Ohne Blende
Ein gleichermaßen unübersehbarer wie rätselhafter Küchenblock steht in einem Schaufenster in der Münchner Pacellistraße unweit des Stachus. Er ist vollständig mit einer flirrenden schwarz-weißen Beklebung überzogen, wie sie Autohersteller zur Tarnung ihrer Prototypen, der so genannten "Erlkönige", verwenden. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Küche um einen Prototyp – und die Innovation liegt nicht etwa in dem ungewöhnlichen Design, sondern in der Konstruktion. Das Küchensystem "J.Gast" bricht mit den traditionellen Regeln der Einbauküche.
"J.Gast" – das steht für die Designer Jan Heinzelmann, Gerhardt Kellermann und Ana Relvão sowie Sven Petzold und Tobias Petri, Geschäftsführer der Küchenmanufaktur Holzrausch. Holzrausch fertigt ausschließlich Unikate – Einzellösungen, die für jeden Auftrag von Grund auf neu entwickelt werden. Als Ergänzung zu diesem Angebot wünschten sich Petzold und Petri ein standardisiertes System, einen konstruktiven Baukasten als Grundgerüst für hochwertige Küchen. Mit diesem Wunsch traten sie an Jan Heinzelmann vom Studio OHA heran. Heinzelmann war von dem Auftrag begeistert, doch erkannte schnell, dass er für die anspruchsvolle Aufgabe Verstärkung benötigen würde. Deshalb holte er das Studio Relvāokellermann mit ins Boot, das durch seine langjährige Arbeit für Bulthaup bereits viel Erfahrung im Küchenbereich besaß.
Bei der Vorbereitung des Projektes wurde den drei Designern allerdings klar, dass sie mit ihrem Entwurf zugleich auch eine Marktnische finden mussten. Denn in allen Preissegmenten des Küchenmarktes ist die industrielle Fertigungsqualität mittlerweile so hoch, dass Manufakturen wie Holzrausch eigentlich keine konkurrenzfähigen seriellen Produkte anbieten können. Schließlich erkannten Heinzelmann, Relvão und Kellermann, dass sie beim Grundprinzip ansetzen mussten: Anders als bei industriell gefertigten Küchen besteht das neue System nicht aus nebeneinandergestellten Einzelelementen. An die Stelle der im Küchenbau üblichen doppelten Zwischenwände tritt eine Konstruktion, die nur mit nur einer Trennwand auskommt. Dafür entwickelten die Designer eine technische Lösung, deren Grundbestandteile Rahmen und Zwischenelemente sind. Besonders wichtig bei ihrem Entwurf war Ana Relvão, Gerhardt Kellermann und Jan Heinzelmann der "Möbelcharakter", den ihre Küche haben sollte. Zudem wollten sie jede Form von Blenden und Abdeckungen vermeiden: "Blenden und Abdeckungen spielen bei industriell gefertigten Küchen eine zentrale Rolle", erklärt Ana Relvão. "Je schöner die Abdeckung, desto wertiger und teurer die Küche. Wir wollen aber nichts verdecken. Die Struktur soll sichtbar sein und die Konstruktion ablesbar."
Mit "J.Gast" ist eine völlig neuartige Küchenarchitektur entstanden. Das neue Konstruktionsprinzip wurde inzwischen sogar patentiert. Zurzeit wird eigens ein neues Unternehmen gegründet, dass die Küche zum Ende des Jahres auf den Markt bringen soll. Und der aufregend gemusterte Erlkönig? "Er geht vielleicht in Serie", verrät Ana Relvão.