Jörg Brüggemann – Autobahn
Auf den ersten Blick sind es erstaunlich schöne Aufnahmen, die der Fotograf Jörg Brüggemann fünf Jahre lang von Autobahnen überall in Deutschland gesammelt hat: Dunkle Wälder oder weite, grüne Hügelketten, Menschen und Autos in strahlendem Sonnenschein. Seine Aufnahmen atmen die Weite und zeigen die Autobahnen erstaunlich friedlich. Dann aber schleicht sich etwas Bedrohliches ein. Hier führen Bremsspuren quer über den Asphalt, dort steht ein grasgrüner LKW quer über alle Fahrbahnen. Auf einer staubigen Piste neben einer massiven Lärmschutzwand aus Beton spielt eine junge Familie, wie in einem postapokalyptischen Albtraum. Die Menschen im Sonnenschein stehen auf der frei gehaltenen Rettungsgasse und auf den zweiten Blick möchte man fragen: Wie viele Verletzte? Hinter drei beschaulich verwachsenen Wohnhäusern an einer steilen Straße ragt ein Betonstumpf in die Höhe – was dieser Stumpf hält, sehen wir nicht. Aber wir ahnen, dass es etwas Gewaltiges sein muss, das dieser massige Betonstiel in die Höhe stemmt, um die ständig drohende Katastrophe zu verhindern.
Es ist diese suggestive Kraft, aus der sich die starke Faszination des kleinen, konzentrierten Buches speist. Auf dem sattblauen Cover steht in weißer Schrift einfach nur "Autobahn", was beruhigend wirkt wie die Ankündigung eines nahen Rastplatzes und doch ist das Buch eher ein Film. Leicht gelingt es Brüggemann, die Spannung über 46 Bilder hinweg zu halten. Es sind Stillleben, auf denen dieser deutsche Mythos zur Ruhe kommt. Zweifellos: Die Autobahn ist das deutsche Nationalbauwerk des 20. Jahrhunderts. Insgesamt 13.100 Kilometer lang führt sie kreuz und quer durch Deutschland und steht dabei ebenso für Urlaub oder den festen Glauben an Zukunft und Fortschritt, wie sie für das Dritte Reich steht, für Unfalltote, ewige Staus und den so individuellen wie unökologischen und unökonomischen Lebensstil der Verbrennungsjahre. "Ich habe viel in fernen Ländern fotografiert", erzählt Brüggemann, danach wollte er sich der deutschen Heimat zuwenden. Er kam auf die Autobahn und erst später fiel ihm auf, dass er damit auch in die eigene Kindheit zurückfand.
Brüggemann stammt aus dem Ruhrgebiet, als Kind habe er im Schatten der Schallschutzwände entlang der A42 gespielt, erzählt er. Und im Sommer ging es im Auto nach Österreich. Für dieses Fotoprojekt war er monatelang "on the road", im buchstäblichsten Sinne. Die Autobahn und die Rastplätze haben in ihm auch Heimatgefühle geweckt, vor allem aber ein Gefühl, dass das alles so nicht mehr lange bleiben könne. Das Gefühl einer drohenden Gefahr, das aus seinen Bildern strömt, lässt er gelten. "Ich wollte all die Themen verbinden, die mit der Autobahn zusammenhängen. Dazu gehört natürlich auch Unfall und Tod." Die Reihenfolge der Bilder ist nicht zufällig: Nach der jungen Familie am Lärmschutzwall folgt das Foto mit den Bremsspuren und dann eines, auf dem ein Friedhof unmittelbar an die Autobahn stößt. Danach kommt ein Bild mit einer herrlichen grünen Wiesenlandschaft, über die im heroischen Gegenlicht eine Autobahnbrücke tost.
Auf die Frage, wie er denn die Autobahn jetzt sieht, nach fünf Jahren der intensiven fotografischen Erkundungen, zeigt sich Brüggemann hin- und hergerissen. Den Mythos sieht er bestätigt. Gleichzeitig habe ihn das Gefühl beschlichen, dass das alles nicht mehr lange so bleiben könne. "Die Autobahn, wie wir sie kennen, mit Benzin und Verbrennungsmotor, wird vielleicht oder hoffentlich bald nicht mehr so aussehen." Auch wenn unklar sei, was danach kommt. Abreißen könne man sie nicht so ohne Weiteres. Die deutsche Autobahn ist ‘Too Big to Fail‘. Aber vielleicht fahren darauf ja bald nur noch Elektroautos, leise sirrend und von Autopiloten gesteuert, mit schlafenden, entspannten Passagieren an Bord, ganz unfallfrei. Ist das nun eine schöne Utopie – oder klingt das auch bedrohlich?
Jörg Brüggemann – Autobahn
Hartmann Books
26,8 × 32 cm
96 Seiten, 46 Abb.
Design: HelloMe, Berlin
Hardcover mit Leinenbezug und Schriftprägung
ISBN 978-3-96070-052-4
38 Euro
Aktuelle Ausstellung:
Jörg Brüggemann – wie lange noch
Bis 24.05.2021
ZEPHYR – Raum für Fotografie, Mannheim
zu Gast im Museum Weltkulturen
D5, 68159 Mannheim