Schiefergebirge für die Kensington Gardens
"Ich mache keine Kunst, sondern Architektur", erklärt Junya Ishigami mit der gleichen Leichtigkeit, die seine Entwürfe so sehr bestimmt. All seine Projekte vereine das Ziel, intensiv über die Möglichkeiten von Architektur nachzudenken und diese darüber hinaus fundamental zu verändern. Wir werden in diesem Jahr noch mehr von ihm hören, denn: Ishigami entwirft den 19. Serpentine Pavilion in den Kensington Gardens.
Selbstverständlich baut der Vierundvierzigjährige auch hier ein Experiment – einen Baldachin aus Schiefer, wobei der Fokus ganz auf der Dachkonstruktion liegt. Junya Ishigami möchte sie als eine Art Höhle aus der Wiese herauswachsen und über dem Erdboden schweben lassen. Die schweren Schieferplatten stellen dabei eine Herausforderung an die Statik dar. Aus diesem Grund entwickelt der japanische Architekt seine Entwürfe stets von der ersten Idee an direkt mit Ingenieuren wie dem viel beachteten Experten Jun Sato. Entwurf und Tragwerk denkt Ishigami von Beginn an parallel, was ihm seine Phantasiegebilde erst erlaubt. Was naiv aussieht, ist bis ins Detail berechnet.
Ausgangspunkt bildet dafür meistens ein radikaler Perspektivwechsel, der mit Maßstäben, Normen und Konventionen spielt – und ab und zu auch gerne mal alle Urprinzipien des Bauens auf den Kopf stellt. Architektur muss schließlich nicht wie die Urhütte von Laugier primitiven Schutz vor Regen, Wind und Sonne bieten. Laut Ishigami braucht sie vor allem einen Horizont. In Kanagawa errichtet sein Büro gerade eine 4.000 Quadratmeter große Dachfläche ohne eine einzige Stütze, im chinesischen Shandong blickt mit 45 Meter Höhe stolz die "Chapel of Valley" in den Himmel, die sich wie eine Schlucht auf eine dramatische Breite von nur 1,3 Meter verjüngt. Manchmal wachsen ganze Landschaften in seine Gebäude, dann wiederum transplantiert der Architekt ein Waldstück von A nach B und schafft dazwischen einen von amorphen Teichen umspülten Zaubersee. Ishigamis Projekte hinterfragen alle Standards.
Auch wenn jedes Projekt aus dem Studio Junya Ishigami + Associates einen eigenen Charakter hat, beruhen sie doch alle auf einer ähnlichen Sprache. Das Motiv der schwebenden Höhle knüpft einerseits an den "KAIT Workshop" in Kanagawa an, mit dem der 34-jährige Architekt 2008 seinen Durchbruch hatte: Insgesamt 300 superschlanke Stützenunikate bilden einen künstlichen Wald, der den offenen Hallenraum des Instituts immer wieder neu definiert. Selten ist Architektur so radikal. Andererseits denkt Ishigami in London seinen Restaurantneubau in Yamaguchi weiter, den er als Negativ vom Negativ aus Betonfelsen vor Ort gießen ließ. Der Wunsch nach einem höhlenartigen Raum kam hier vom Bauherrn, seit 2013 arbeitet der Architekt an diesem aufwendigen Projekt.
Dass seine Natur-Architektur-Experimente also nahezu perfekt in den englischen Landschaftsgarten der königlichen Parkanlage passen, liegt auf der Hand. Und spätestens als Hans Ulrich Obrist im Juli 2018 in Paris das Ausstellungsgespräch im Rahmen von "Freeing Architecture" im Garten der Fondation Cartier moderierte, hätte man die Wahl für 2019 im Grunde schon ahnen können. Es ist also eine gute Entscheidung, Ishigami mit einem temporären Pavillon für die Serpentine Gallery zu beauftragen, erinnert man sich nur an das polierte Aluminium-Dach von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa, dass sie an dieser Stelle genau vor zehn Jahren über der Rasenfläche wie eine Wolke schweben ließen. Das Schieferdach für seinen Serpentine Pavilion stellt für Junya Ishigami einen speziellen Freiraum dar. Mit den Ziegeln verweist er auf traditionelle Bauweisen, die weltweit angewendet werden; durch eine neue Art der Konstruktion sollen sich die Schieferplatten wie ein Stück Stoff im Wind wiegen. Eine feinsinnige Metapher, vielleicht auch für die europäische Zukunft.