wobei mir das erst kürzlich aufgefallen ist, als ich meine Unterlagen sortiert habe.
Die von dir angesprochene Behauptung, letztlich machten Männer und Frauen doch nur Architektur, so etwas, wie weibliche Architektur gäbe es nicht, wurde nicht nur in eurem Studium gelebt, sondern ist bis heute immer wieder anzutreffen. Dennoch nehmen Frauen bestimmte Räume offenkundig anders war als Männer, Menschen aus anderen Kulturen haben wiederum einen anderen Blick auf diese Räume. Ein Kapitel deines Buchs widmet sich der Frage, ob Frauen anders entwerfen. Zu welchen Schlüssen bist du dabei gekommen?
Karin Hartmann: Das ist wichtig: Es werden nicht nur Frauen durch strukturellen Hürden zurückgedrängt, sondern auch andere marginalisierte Gruppen. Wir finden heute die Situation vor – das merkt man unserer gebauten Umwelt auch an –, dass die Perspektive, aus der die Planenden bauen, zu einseitig ist. Dabei fehlen viele andere Stimmen. Es ist ein relativ kleiner Anteil unserer Bevölkerung, der die gesamte Planung übernimmt. Man sollte vielleicht den Blick weiten und fragen, was mit Älteren, Kindern, Behinderten, queeren Personen und eben Frauen ist. Deren Lebensrealität muss einen Widerhall finden, auch baulich. Ich glaube, dass alle Bevölkerungsgruppen ihre eigenen Lebensrealitäten haben, aber wir – gerade die in den 1990er-Jahren Geprägten – immer so gepolt waren, dass es ausreichen würde, wenn wir versuchten, uns in verschiedene Situationen hineinzuversetzen. Dabei ist es total schwierig, sich in die Schuhe von anderen zu stellen. Es ist viel leichter, die jeweils anderen zu fragen. Und warum nicht einfach alle planen lassen? Abseits von diesem Gerechtigkeitsaspekt, muss dieser Beruf strukturell natürlich für alle zugänglich sein – das ist er aktuell nicht. Wir haben zusätzlich das Problem, dass die Personen, die in der Architektur arbeiten, durch bestimmte Narrative so unglaublich absorbiert werden. Die Idee 24/7 in der Architektur zu arbeiten, während Care-Arbeit keinen Platz hat, ist immer noch sehr weit verbreitet.
Also das sich-Zeit-nehmen für Kinder, pflegebedürftige Angehörige und ähnliches…
Karin Hartmann: Ja, und zwar egal, ob als Mann oder Frau. Ich persönlich kenne sehr viele Frauen, die für den Job auf Kinder verzichtet haben, bewusst oder unbewusst. Ist das ein Zufall? Und dieses absorbiert Sein führt natürlich noch mehr dazu, dass man selbst weniger Lebensrealitäten kennenlernt. Rein zeitlich spielt das in der Summe eine Rolle.
„Wir finden heute die Situation vor – das merkt man unserer gebauten Umwelt auch an –, dass die Perspektive, aus der die Planenden bauen, zu einseitig ist.“
Du zitierst im Buch auch eine US-amerikanische Studie, nach der in den USA 70 Prozent der weißen und 61 Prozent der Women of Color am Arbeitsplatz Sexismus erlebt und zwei Drittel aller Schwarzen ArchitektInnen Erfahrungen mit Rassismus gemacht haben. Gibt es eine vergleichbare Studie auch in Deutschland?
Karin Hartmann: Ich kenne keine vergleichbaren Zahlen für Deutschland. Es gibt eine gute Studie von der TU München "Frauen in der Architektur" aus dem Jahr 2018, aber die beruft sich meines Wissens nur auf die Situation von Frauen.
Wie nimmst du die Reaktionen auf das Buch wahr?
Karin Hartmann: Es gibt eine beachtliche Anzahl positiver Kritiken, was mich sehr freut. Nach dem Schreiben im Stillen ist die Resonanz der Leserschaft etwas sehr Schönes. Diesen gesamten Prozess habe ich beim Schreiben ja nicht geahnt, erst durch Postings in Social Media, persönliche Gespräche und Kritiken wird klar: Es scheint gut in die Zeit zu passen.
Schwarzer Rolli, Hornbrille
Plädoyer für einen Wandel in der Planungskultur
Karin Hartmann
160 Seiten, 16 farb. und s/w Abb.
Sprache: Deutsch oder Englisch
Jovis Verlag, 2022
ISBN 978-3-86859-698-4
26 Euro