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Jeanne Gang

Blickpunkt: Architektinnen – Jeanne Gang

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir Ihnen in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie Jeanne Gang, die unbeirrt ihren Weg gegangen ist. Ein Hochhaus, das ihr den Rekord für das "höchste von einer Frau entworfene Gebäude" eingebracht hat, hat ihr dabei sicher geholfen. Wichtiger aber war die stilistische Breite und Selbstsicherheit in ihren Entwürfen sowie die Freude an innovativen Konstruktionen.
30.01.2025

Eigentlich wollte Jean Gang, bevor sie eine der erfolgreichsten und bekanntesten Architektinnen der USA wurde, viel lieber Künstlerin sein. Am liebsten Malerin. Gezeichnet hatte sie immer gerne. Aber irgendwie sind die Interessen des Vaters dann doch zu ihr durchgedrungen. "Wir sind immer viel gereist", sagt sie in einem Interview mit dem PIN-UP Magazine, "und Papa wollte sich immer nur große Brücken anschauen." Der Vater ist Ingenieur und begeistert sich für die kühnsten Brückenbauten. "Er hatte immer eine Vorliebe für Superlative: der tiefste Canyon, der höchste Berg, die am weitesten gespannte Brücke. Da sind wir dann hingefahren." Auch die Tochter erreichte mit einem ihrer Gebäude einen Rekord. Als der von Jeanne Gang und ihrem Team entworfene Aqua Tower in Chicago fertig wird, gilt er mit 82 Stockwerken als "höchstes Bauwerk einer Architektin". Darauf angesprochen, war diese Bezeichnung ihr immer eher peinlich. "Im Büro sind wir etwa zur Hälfte Männer und Frauen, daher war mir nicht wirklich bewusst, dass der Turm dieses Etikett bekommen könnte."

Jeanne Gang kam 1964 in der Kleinstadt Belvidere zur Welt, ein gepflegter, hauptsächlich von Weißen geprägter Vorort von Chicago. Vom Vater hat sie sowohl eine Bewunderung für die Natur, wie für menschengemachte Konstruktionen. In der Schule ist sie in den Naturwissenschaften so gut wie in Kunst, und entscheidet sich schließlich gegen die Laufbahn als Künstlerin und für die als Architektin. Sie studiert bis 1986 an der University of Illinois, bis 1993 in Harvard und anschließend noch kurz mit einem Stipendium an der ETH in Zürich sowie an der École nationale supérieure d’architecture de Versaille in Frankreich. Europa gefällt ihr, sie geht nach Rotterdam und arbeitet für OMA. 1997 kehrt sie zurück in die Heimat und gründet 1997 ihr eigenes Büro in Chicago: Studio Gang. Aus Europa, sagt sie, hat sie das Interesse an ausgiebigen Studien und Analysen mitgenommen, die für jedes Projekt unternommen werden, bevor der eigentliche Entwurf anfängt. Und vielleicht hat sie auch dieses optimistische Selbstbewusstsein aus Europa und von OMA mitgebracht, das sie ausstrahlt. Denn Selbstbewusstsein braucht es, um in Chicago mit einem neuen Büro zu starten – eine Stadt, in der es nicht gerade an Architektinnen und Architekten mangelt.

Eleanor Boathouse at Park 571

Der Anfang ist nicht leicht. Sie nimmt jeden Auftrag an und versucht, etwas Besonderes daraus zu machen. Einer der allerersten Aufträge kommt von einer Freundin, die ein Penthaus ausbauen lassen möchte. Gang baut Modelle und entwirft Varianten. Dann schneidet sie Loch ins Dach, statt einer Terrasse entsteht ein Patio in der Wohnung. Für OMA begleitet sie noch deren prominentes Projekt in Chicago, das zentrale Besucherzentrum auf dem Campus des Illinois Institut of Technology IIT, der legendäre, von Mies van der Rohe entwickelte Campus. Mit dem Seagram Building in New York und den Hochhäusern am Lakeshore Drive in Chicago gehört die Crown Hall des IIT sicher zu den Ikonen der Moderne, die van der Rohe in den USA schafft. Mit dem Besucherzentrum arbeitet Gang in unmittelbarer Nähe des Meisters, der Bau – auch wenn sie ihn "nur" für OMA bearbeitet – verschafft ihr weitere Bekanntheit und öffnet Türen.

Auch der Investor Jim Lowenberg kennt sie und lädt sie zu einem kleinen Wettbewerb ein. Er will ein Hochhaus bauen, es soll auf einem weithin sichtbaren Grundstück am Lakeshore East Park entstehen. Wieder muss sich Gang mit Mies van der Rohe auseinandersetzen, dessen legendäre Apartmenhochhäusern am Lakeshore Drive kaum eine Meile von der Baustelle entfernt sind. Mit ihren ersten zwei Skizzen kann Gang den Bauherrn überzeugen, obwohl sie zuvor noch kein Hochhaus gebaut hat. Sie und ihr Team entwerfen etwas, das es zuvor nicht gab: Sie ziehen jede Deckenplatte nach außen, so dass sie vor der Fassade aus Glas und Stahl eine zweite Haut sowie darauf kleine Balkone und Terrassen bilden. Jede Betonplatte bekommt ihre eigene, sanft geschwungene Form. Beim Blick von unten wirken die weichen Schwünge wie ein Kleid oder eine aufgewirbelte Wasseroberfläche: der Aqua Tower, das höchste von einer Frau entworfene Gebäude der Welt. Viele KommentatorInnen sehen darin eine beschwingte Ballerina, Wellen am Strand oder eine vom Meer glattgeschliffene Steilküste. Und fast alle sind sich einig, dass das ein sehr femininer Wolkenkratzer ist.

Kresge College Expansion at the University of California, Santa Cruz Santa Cruz, CA, 2023
Kresge College Residential Buildings Santa Cruz, CA, 2023
Kresge College Academic Center Santa Cruz, CA, 2023

Gang langweilt das Genderthema an dieser Stelle etwas. Sie würde lieber über die Schwierigkeiten sprechen, eine solche Formation zu bauen, über all die Tests im Windkanal, die es dafür brauchte, die Konstruktion zu berechnen, statt über ihr Geschlecht. Sie würde sich einfach wünschen, dass die Genderfrage schon so weit geklärt sei, dass es um eben diesen Unterschied nicht mehr geht. Sie sieht aber selbst, dass Architektur und das Bauen weiterhin stark männerdominierte Welten sind. Noch immer zählt Gang zu den vielleicht zwei Dutzend berühmten Architekturbüros der Welt, die alleine von Frauen geführt werden. Noch immer gibt es einen eklatanten Unterschied in der Bezahlung von Männern und Frauen mit ungefähr gleicher Erfahrung, den "gender pay gap". Im Studio Gang erhalten Männer und Frauen gleichberechtigte Gehälter, betont sie, und fordert ihre vor allem männlichen Kollegen auf, es ihr gleich zu tun. Eine ähnliche Selbstverpflichtung wie bei der "2030 Challenge", die Architekturbüros aufruft, einfach selbst damit anzufangen, bis 2030 nur noch klimaneutrale Gebäude zu entwickeln, statt damit auf die InvestorInnen zu warten.

Ihr Büro ist seit seiner Gründung kontinuierlich gewachsen. Auch ihr Mann, Mark Schendel, den sie bei OMA in Rotterdam kennenlernte, arbeitet dort als Managing Partner, und ist vor allem für die Büro-Organisation zuständig. Auf den Aqua Tower folgten weitere Hochhäuser, etwa die ebenfalls sanft geschwungenen Q Residences in Amsterdam, das in sich gedrehte Mira in San Francisco oder der 365 Meter hohe Vista Tower in Chicago, mit dem Gang 2011 ihren eigenen Rekord deutlich überbietet. Dennoch gelingt es ihr, eine Spezialisierung alleine auf Wolkenkratzer erfolgreich zu vermeiden. Wichtig ist ihr die typologische Breite im Portfolio. Von Anfang an engagiert sie sich auch für Community-Projekte, etwa 2008 das One Family Illinois Center in Chicago für arme Familien und deren Kinder, 2012 der schlichte Umbau für die Restaurierungswerkstätten des Conservation Center in Chicago oder das Trainingscenter für die Feuerwehr in Brooklyn, New York, 2019. Mittlerweile entwirft sie mit ihrem Team auch ganze Stadtviertel, wie die Transformation eines Industrie-Areals in San Francisco oder den Enterprise Research Campus für ihre ehemalige Hochschule Harvard in Boston.

Writers Theatre Glencoe, IL, 2016

Die Größenordnungen, in denen das Büro in den letzten unglaublich produktiven Jahren tätig war, sind beeindruckend. Umbau eines Kraftwerks zur Bildungsstätte in Wisconsin. Umgestaltung des Flussufers in Memphis als Tom Lee Park. Die großzügige Erweiterung des California College of the Arts in San Francisco. Das Arkansas Museum of Fine Arts in Little Rock mit einem spektakulär gefalteten Holzdach. Oder der große Holzbau, den sie als Bildungszentrum der University of Chicago in Paris mit einer Stahlkonstruktion aus dem Brückenbau – der Papa lässt grüßen – über eine Eisenbahnstrecke gebaut hat. Architektonisch ist sie bei all den verschiedenen Aufgaben inzwischen selbstbewusst genug, um auf eine erkennbare Handschrift zu verzichten. Zwar wiederholen sich immer wieder bewegte, dynamische und geschwungene Formen, aber nicht zwanghaft. Ebenso gut können die intensiven Recherchen, die das Team zu jeder neuen Aufgabe unternimmt, zu dem Ergebnis kommen, das hier und dort eine schlichte Box doch die beste Lösung ist. Insofern ist Gang gelungen, was sie sich gewünscht hatte: Das über die Innovationsfähigkeit der von ihr und ihrem Team entwickelten Konstruktionen und Architekturen gesprochen wird, statt über Geschlechterstereotypen. Schon länger taucht ihr Name in der erweiterten Liste der Kandidatinnen und Kandidaten für den nächsten Pritzkerpreis auf. Sie hätte es sich verdient.