Konstantin Grcic
Nicht nur der Geist im Allgemeinen, auch der neue Geist der Arbeit weht mittlerweile, wo er will. „Workspirit“ nennt Vitra denn auch die Neuheiten seines Büromöbelprogramms, die auf der Orgatec in Köln vorgestellt wurden. Darunter befinden sich der Bürostuhl „Allstar“ und der in der Höhe verstellbare Arbeitstisch „Hack“, beide gestaltet von Konstantin Grcic – und beide ebenso prägnante wie überzeugende Statements zur Geschichte von Büromöbeln und zu den tiefgreifenden Veränderungen gegenwärtigen Arbeitens.
Thomas Wagner hat auf der Orgatec mit Konstantin Grcic über beide Produkte und deren Entstehungsgeschichte gesprochen.
Thomas Wagner: Herr Grcic, ein Tisch und ein Stuhl, beide für Vitra und gedacht zum Arbeiten. Beginnen wir beim Bürostuhl: Wie kann es sein, dass ein Konstantin Grcic einen gepolsterten Bürostuhl gestaltet hat? Sie hatten doch nie etwas für ein gepolstertes Leben übrig?
Konstantin Grcic: Doch, doch, große Einsicht!
Das Arbeitsleben bleibt aber doch hart, oder?
Grcic: Ja schon. Ich muss gestehen, ich habe das bei dem Stuhl gar nicht in Frage gestellt. Ich habe auch bei dem Artek-Stuhl, den wir gemacht haben, der auch ein Arbeitsstuhl sein sollte, von Anfang an gesagt, den gibt es nur mit einem Polster. Ich will Diskussionen nicht, in denen es dann heißt: Warum hat der jetzt kein Polster? – und wenn er kein Polster hat: Können wir denn da noch ein Polster drauf legen? Solche Diskussion kenne ich von anderen Stühlen und das wollte ich einfach vermeiden. Es ist nicht so, dass ich grundsätzlich gegen weiches Sitzen und gegen Polster bin.
Sie haben also nicht nachgegeben?
Grcic: Nein, da habe ich nicht nachgegeben. Wenn man das Projekt von vorneherein so denkt, dann ist es okay. Schlimm ist nur dieses Nachrüsten-müssen, das, finde ich, führt immer zu unbefriedigenden Lösungen. „Allstar“ ist sicherlich kein typischer Bürostuhl für einen Nine-to-five-Arbeitsplatz. Trotzdem ist es ein richtiger Bürostuhl.
Weshalb ist „Allstar“ kein Nine-to-five-Arbeitsstuhl?
Grcic: Nine-to-five, das entspricht ja trotz aller Veränderungen noch immer einem Bürotag. Aber man sitzt vielleicht nicht mehr von neun in der Früh bis um fünf Uhr nachmittags am gleichen Arbeitsplatz. Die Arbeitswelt und gewisse Büros, große Büros, haben sich wirklich verändert – ich spreche jetzt nicht vom non-territorialen Büro, sondern durchaus von Büros, wo jeder Mitarbeiter seinen Arbeitsplatz hat. Aber auch das schließt ein, dass man zum Telefonieren irgendwo hinwandert, sich mal hierhin und dorthin setzt um gewisse Dinge zu erledigen. Also ist ein Bürostuhl längst nicht mehr so ein Ding, an das man den ganzen Tag gekettet ist. Unser Bürostuhl soll bequem sein und er kann inzwischen – ich sage inzwischen, weil das nicht unbedingt der Ausgangspunkt war – auch alles, was so ein Checklist-Stuhl kann.
Das ist ja das Überraschende. Sitzt man auf dem Stuhl, bemerkt man, dass er eine ausgeklügelte Mechanik besitzt, womit man nicht rechnet.
Grcic: Man hat eine Synchronmechanik, eine Sitztiefenverstellung, eine Lumbalverstellung – und natürlich lässt er sich auch drehen und in der Höhe verstellen. Bis auf verstellbare Armlehnen kann der Stuhl so ungefähr alles. Und das Schöne ist: Das hat sich im Verlauf des Projekts entwickelt, ausgehend von dem Wunsch, einen Bürostuhl zu machen, der nicht diese Ansprüche stellt und schon gar nicht danach aussehen soll, dass er das alles kann. Die Referenz ist nicht die typische Bürostuhltypologie, wobei ich von jener Typologie spreche, die sich in den letzten zwei Dekaden durchgesetzt hat. Der Stuhl bezieht sich auf andere Arten von Stühlen, also richtige Stühle, und er weckt durchaus Erinnerungen an alte Bürostühle oder erzeugt Bilder von alten Bürostühlen. Das hat mir erst missfallen, denn ich wollte kein Retro.
Sie sind aber doch einer der wenigen Designer, die sehr bewusst mit der Designgeschichte umgehen?
Grcic: Ja, dem muss man sich dann eben stellen. In dem Moment, wo die Entwicklung dahin lief, dass bekannte Bilder oder Referenzen entstanden sind, stellte sich die Frage: Mache ich da weiter? Und dann: Mache ich das bewusst oder brechen wir das ab, weil es keinen Sinn hat? Ich finde, man denkt, wenn man den Stuhl betrachtet, nicht die ganze Zeit an einen alten Stuhl. Zugleich ist das Alte und scheinbar Bekannte aber auch Teil des Komforts, um den es durchaus auch gehen soll bei so einem Stuhl. Man soll sich wohlfühlen, wenn man ihn benutzt.
Der Stuhl sieht ja keineswegs alt und auch nicht wie eine Kopie irgendeines klassischen Bürostuhls aus. Aber, wie Sie sagen, es klingen trotzdem bestimmte Bezüge und Referenzen an das an, was wir nach wie vor mit Büroarbeit verbinden. Oder?
Grcic: Ja, an all das, was alles gut ist an diesen alten Stühlen. Die liebt man ja nicht von ungefähr. Das heißt, man kann bewusst zu ihnen zurückgehen, weil sie eine Qualität haben, weil solche Stühle so einfach sind und, ja, weil sie ein Gesicht haben. Weil sie sympathisch oder ein bisschen domestiziert wirken und nicht diese kühle Maschine sind, wie sie in den letzten Jahren propagiert wurde.
Hat es Sie gereizt, bewusst zu sagen: „Okay, wir haben lange genug die Mechanik der Ergonomie ausgestellt und mit Design verwechselt. Wir wissen, wie man so etwas macht, also integrieren wir alle notwendigen Funktionen, ohne sie hervorzuheben. Wichtig ist nur, dass all das vorhanden ist.“
Grcic: Ja, es ergibt sich ein schöner Zyklus. Je weiter die technische Entwicklung voranschreitet, umso mehr können wir zu etwas zurückkehren, was unserer Intuition entspricht. Computer muss man heute auch nicht mehr per Tastatur steuern. Auf Touchscreens blättert man plötzlich wieder durch Dateien...
Wie durch einen Stapel Papier...
Grcic: Ja, und bei Büromöbeln verhält es sich ähnlich. Es zeichnet die Arbeitswelt von heute aus, dass Büros unterschiedliche Welten oder Szenarien und Situationen schaffen, weil Arbeit nicht nur eine Aktivität oder Tätigkeit ist, sondern auch Abwechslung, Entspannung et cetera.
Lassen Sie uns einen Sprung zu „Hack“ machen. Während der Allstar-Stuhl mit Anklängen an historische Bürostühle spielt, haben wir es bei „Hack“ sozusagen mit einer ganz anderen Art von Arbeitstisch zu tun. „Hack“ wirkt improvisiert und perfekt zugleich. Er hat viel davon, wie früher aus vorhandenen Türblättern oder Platten schnell einen Tisch gebaut wurde. War es ein Ansatzpunkt, zu sagen: Wie man arbeitet, ist in Bewegung – also sollte auch das, was man zum Arbeiten braucht, anpassungsfähig und beweglich sein? Mal sitze ich, mal stehe ich, ich kann den Tisch aber auch ganz wegpacken.
Grcic: Stuhl und Tisch haben erst einmal nichts miteinander zu tun. Dass beide hier vorgestellt werden, hat sich einfach ergeben, und ich finde es erstaunlich und erfreulich, dass es irgendwie zusammenpasst. Die Entwicklung verlief aber unabhängig voneinander. Zur Vorgeschichte des Tischs gehört die Reise, die ich mit Vitra nach Kalifornien gemacht habe. Im Mai letzten Jahres bin ich zusammen mit Eckhard Meise, dem Entwicklungschef, ins Silicon Valley gereist. Dort verändert sich gerade so viel – auch für Vitra – das wollen wir uns ansehen. Die Leute, die man dort trifft, sind schon lange keine Freaks mehr, die in der Garage arbeiten, sondern tonangebende Unternehmer, die inzwischen 15.000 Mitarbeiter haben und die zu Vitra sagen: „Hm, ganz schön, was ihr macht, aber eigentlich viel zu elegant, viel zu raffiniert, viel zu ,corporate’“ – und so weiter. Vitra ist toll, weil sie sagen, okay, wir müssen dem auf den Grund gehen, weil wir verstehen wollen, was da eigentlich passiert. Also haben wir Firmen besucht – Google, Yahoo, Apple, Facebook – um zu sehen: Was sind das für Orte? Wer arbeitet da? Wie arbeiten die, was arbeiten die, wie funktioniert das? Einerseits war der Schock natürlich groß, weil die natürlich genau das gesagt haben: „Vitra interessiert uns für den Arbeitsplatz eigentlich gar nicht. Dafür geben wir erstens gar kein Geld aus und zweitens ist es uns egal, wie das Ding aussieht. Es muss nur flexibel sein und leicht und die dynamische Veränderung der Büros mitmachen. Wenn sich Teams splitten, müssen über Nacht 50 Arbeitsplätze eingerichtet werden. All das müssen diese Dinger können.“ – Das ist das Eine. Andererseits hat man auch in Kalifornien gemerkt, und das wird sich überall durchsetzen, dass Mitarbeiter und Arbeitgeber klare Anforderungen formulieren, was Ergonomie, Arbeiten im Sitzen und im Stehen angeht.
Das Anforderungsprofil ist aber nicht ganz neu?
Grcic: Sicher, es gibt viele Sitz-Steh-Tische, doch das sind alles nur Tische, die das können. Aber was daraus in der Gesamtheit in Büros entsteht, ist eigentlich der totale Horror. Gerade in Amerika kann man sich leicht ausmalen, was das bedeutet: Da ist so ein Basketballspieler, ein riesiger Typ, der beim Arbeiten stehen will. Und ihm gegenüber sitzt eine kleine Taiwanerin auf nur 650 Millimetern Höhe und hat die Tischplatte ihres Nachbarn samt allen herunterhängenden Kabeln vor dem Kopf und schaut auf den Bauchnabel von dem Typen. Wir haben tatsächlich solche Büros gesehen. Daraus ist schon mal die Idee entstanden: Okay, wir machen diese Box, die in großen, offenen Büros eine gleiche Architektur schafft und damit ist es egal, wer seine Tischplatte wo hat. Außerdem haben wir auch gesehen, dass die mit ihren Tischen alle angefangen haben, sich zuzubauen, sich zu verbarrikadieren und mit Kopfhörern abzuschirmen, weil man für die Arbeit dann doch eine Form von Konzentration braucht. So ist „Hack“ in seinen Grundzügen entstanden. Eine einfache Kiste als Architektur und die Möglichkeit, die Platte innerhalb der Kiste verschieben können.
Das Raffinement von „Hack“ fängt damit aber erst an. Man kann die Platte leicht verstellen, den Tisch komplett zusammenfalten, schnell 50 Tische aus dem Lager holen...
Grcic: Schnell aufbauen ist wichtig, die Firmen im Silicon Valley ziehen schnell ein, weil sie unter Umständen in einem Jahr schon wieder ausziehen müssen. Das heißt, niemand investiert in Architektur. Der Tisch, in unserem Fall der Arbeitsplatz selbst, schafft diese Architektur, diese Mikroarchitektur, irgendwie mit. Man braucht einen Raum, hat sofort seine Elektrifizierung und kann loslegen.
Weshalb verwenden Sie zur Höhenverstellung eine einfache Kurbel?
Grcic: In Silicon Valley sagt man zu Vitra: „Ja, ihr habt zwar diesen Tisch mit einer Höhenverstellung über ein Knöpfchen, aber Strom verbrauchen, für so etwas, das wollen wir gar nicht.“ In solchen Dingen sind die total öko! Und das Tolle an der Welt dieser Tech-Firmen ist: Die arbeiten dort zwar die ganze Zeit in ihrer digitalen Sphäre, sind aber total affin für ganz einfache, analoge Dinge. Und sie haben uns alle gesagt, Materialien wie Plastik wollen sie gar nicht, am liebsten nur Holz oder natürliche Materialien.
Heißt das, wenn die Nerds noch etwas mehr Sinn für Ästhetik entwickeln, werden wir sie lieben?
Grcic: Dann lieben wir sie, ja, genau. Zumindest haben sie eine ganz entspannte Form gefunden, in der sie sich zwischen einer analogen und ihrer digitalen Welt bewegen.
Würden Sie zustimmen, wenn man sagen würde: Mit „Hack“ haben Sie so etwas wie das Eiermann-Gestell für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts geschaffen?
Grcic: Genau das soll es sein. Wobei die Höhenverstellung schon einen Engineering-Aufwand bedeutet, natürlich gepaart mit Vitra als Produzent. Insofern geht „Hack“ schon ein wenig über das Eiermann-Gestell hinaus.
Eben ein Eiermann-Gestell für das 21. Jahrhundert.
Grcic: Ja, das könnte mir gefallen. Es sollte auch der Anspruch sein, dass das Möbel einen sehr praktischen Aspekt und etwas Unfertiges hat. Auch das Eiermann-Gestell ist, was es ist, und ich als Nutzer mache was draus und mache es zu meinem Tisch. Das ist das, was wir mit „Hack“ auch erreichen wollen. Man bietet es wie einen Rohling an, der viele Dinge kann, und damit arbeitest du jetzt weiter und baust das Büro, das du brauchst, oder jeder für sich den Arbeitsplatz, den er damit machen will.
Also doch keine gepolsterte Welt, sondern ein Objekt, das sich ganz selbstverständlich handhaben und den eigenen Bedürfnissen anpassen lässt?
Grcic: Ja, absolut.