Angewandte Praxis
Florian Heilmeyer: Ihr Buch strotzt nur so vor Energie und Inspiration und ist gefüllt mit Ihren unglaublich vielfältigen Projekten aus den Bereichen Design, Architektur, Innenarchitektur, Kunst, Grafik und Landschaftsgestaltung. Gibt es eine Kategorie, die wirklich beschreibt, was Sie tun?
Petra Blaisse: Ich mag das Wort "Design" nicht wirklich. Ich denke, wir machen angewandte Arbeiten oder ortsspezifische Interventionen. Ich sehe uns als SchöpferInnen von Objekten und Umgebungen, die spezifische Anforderungen oder Bedürfnisse erfüllen, die auf den Ort und die Situation reagieren. Dafür nutzen wir die Mittel, die Sie erwähnt haben.
Der Weg zu Ihrer Arbeitsweise war eher ungewöhnlich und voll glücklicher Zufälle. Sie haben ein Kunststudium in London und Groningen begonnen, aber nie abgeschlossen. Haben Sie das jemals bereut?
Petra Blaisse: Nicht wirklich. Ich mag es, von Unbekanntem herausgefordert zu werden und aus der Praxis in der "realen Welt" zu lernen.
Anstatt weiter zu studieren, haben Sie sich selbstständig gemacht. Waren die ersten losen Kooperationen schon wegweisend dafür, wie Sie später Ihr eigenes Büro organisieren würden?
Petra Blaisse: Ja. Ich habe hauptsächlich bei Foto- und Videoaufnahmen in der Modebranche und für andere kommerzielle Zwecke mitgewirkt. Das hat mir geholfen, meine Fähigkeiten bei der Gestaltung von Umgebungen auszubauen und Licht, Farbe, Materialien, Objekte sowie die Komposition als Werkzeuge einzusetzen. Mit diesen Mitteln kann man die Bedeutung des Objekts oder der Person beeinflussen, die man vor sich hat. Als Autodidaktin war mir stets bewusst, dass die Erfüllung meiner Aufgaben, Visionen und Ziele mit den von mir selbst gesetzten Ansprüchen nur durch Zusammenarbeit mit anderen möglich ist.
Ab 1979 hatten Sie die das einzigartige Chance, für sieben Jahre am Stedelijk Museum in Amsterdam zu arbeiten. War die Zeit für Sie und Ihre spätere Praxis prägend?
Petra Blaisse: Auf jeden Fall. Am Stedelijk habe ich nicht nur Sekretariats- und Archivarbeit erledigt, was meine offizielle Aufgabe war. Ich habe den KuratorInnen auch bei der Vorbereitung und dem Aufbau aller Ausstellungen geholfen. Ich habe viel gelernt, zum Beispiel, auf alle Details einer Ausstellung zu achten, wie die Exponattexte. Alles ist wichtig: ihre Schriftart, Größe, Farbe, die Position und wie sie an Wand oder Boden angebracht wurden – sind sie etwa auf einen Papierträger gedruckt oder direkt auf den Oberflächen angebracht? Ich erinnere mich an eine fantastische Zeit, bei der ich über Präsentationsformen, Vitrinen oder Ausstellungsräume nachdachte, über den Einfluss von Art und Maßstab der Objekte, ihre Positionierung im Raum, die Abfolge, die Lichtverhältnisse und über die Auswirkung einer Türöffnung oder eines Fensters auf die Gesamtkomposition. Mein Lernzuwachs dort war immens, auch wegen meines generellen Interesses an moderner Kunst, meiner Neugier auf jegliche Aspekte, einschließlich Lager- und Hängesysteme, Restaurierungsarbeiten, Verpackung und Transportabwicklung. Zudem konnte ich in diesen Jahren ich durch alle Räume gehen, während sie für die Öffentlichkeit geschlossen waren, und viele Dinge außerhalb der Präsentation sehen. Ich erinnere mich an eine kompakte Gruppe kleiner und mittelgroßer Giacometti-Skulpturen, die dicht beieinander auf einer Pferdedecke standen; an große Gemälde von Julian Schnabel, die an den Wänden lehnten und deren dunkelblaue Samtflecken durch ein Dachfenster vom Tageslicht umschmeichelt wurden; an Stapel gerahmter Fotografien, die auf ihren Einsatz warteten.
Ein weiterer wichtiger Zufall war Ihre Begegnung mit Rem Koolhaas in den 1980er Jahren – ich würde sagen, wichtig für Sie beide. Sie ermöglichte Ihnen, Ihr eigenes Büro zu gründen, mit ersten Aufträgen von Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture (OMA) beispielsweise für die Inneneinrichtung des Tanztheaters in Den Haag oder der Villa dall'Ava und Ausstellungen in Rotterdam, Paris, Barcelona und Basel. Es war der Beginn einer intensiven, sehr produktiven und erfolgreichen Zusammenarbeit, die bis heute andauert. Wie wichtig war die Begegnung mit Rem Koolhaas für Sie und Ihre Karriere?
Petra Blaisse: Sie haben es perfekt formuliert. Ich kann zwar nicht für Koolhaas sprechen, aber ich stimme zu, dass es für uns beide wichtig war. Ich möchte klarstellen, dass ich einer von mehreren "Satelliten" war, die damals mit Rem und dem kleinen OMA-Team zusammenarbeiteten. Sie hatten immer Interesse daran, Menschen mit anderen Talenten und Berufen einzubeziehen. Menschen aus Bereichen wie der Schriftstellerei, Soziologie, Naturwissenschaft oder der Philosophie wurden eingeladen, ein in Arbeit befindliches Projekt zu kommentieren. Genauso wie Kreative aus den Rubriken Fotografie, Designer, Musik, Modellbau, Kunst oder sonstige PionierInnen in ein Projektteam aufgenommen wurden, um es zu gestalten, zu erfinden, zu konstruieren, zu installieren, zu filmen, auszustellen und zu organisieren.
Koolhaas erwähnt in seinem Beitrag in Ihrem Buch, der im Grunde die Aufzeichnung eines Vortrags über Ihr Büro ist, dass "Lernen" ein Schlüssel zum Verständnis ist, wie Inside Outside funktioniert. Stimmen Sie dem zu?
Petra Blaisse: Ja. Das Leben ist ein nicht enden wollender Lernprozess. Die Arbeitsweise bei OMA war nicht gerade entspannt, ganz anders als die am Stedelijk! Ich musste lernen, unter Stress zu arbeiten, zu denken und kreativ zu sein, wobei ich die ständige Konkurrenz zu den anderen kreativen Köpfen spürte – und manchmal darunter litt. Dadurch lernt man, wie man Situationen bewältigt, ohne sich persönlich angegriffen zu fühlen. Und wie man offen für die Überzeugungen und Vorstellungen anderer bleibt, gleichzeitig aber auch seinen eigenen Gedanken und Instinkten vertraut. Für mich als Kontrollfreak, der Angst hat, Fehler zu machen oder die Kontrolle zu verlieren, war es wichtig zu lernen, diese widersprüchlichen und "bedrohlichen" Energien auf konstruktive Weise zu nutzen. Sinn für Humor, Improvisation, Interesse am "Anderen" und diplomatische Interaktion sind wichtige Werkzeuge, die ich in der Ausübung meines Berufes immer mehr zu schätzen gelernt habe.
Gab es andere Bekanntschaften oder glückliche Zufälle von ähnlicher Relevanz?
Petra Blaisse: Sehr viele. Meine Mutter, sie ist Töpferin und Malerin, hat mir ihr Auge für Kunst und Komposition in allen Formen sowie ihre Liebe zur Natur weitergegeben; mein Vater seinen Ehrgeiz und seine Beharrlichkeit. Mein erster Ehemann Tom war Historiker und hat meine Liebe zu Fotografie, Poesie und Jazzmusik geweckt; mein Chef am Stedelijk Museum, der Architekt Wil Bertheux, zeigte mir, wie wichtig Maßstab und Raum sind und wie man gutes Design schätzt und erkennt; Lily ter Kuile, Keramikerin und Gärtnerin, war eine wichtige Lehrerin auf dem Gebiet des Gartenbaus; Fotograf Hans Werlemann beeinflusste mein Verständnis davon, wie man einen kreativen Prozess angeht: durch fortwährendes Experimentieren und Ausprobieren, bis es richtig ist, durch Fragen und Zusammenarbeit. Holländische Künstlerfreunde wie Fred Bosschaert und Berend Strik haben mich dazu gebracht, Hässlichkeit und Geschmacklosigkeit als wesentliche Bestandteile der Schönheit zu schätzen; alte und neue Freundinnen bleiben Inspirationen und Vorbilder durch ihr Talent, Arbeit und Privatleben mit akrobatischem Geschick zu verbinden, durch ihren Mut, ihre Neugier, ihre unendliche Energie und ihre Loyalität; und schließlich am allerwichtigsten: unsere Kinder halten uns mit ihrem Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe einen gesunden Spiegel vor, während sie uns mit ihren Konfrontationen und Fragen herausfordern ... und oft das Bedürfnis nach gründlicher innerer Reflexion auslösen.
Sie arbeiten derzeit mit einem kleinen Team von elf Personen im Büro. Neben Ihnen selbst sind Jana Crepon und Aura Luz Melis Partnerinnen. Wie teilen Sie die Arbeit zwischen sich auf?
Petra Blaisse: Jana ist Landschaftsarchitektin und Aura ist Architektin. Sie sind leidenschaftliche Kolleginnen, die schon seit vielen Jahren mit mir zusammenarbeiten. Sie wurden 2016 Partner und werden bald Senior Partner sein. Jede von uns hat ihre eigenen Projekte, aber wir leiten das Studio und akquirieren gemeinsam Aufträge. Meine Rolle besteht darin, immer an den konzeptionellen Phasen, den kreativen Aspekten und der finanziellen und diplomatischen Seite unserer Arbeit beteiligt zu sein. Meine Aufgabe ist es auch, die Arbeit unseres Studios publik zu machen, daher das Buch.
Sie scheinen sich schon immer für verschiedene Textiltechniken aus allen Epochen interessiert zu haben. Gibt es eine bestimmte Technik oder ein bestimmtes Handwerk, mit dem Sie derzeit arbeiten?
Petra Blaisse: In Zusammenarbeit mit dem Textilmuseum im niederländischen Tilburg untersuchen wir derzeit die Möglichkeit, einen textilen Untergrund – gestrickt, geflochten oder gewebt – zu entwickeln, auf dem sich die Natur, wie Moose, Sporen, Samen, Pilze, ansiedeln kann. Dies könnte auf einer provisorischen Leinwand, wie einem Gerüstnetz, geschehen, aber das Ziel ist natürlich, ein Substrat zu schaffen, das Feuchtigkeit, Nährstoffe und grünes Leben aufnimmt, aber nicht verrottet und gleichzeitig alle eleganten Bewegungen eines Vorhangs ausführen kann – sich ausdehnen, zusammenziehen und im Wind wellen!
Darüber hinaus werden wir unser altes Ziel weiterverfolgen, großflächige Außen- und Innenvorhänge mit integrierten Solarzellen zu entwickeln, damit die schattenspendenden und akustischen Qualitäten unserer Vorhänge vor den großen Glasflächen in öffentlichen Gebäuden, die zusätzliche Rolle eines Energielieferanten erfüllen können.
Auf Ihrer Website sagen Sie, dass Inside Outside "international an Projekten von zunehmender technischer Raffinesse, Ehrgeiz und Umfang" arbeitet. Könnten Sie diese zunehmende technische Raffinesse näher erläutern?
Petra Blaisse: Wir sehen uns nach wie vor als kreatives Studio neugieriger Köpfe mit einer Hands-on-Mentalität und viel Idealismus – im Sinne des Wunsches, die Welt zu verschönern, zu ihrer Erhaltung und Vitalität beizutragen und sogar zum darauf vorhandenen Glück. All dies muss mit Funktionalität und intelligenten technischen Lösungen kombiniert werden, sonst werden wir "zu weich". Deshalb ist es wichtig, die richtigen Kenntnisse und das richtige Verständnis für die anstehenden Probleme und Situationen zu haben. Die kreative Seite bleibt jedoch unser Hauptanliegen, und wir verbringen viel Zeit damit, das richtige Gleichgewicht zwischen Schönheit, Originalität und Funktion zu finden.
An wie vielen Projekten arbeiten Sie derzeit und gibt es einen Favoriten?
Petra Blaisse: Wir arbeiten an etwa zwanzig Projekten, die sich alle in unterschiedlichen Stadien befinden. Die Favoriten hängen von der jeweiligen Sichtweise ab. Einige Projekte machen Spaß wegen ihrer scheinbaren Einfachheit – die meist trügerisch ist – oder wegen des kurzen Zeitrahmens. Andere faszinieren durch ihre Komplexität und den Zeitaufwand, den sie erfordern. Manche sind besonders erfüllend, weil sie einen sozialen oder ökologischen Nutzen haben. Wieder andere sind aufregend, weil wir mit Fachleuten oder Wissenschaftlern außerhalb unseres eigenen Fachgebiets zusammenarbeiten, um gemeinsames Wissen zu einem bestimmten Thema zu erarbeiten.