Starke Präsenz
Anna Moldenhauer: Ein bestehendes Möbeldesign neu zu denken ist eine Gratwanderung – die formale Präsenz des Bestehenden darf nicht verfremdet werden, die neue Veredlung soll eine Weiterentwicklung sein. Wie sind Sie in diese Aufgabe für Thonet gestartet, mit Skizzen, Moodboards oder einer ganz anderen Sondierung der Ideen?
Jil Sander: Zu Anfang hat es mir Kopfschmerzen bereitet, dass ich nicht in die Form des Marcel Breuer-Freischwingers eingreifen durfte. Ich habe mir die Stühle kommen lassen und mit dem Moodboard über Prints und Töne nachgedacht. Die Ideen waren schnell da, das passiert bei mir im Kopf. Auf Skizzen habe ich verzichtet, weil sie nur für Formvarianten interessant sind, aber die Neuinterpretation war eine Frage von Material und Farbe.
Sie wählen die Formulierung "Präsenz des Bestehenden".
Jil Sander: Ich hatte den Eindruck, dass dem Stuhl etwas von seiner Präsenz verloren gegangen war, weil man ihn schon zu oft gesehen hat. Um diese Präsenz zu erneuern, habe ich an seiner Sinnlichkeit gearbeitet.
Sie und Marcel Breuer haben etwas gemeinsam: Ihrer Zeit voraus, haben Sie mit einem Gespür für die Ästhetik des Wesentlichen Ihre jeweilige Designdisziplin revolutioniert. Was hätten Sie Marcel Breuer zu seinen Lebzeiten gerne gefragt?
Jil Sander: Vielleicht, ob ihm seine handwerkliche Arbeit im Design geholfen hat und wie er zu der Schwingerform gelangt ist. Ich würde ihn auch zu seiner Zusammenarbeit mit Thonet befragen und den kreativen Synergien.
In Zeiten der Klimakrise ist ein bedachter Konsum wichtiger denn je – wie lässt sich Zeitlosigkeit in der modernen Gestaltung erreichen?
Jil Sander: Indem man auf überflüssiges Dekor verzichtet, an dem man sich leicht sattsieht und dass ein Objekt auf seine Entstehungszeit festlegt. Vor allem natürlich durch die Wahl des Materials und eine erstklassige Verarbeitung. Kompromisse sind fatal, wenn es um Haltbarkeit geht, weil sie sich mit der Zeit unangehm bemerkbar machen. Man muss stolz auf die Makellosigkeit eines Gegenstands sein und die Sorgfalt spüren, die in ihn eingegangen ist, eine gewisse Komplizenschaft und Vertrautheit mit den Designern und Handwerksspezialisten.
Warum haben Sie entschieden für Thonet zwei Gestaltungslinien zu entwickeln, "Serious" und "Nordic"?
Jil Sander: "Nordic" entspricht meinem Gefühl für den Zeitgeist, für den Understatement und eine Rückbesinnung auf die Natur charakteristisch sind. Bei "Serious" habe ich an ein inspirierendes Umfeld für konzentrierte geistige Arbeit und Ideenentwicklung gedacht. Ich wollte der Phantasie ein kreatives Umfeld bieten.
Warum haben Sie die Farbnuancen Graphite Ruby Red, Graphite Green, Graphite Blue und Graphite Black für "Serious" ausgewählt?
Jil Sander: Meine Überlegungen fingen beim Chromgestänge an, das ich verändern wollte, weil es das Breuer-Original stark definiert. Als ich die Glossy-Titan-Metalllegierung gefunden hatte, war klar, dass die Farbigkeit des Leders zurückhaltend sein muss. Also habe ich ins Graphit gehende dunkle Töne verwendet. Außerdem sollte das Leder eine matte und leichte Struktur haben.
Dank der Kombination aus Nickelsilver-Finish, Geflecht und hellem Holz erhält die puristische Form von "S64 Nordic" eine visuelle Wärme. Was war für das Erreichen dieser neuen Wirkung des Materialensembles wichtig?
Jil Sander: Das verwendete Leder ist strukturiert, so dass sich das Licht in ihm fängt und trotz der zurückhaltenden Ledertönungen interessante Farbeffekte entstehen. Auch mit dem Holz haben wir gearbeitet, es geölt und hell pigmentiert, und das Rohrgeflecht gebleached, damit reizvolle Zwischentöne entstehen und das Auge zum Verweilen einladen. Im Zusammenspiel mit der matten Metalloberfläche entsteht optische Komplexität und ein mondäner Gesamteindruck.
Ihre Arbeiten sind von Perfektion geprägt, können Sie ein Beispiel nennen, an welchem Detail der Signature-Kollektion JS. Thonet Sie mit dem Team besonders lange gefeilt haben?
Jil Sander: Am Ende kommt es darauf an, dass alle Aspekte miteinander kommunzieren und eine spürbare Kraft entfalten. Auch die attraktive Rückenansicht der Stühle ist mir wichtig gewesen.
Warum passt mattes Leder besser zu den Freischwingern als glänzendes?
Jil Sander: Ich könnte mir auch glänzenderes Leder vorstellen, aber dann müsste man alle anderen Parameter verändern. Weil der Stuhl lange vom Chromglanz in den Schatten gestellt worden war, haben wir zu diesem Zeitpunkt eine insgesamt zurückhaltendere, geheimnisvollere Optik für angemessen gehalten.
Was muss in der Vision gegeben sein, damit Alt und Neu im Ergebnis harmonieren?
Jil Sander: Dieser Punkt war nicht meiner freien Entscheidung überlassen, denn die unveränderliche Form stand schon fest. Ich habe mich sehr angestrengt, damit sie trotzdem frisch wirkt und in ihre heutige Identität hinüberspringt.
Sie schaffen ein Design, dessen man nicht überdrüssig wird. Welchen Ideen im Möbeldesign sind Sie hingegen bereits einmal überdrüssig geworden?
Jil Sander: Ich mag kommerzielles Kalkül nicht so gern.
Wann ist Design, sei es für Mode oder Möbel, "richtig"?
Jil Sander: Das ist die Hundertausend Dollar-Frage. Auf jeden Fall spricht der Zeitgeist dabei mit.
JS . THONET – A PERSONAL INTERPRETATION BY JIL SANDER
Via Brera 1620121 Mailand
Öffnungszeiten
Montag, 7. April – Freitag, 11. April | 10 – 20 Uhr
Samstag, 12. April | 11.00 – 18 Uhr
Sonntag, 13. April | 11.00 – 15 Uhr