Graustufen bevorzugt
Cityförster verstehen sich als GestalterInnen des urbanen (Zwischen-)Raums. 2005 wurde die international tätige und interdisziplinär besetzte Partnerschaftsgesellschaft aus ArchitektInnen, IngenieurInnen und StadtplanerInnen gegründet. Im Sinne des nachhaltigen Wohnens und Arbeitens entsteht derzeit in Hannover das Ecovillage – das 500 Wohnungen auf fünf Hektar Fläche mit vielfältig nutzbaren Freiräumen bieten wird. Der Baustart für das Projekt, zu dem Cityförster den Masterplan sowie ein gebautes Objekt beigesteuert haben, soll 2022 erfolgen.
Linda Pezzei: Wie ist das Büro Cityförster entstanden?
Oliver Seidel: Cityförster entstand während der Ausbildung an der Universität. Wir hatten bereits 2004 eine Gruppierung gebildet, die der Frage auf den Grund gehen wollte, wie die Architektur der Zukunft aussehen soll. An der Universität herrschte unserer Meinung nach damals ein dahingehend wenig fortschrittliches Denken, also begannen wir auf eigene Faust Ausstellungen und Konferenzen zu organisieren. Schließlich schlossen 11 PartnerInnen einen Verbund, der auch in Zukunft erhalten bleiben sollte. Noch am Tag unserer Abschlusspräsentation der Diplomarbeiten bekamen wir einen Auftrag in Albanien. Glücklicherweise stellte uns die Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover kurzerhand einen Raum zum Arbeiten zur Verfügung. Das markierte die Geburtsstunde unseres Büros.
Was macht Cityförster in der Planung und Gestaltung aus – und im Vergleich zu Mitbewerbern anders?
Oliver Seidel: Unser ganzheitlicher Ansatz ist sehr ausgeprägt. Für uns sind alle Disziplinen wichtig und wir streben immer an, von Anfang an alles mitzudenken. Unsere Devise lautet, groß zu starten und erst anschließend alle Ideen zu bündeln und zu fokussieren. Unserem Denken wohnt eine natürliche Akzeptanz für die Komplexität der Dinge inne. Wir suchen nicht nach Schwarz-Weiß-Lösungen, sondern bevorzugen die Graustufen. Ideen für die gebaute Umwelt entwickeln wir gerne aus der Landschaft heraus. Wo wir anfangs noch belächelt wurden, ist unsere Denkweise heute aktueller denn je. Wir versuchen auch, öffentlichen Verwaltungen Schützenhilfe bei der Umsetzung innovativer Projekte zu geben. Starke Argumente können die Politik nachhaltig beeinflussen.
Worin sehen Sie die Vorteile Ihrer interdisziplinären und internationalen Arbeitsweise?
Oliver Seidel: Eine respektvolle Kommunikation auf Augenhöhe ist uns enorm wichtig. Das gilt im Umgang mit BürgerInnen, AuftraggeberInnen und PolitikerInnen genauso wie in der Zusammenarbeit mit anderen Planenden und allen TeammitgliederInnen bei Cityförster. Aufgrund unserer langjährigen internationalen Tätigkeit kennen wir zudem auch andere Länder und „Sitten“. Situationsanhängiges, flexibles Arbeiten ist daher unser daily business. Man lernt auf diese Weise ganz schnell, kreativ und unvoreingenommen zu denken und zu handeln. Das ist eine unserer großen Stärken.
Sie sind spezialisiert auf strategische Planungen, internationale Entwicklungsprojekte und experimentelles, ressourcen- und recyclinggerechtes Bauen – wo liegen hier die Herausforderungen unserer Zeit?
Oliver Seidel: Für eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung ist das strategische Denken enorm wichtig. Denn wir müssen ja heute für die Zukunft planen. Das heißt, unsere Planung muss auf noch nicht vorhersehbare Geschehnisse reagieren können. Uns ist es daher enorm wichtig, Leitbilder, Strategien, Werkzeuge und übergeordnete Strukturen zu definieren, die die langfristige Ausrichtung von Stadtentwicklungen definieren. Beispielsweise zeigen wir Herangehensweisen auf, wie die Siedlungen der 1950er, 1960er und 1970er Jahre energetisch und sozial umgebaut beziehungsweise erweitert werden können, ohne gleich alles im Detail aufzuzeichnen. Oder wir definieren wichtige Freiraumverbünde, die dauerhaft die Stadt mit frischer Luft versorgen, Biodiversität befördern, wichtige Schwammstadtaufgaben übernehmen und gleichzeitig vielfältig nutzbare Freiräume für Jung und Alt bieten. Bei all dem achten wir darauf, dass die Veränderungsprozesse gut verständlich kommuniziert werden und die Bürgerschaft bei der Entscheidungsfindung einbezogen wird. Diese strategische Denkweise hilft uns, auch andersartige Gebäude zu entwickeln, wie beispielsweise das Recyclinghaus. Bei diesem Gebäude aus gebrauchten Bauelementen und Materialien waren uns die zur Verfügung stehenden "Zutaten" bei der Planung noch gar nicht bekannt. Was wir verwenden, hat sich erst nach und nach aus den vorhandenen Ressourcen ergeben. Das ist spannend, erfordert aber auch eine zugrundeliegende Strategie: Wie funktionieren die Materialkreisläufe? Welche Konstruktionsweisen lassen sich auch wieder sortenrein auseinanderbauen und recyclen? Wie gut können sich die zukünftigen BewohnerInnen das Gebäude aneignen? Und welche ästhetischen Prinzipien sind uns wichtig? All das fordert natürlich auch ein großes Maß an Offenheit seitens der AuftraggeberInnen.
Wie sehen Sie die neue Arbeitswelt? Wo liegen die Herausforderungen, wo sehen Sie Chancen?
Oliver Seidel: In meinen Augen ist die Arbeitswelt als vielfältig gestaltete "Landschaft" zu verstehen, die unterschiedliche Arten des Arbeitens ermöglicht und auslöst, aber auch eine Offenheit für Neues lässt. Dabei gibt es nicht nur Platz für konzentrierte Einzelarbeit oder den wuseligen Workshop, sondern gerade die Übergänge mit ihren Graustufen definieren die Qualität dieser Räume. Die Pandemie hat den Wandel der Arbeitswelten nochmal befeuert, komplexer gemacht. Stärker denn je müssen wir darüber nachdenken, wie sich Arbeit, Wohnen und Freizeit besser verbinden lassen. Auch hier lautet unser Credo: Flexibilität ohne alles zu offen zu lassen. Wohnen und Arbeiten – ja, aber es kann auch nicht sein, dass zukünftig alle allein in der Küche sitzen und die Wohnung zum Büro wird. Im Städtebau entwickeln wir daher gerade das externe Homeoffice. Das sind wohnungsnahe Orte des Arbeitens aber auch der Begegnung. Wie in allen unseren Projekten denken wir, die Überlagerung und Verschränkung von Nutzungen bei größtmöglicher Flexibilität und auch gerne einem Schuss Improvisation – man nenne es "Gemischtwarenladen" – sind der Schlüssel zum Erfolg.
Was sind die (baulichen) Voraussetzungen für einen nachhaltigen Tourismus?
Oliver Seidel: Idealerweise sollten die Gebäude klimapositiv konzipiert sein und sich ohne negative Effekte in den Ort integrieren. Außerdem versuchen wir immer, die Menschen vor Ort einzubinden – und das nicht nur als niedere Hilfskräfte. Wir setzen auf wirtschaftliche wie soziale Synergien. Bei unseren Projekten in Albanien ist das beispielsweise ein sehr wichtiger Ansatz: hier trifft eine arme Landbevölkerung auf verhältnismäßig reiche Gäste aus dem In- und Ausland. Da ist eine Verzahnung unbedingt nötig. NGOs und lokale PolitikerInnen lassen sich dafür leicht gewinnen – die InvestorInnen zu überzeugen, erweist sich da oftmals als weitaus schwieriger. Auch ein sensibler Umgang mit der vorhandenen Landschaft ist uns sehr wichtig. Lieber setzen wir auf Bestehendes und optimieren dieses, als von Grund auf neu zu bauen.
Bekommen öffentliche Räume die Aufmerksamkeit, die sie verdienen? Welche Region kann Ihrer Meinung nach als Vorbild dienen?
Oliver Seidel: In Deutschland sehe ich hier noch viel Luft nach oben. Meiner Meinung nach müssen wir zuerst einmal die Autos aus den Städten bekommen und viel mehr auf das Fahrrad, Fußwege oder die Öffis setzen. Kopenhagen ist da ein echtes Vorbild. Seit den 1980er Jahren wurde diese ehemals industriell geprägte und sich in einer wirtschaftlichen Schieflage befindende Stadt zu einem der lebenswertesten Orte Europas umgebaut. Die Politik hat dabei durch langfristig wirksame Entscheidungen einen sehr großen Beitrag geleistet. Hier sehe ich in Deutschland große Defizite. Oftmals wird bei uns viel zu kurzfristig – nämlich nur bis zur nächsten Wahl –gedacht und gute Ideen und Projekte sterben. Ein Lichtblick bezüglich nachhaltiger Stadtentwicklung stellt sicherlich Freiburg im Breisgau dar. Hier werden langfristig wirksame Strategien und Pläne entwickelt, die sukzessive umgesetzt werden.
Ein innovatives Mobilitätskonzept, das Sie verwirklicht haben – oder noch umsetzen möchten?
Oliver Seidel: Ich finde das Thema der Mobilitätsknoten und ihre Integration in das städtische Leben, ihre Nutzbarkeit sowie ihre Gestaltung sehr spannend. Egal, ob der Umstieg von der Tram auf das Fahrrad, vom Auto in den Zug oder vom E-Scooter auf den Fußweg. Die Entwicklung dieser Orte ist für uns essenzieller Bestandteil der Verkehrswende. Denn nur, wenn das Umsteigen von positiven Erlebnissen geprägt ist, bringen wir die Menschen dazu, das Auto stehen zu lassen. Dafür müssen wir diese sogenannten MobilityHubs so gut gestalten wie irgend möglich, damit man sich wohl und sicher fühlt. Wir müssen sie funktional aufladen, also mit Freizeitangeboten, Arbeitsstätten, sozialen Einrichtungen kombinieren und so lebendige Orte schaffen. Und wir müssen dafür sorgen, dass die Abläufe des Umsteigens maximal einfach werden. Städtebaulich haben wir diese MobilityHubs bereits mehrfach geplant und hoffen nun, so einen Ort demnächst auch baulich umsetzen zu können.
Ein Ort, der Sie (nachhaltig) inspiriert und warum?
Oliver Seidel: Da komme ich wieder auf Kopenhagen zurück. Die Nutzungsvielfalt und Gestaltungsqualität des öffentlichen Raumes sind einfach enorm hoch. Die reibungslose Mobilität und die Überlagerung von Funktionen sind einmalig. Spielplätze nutzen zum Beispiel nicht nur Kindern und Jugendlichen, sondern sie dienen bei Starkregen auch als Retentionsräume. Insgesamt ist die Vernetzung von Themen wie Mobilität, Umwelt oder Sozialem in Kombination mit einer hochwertigen Gestaltung an dieser Stelle außerordentlich. Wo sonst viele Aspekte entkoppelt gedacht und bearbeitet werden, bietet Kopenhagen ein stimmiges, ineinander verzahntes Gesamtkunstwerk.