Der Komponist
Kaum eine Architekturveranstaltung in Deutschland verdichtet aktuelle Debatten so prägnant wie die jährlich stattfindende Konferenz "Architecture Matters" in München. Dieses Jahr konnte man Reinier de Graaf, Partner im Office for Metropolitan Architecture (OMA) in Rotterdam, als Keynote Speaker gewinnen. Er hat mit seinem Buch "Four Walls and a Roof" einen der aktuell meistdiskutierten und meistgelobten Beiträge zum Architekturdiskurs geliefert. Fabian Peters hat mit Reinier de Graaf im Rahmen von "Architecture Matters" gesprochen.
Fabian Peters: Beim Lesen Ihres neuen Buches musste ich unwillkürlich an Tom Wolfes "Mit dem Bauhaus leben" denken. Ihr Buch ist ähnlich scharfzüngig und Sie zielen mit Ihrer Kritik zuweilen auf dieselbe Gruppe von Leuten wie er – nämlich auf die Meinungsführer im Architekturdiskurs.
Reinier de Graaf: Ich hatte Tom Wolfes Buch tatsächlich immer im Hinterkopf. Ich schätze ihn als Autor sehr. Er hat es geschafft, für einen breiten Leserkreis über Architektur zu schreiben und das war auch mein Ziel. Deshalb habe ich versucht, den Fachjargon meiner Zunft genauso zu vermeiden wie die scheinbar festzementierten Meinungen und Überzeugungen, die dort vorherrschen. Stattdessen habe ich versucht, jedermann anzusprechen.
Allerdings hat Tom Wolfe ein Manifest der Anti-Moderne geschrieben...
Reinier de Graaf: ...und ich habe ein anti-anti-modernes Manifest geschrieben. Aber wir leben ja auch 40 Jahre später. Ich glaube, meine anti-anti-modernen Gefühle rühren daher, dass ich eine seltsame Nostalgie nach Zeiten verspüre, die weniger nostalgisch waren.
An einem ihrer aktuellsten Bauprojekte, "Norra Tornen", einem Wohnhochhaus, das gerade in Stockholm entsteht, lässt sich deutlich Ihre Begeisterung für die experimentelle Moderne der 1960er und 1970er Jahre ablesen. Mich hat es sofort an Mosche Safdies "Habitat 67" und die Bauten Herman Hertzbergers aus dieser Zeit erinnert.
Reinier de Graaf: Mit diesen Bauten setzen wir uns schon eine ganze Weile auseinander, angefangen mit unserem "Timmerhuis" in Rotterdam. Dort haben wir versucht, mit standardisierten Elementen ein Maximum an Variantenreichtum zu erzielen. Nicht um der Sache selbst willen, sondern um für die Bewohner trotz industrieller Serienfertigung ein Optimum an architektonischer Qualität zu erreichen.
Mir haben die Grundrisse der Wohnungen im "Norra Tornen" sehr imponiert. Sie sind äußerst kompakt und ökonomisch gestaltet. Sie kommen praktisch ohne Erschließungsflächen wie Dielen oder Korridore aus.
Reinier de Graaf: Das Baugrundstück war eine Restfläche am Rande einer großen Kreuzung. Wir hatten also nicht viel Platz zur Verfügung und mussten sehr ökonomisch vorgehen, damit sich das Projekt überhaupt trägt. Hätten wir irgendwelchen Raum verschwendet, wäre der Bau wahrscheinlich zum Verlustgeschäft für unseren Klienten geworden. Für uns war das ein regelrechtes Puzzlespiel.
Vor einiger Zeit hat Winfried Kuehn von Kuehn Malvezzi Architekten in unserem Magazin die Meinung geäußert, dass sich die Architektur für preiswerten Wohnungsbau in Deutschland seit den 1950er Jahren rückwärts entwickelt habe. In seinen Augen sei in diesem Bereich das letzte Mal zur IBA 1954 in Berlin innovativ gebaut worden. Der folgende Großsiedlungsbau habe ausschließlich konservative, unökonomische und kleinbürgerliche Grundrissentwürfe hervorgebracht.
Reinier de Graaf: Meiner Ansicht nach ist die Richtigkeit dieser Aussage davon abhängig, von welchem Deutschland wir reden. Es gab ja nun 40 Jahre lang zwei deutsche Staaten. Und bezogen auf die DDR, wo man einem ganz anderen Ansatz verfolgte als in der Bundesrepublik, würde ich widersprechen wollen. Die Plattenbauweise und damit einhergehend die enge Vernetzung zwischen Architekten und Betonindustrie hat einige hochinteressante Lösungen hervorgebracht. Weniger im Hinblick auf Grundrisskonzepte, als vielmehr auf die Möglichkeiten und Erfordernisse von standardisiertem Bauen.
Sehen Sie denn heute die Möglichkeit, die Errungenschaften des DDR-Plattenbaus nutzbringend anzuwenden?
Reinier de Graaf: Wo wir schon davon gesprochen haben – wenn ich provozieren will, rede ich beim "Norra Tornen" vom "Plattenbau für die Reichen".
In seinem Buch polemisierte Tom Wolfe ja damals gegen Mies van der Rohe, Gropius und die anderen Vertreter der Moderne, die in die USA ins Exil gegangen waren. Er warf ihnen vor, für die amerikanische Bourgeoisie vergrößerte europäischen Sozialwohnungen zu errichten. Und jetzt errichten Sie in Stockholm einen "Plattenbau für die Reichen"!
Reinier de Graaf: Aber es gibt einen Unterschied: Wenn man Mies van der Rohes amerikanische Zeit mit seiner Berliner Periode vergleicht, dann erkennt man, dass er sich im Exil mit seinem "Weniger ist mehr" ganz bewusst gegen die zeitgenössische US-Architektur stellte. Wenn Sie dagegen meinen "Norra Tornen" mit dem DDR-Plattenbau vergleichen, stellen Sie fest, dass ich den umgekehrten Weg gehe: Der Bau in Stockholm erweitert eine sehr begrenzte Architektursprache, anstatt wie Mies ein reiches Vokabular zu verschlanken. Genau das wirft Tom Wolfe ihm ja vor. Der "Plattenbau für die Reichen", von dem ich rede, versucht durch eine neue Vielfalt attraktiver zu sein, als das ursprüngliche minimalistische Konzept.
In Ihrem Buch mischen Sie Essays mit Tagebucheinträgen. Was hat Sie zu diesem Konzept bewogen?
Reinier de Graaf: Der Plan für das Buch entstand mehr oder minder zufällig. Ich schrieb seit langem Essays, ich führte seit langem Tagebuch. Irgendwann, als ich etwa die Hälfte der Essays geschrieben hatte, fragte mich mein Verleger, ob ich nicht ein Buch machen wolle. Es hat mich dann viel Zeit gekostet, die andere Hälfte des Buches zu verfassen, und noch einmal etwa genauso lange hat es gedauert, bis ich eine Struktur gefunden hatte. Ich wollte natürlich einerseits so viele meiner Aufsätze wie möglich unterbringen. Andererseits sollte sich ein roter Faden durch das Buch ziehen, den es beim Verfassen vieler Texte noch gar nicht gab.
Gibt es eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen der literarischen und der architektonischen Struktur?
Reinier de Graaf: Tatsächlich entdecke ich, je mehr ich schreibe, die strukturellen Verwandtschaften zwischen Literatur und Architektur. In beiden Disziplinen spielt die Komposition eine enorm wichtige Rolle. Welchen Wert ich auf die Komposition lege, lässt sich an meiner Architektur, wie ich denke, ablesen. Und das gilt für hoffentlich auch für meine Schriften. Ob es noch eine engere Verbindung zwischen beidem gibt, wage ich nicht zu beurteilen.
Die Konferenz "Architecture Matters" findet das nächste Mal am 28. und 29. März 2019 in der Alten Akademie in München statt. Das Thema lautet dann "THINK BIG! Grand ideas, large scale projects and destruction."