Die Gestenforschung ist noch eine recht junge Disziplin – es gibt das Forschungsfeld erst seit circa 20, 30 Jahren. Ihre Wurzeln liegen in der Sprachforschung, der Psychologie und der Anthropologie, weswegen sich bis heute auch nur wenige Wissenschaftler tatsächlich „Gestenforscher“ nennen. Einer von ihnen ist Julius Hassemer. Zur Gestenforschung kam der 33-jährige über den „Master of Intercultural Communication Studies“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), von wo aus er zur Promotion ans Natural Media Lab der RWTH Aachen wechselte, um Gesten und deren Formen in einem Motion-Capture-Labor zu untersuchen. Später arbeitete er an einem Forschungsprojekt zur Betonung in Geste und Sprache an der University of London und Universität Münster. Vor kurzem hat ihm die Deutsche Forschungsgemeinschaft zum Thema Geste und Form an der Universität von São Paulo ein Forschungsstipendium zugesprochen. Für technologische Entwicklungen im Bereich Mensch-Computer-Interaktion ist die Geste heute als Eingabemedium präsenter denn je. Ludwig Engel sprach mit Julius Hassemer über den aktuellen Stand der Gestenforschung und ihre Bedeutung für die Steuerung von Geräten und Anwendungen im Wohnraum.
Ludwig Engel: Herr Hassemer, welche Rolle spielen Gesten heute? Was sind die aktuellen Anwendungsgebiete?
Julius Hassemer: Als Anwender sieht man natürlich vor allem die fertigen Produkte, die mit 3D Gestensteuerung ausgestattet sind. Damit meine ich die Möglichkeit, mit einer Körperbewegung im Raum, unabhängig von einer Eingabeoberfläche, einen Befehl zu geben. 3D-Gestensteuerung gibt es heute zum Beispiel in Spielekonsolen, Autos, Laptops und Handys. Die Gestensteuerung beschränkt sich meist auf wenige Gesten, oder der Benutzer muss für eine Anwendung eigens ein Gestenvokabular erlernen - oder beides. Es gibt noch keinen Durchbruch: In keinem Anwendungsbereich scheint die freie Geste als Eingabemedium wirklich angekommen zu sein. Anders sieht es bei Oberflächengesten aus, wie zum Beispiel mit zwei Fingern ein- und auszuzoomen. Das ist gar nicht mehr von Smartphones und Tablets wegzudenken.