NACHHALTIGKEIT
Rohstoffe der Stadt
Elisabeth Bohnet: Herr Hebel, Sie sind Professor am KIT in Karlsruhe für Nachhaltiges Bauen. Sie forschen seit langem an Ressourcenkreisläufen und nachhaltigen Baumaterialien. In welchem Zustand befindet sich die Baubranche diesbezüglich aktuell?
Dirk Hebel: Wo wir uns aktuell befinden, ist schnell beschrieben: Wir bevorzugen nach wie vor das sogenannte lineare Wirtschaftsmodell. Es geht davon aus, dass wir Rohstoffe aus der Erdkruste entnehmen, vor allem Mineralien und Metalle, diese zu Gütern und Bauwerken verarbeiten, sie nutzen und hinterher wegwerfen. Ich würde behaupten, dass wir Stand heute noch zu weit über 90 Prozent in diesem klassisch linearen Wirtschaftsmodell operieren. Ein kreislaufbasiertes Wirtschaftsmodell geht hingegen davon aus, dass nach der sogenannten Gebrauchsphase die Materialien und die Elemente, die ich für die Produktion gebraucht habe, wiederverwendet oder -wertet werden können, damit ich daraus ein weiteres Produkt herstellen kann. Dafür muss bereits im Entwurf die Überlegung erfolgen, wie ich gewisse Materialien oder Teile füge, damit künftige Generationen das wieder auseinanderbekommen und bestenfalls sortenrein trennen können. Sortenrein heißt nicht vermischt, nicht als Kompositwerkstoff, sondern dass das Material in seiner ursprünglichen Qualität wieder eingesetzt werden kann. Das ist das Prinzip der Kreislaufwirtschaft.
Können Sie eine Entwicklung, einen Wandel seit dem Beginn Ihrer Forschung feststellen?
Dirk Hebel: Was sich stark verändert hat, ist der politische Wille. Vor kurzem kam die Bundespressemitteilung heraus, dass Olaf Scholz die Kreislaufwirtschaft im Bauwesen bis zum Jahr 2030 einführen möchte. Der politische Wille ist demnach vorhanden und man spürt eine Unterstützung von regulatorischer Seite. Wir müssen uns Instrumente überlegen, um kreislaufgerechtes Bauen heute attraktiv werden zu lassen, obwohl der Nutzen erst weit in der Zukunft liegt. Ich könnte mir vorstellen, dass Banken in Zukunft günstigere Kredite an Personen vergeben, die kreislaufgerecht planen und bauen. Oder dass Kommunen ihre Grundstücke für eine solche Bauweise günstiger abgeben und eine andere Bauform teurer wird, weil daraus Folgekosten entstehen und Böden in ihrer Qualität beeinträchtigt werden. Das sind Aufgaben auf politischer Seite. Technisch sind wir heute schon in der Lage, kreislaufgerechtes Bauen durchzuführen.
Sie sagen "heute schon". Könnte man auch sagen, wir waren an diesem Punkt schon mal? Spielt historische Bauforschung für Sie eine Rolle?
Dirk Hebel: Ja, wobei man nie vergessen darf, in welchem gesellschaftlichen Umfeld sich eine Industrie und eine Baukultur entwickelt. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Bauindustrie einen enormen Sprung gemacht in Quantität und Qualität der Baumaterialien, die für den Wiederaufbau notwendig waren. Der Ansporn war Produkte ständig zu verbessern, vor allem auch was die Langlebigkeit angeht. Das war nicht falsch gedacht, nach wie vor gehört auch zu einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft der Gedanke, Produkte zu entwerfen, die möglichst lange halten und in der Nutzung bleiben können. Nun haben wir gemerkt, dass man das nicht isoliert betrachten kann. Man muss auch schauen, ob zum Beispiel Langlebigkeit erreicht werden kann, ohne gesundheitsgefährdende Stoffe zu verwenden oder die Materialien am Ende des Lebenszyklus auf einer Deponie entsorgen zu müssen. Gerade bei Kompositwerkstoffen ist das heute noch meist der Fall. Bei Holzwerkstoffplatten, die mit einem hohen prozentualen Anteil mit synthetischen Klebern versetzt sind, bleibt fast keine andere Wahl, als diese am Lebensende zu entsorgen oder zu verbrennen, da das Produkt eine Mischung aus biologischen und synthetischen Materialien darstellt, welche nicht mehr voneinander zu trennen sind. Eine Kompostierung im natürlichen Kreislauf ist nicht mehr machbar. Die Asche ist nach einer Verbrennung solcher Kompositwerkstoffe zudem so toxisch, dass sie oft in Sondermülldeponien entsorgt werden muss. Wir müssen daher langfristiger und in dem Sinne nachhaltiger denken und das Lebensende solcher Materialien schon mitdenken. Wir sollten neue Klassen von Verbindungsmitteln entwickeln, die natürliche Prozesse nicht verhindern, sondern innerhalb dieser wieder zu neuen Nährstoffen werden und nützlich sein können für ein biologisches System, ohne das wir nicht existieren können.
Recyclingmaterialien spielen für das Urban Mining eine große Rolle. Das ist kein neuer Begriff, aber würden Sie trotzdem beschreiben, was er konkret bedeutet?
Dirk Hebel: Die urbane Mine beschreibt unserer gebaute Umwelt als menschgemachtes Lager aller physischen Stoffe. Dieses Lager kann ich nun unterschiedlich nutzen. Erstens kann ich den Bestand, also die existierenden Gebäude, anpassen, erweitern oder umnutzen. Diese Wieder- und Weiterverwendung ist sicherlich der Königsweg der Kreislaufwirtschaft. Und hier appelliere ich auch an die Planenden. Wie flexibel sind meine Grundrisse, wie einfach ist eine zukünftige Nutzungsänderung oder Anpassung? Ist der technische Ausbau einfach und schnell anpassbar und erreichbar. Dies sind Fragen, die wir auch in der Lehre vermehrt diskutieren und anschauen müssen. Zweitens kann man versuchen, falls ein Rückbau oder gar Abriss unausweichlich ist, Bauteile und Materialien aus dieser urbanen Mine herauszuholen und in neuen baulichen Aufgaben wieder einzusetzen. Entweder 1:1, das ist die Wiederverwendung, oder eben in einer geänderten Physis, das ist die Wiederverwertung. Allerdings ist unsere heutige gebaute Umwelt nie dafür konzipiert oder entworfen worden, warum die Anteile dieser Verwendung oder Verwertung im Gesamtmarkt extrem gering sind. Dennoch sollten wir schon heute Materialien einsetzen, die sich bereits in ihrem zweiten oder dritten Lebenszyklus befinden. Mittlerweile gibt es viele Unternehmen, die sich der Aufgabe widmen, planenden ArchitektInnen einen Fundus zur Verfügung zu stellen, mit dem sie neue Bauwerke, Erweiterungen oder Umbauten mit solchen Bauteilen und Materialien bestücken können. Gebäude werden also nicht als Abbruchbaustelle betrachtet und entsorgt, sondern Teile davon werden wieder- und weiterverwendet und -verwertet. Einfach auszubauen und dann wiederzuverwenden sind heute hauptsächlich Materialien der inneren Schicht von Gebäuden, also Türgriffe, Türblätter, Türrahmen, Bodenbeläge, natürlich Möblierungen. Schwieriger wird es bei konstruktiv wirksamen Bauteilen. Bei Bauwerken, die in Ortbeton gegossen sind, ist es fast unmöglich, Teile wieder zu nutzen, da ein zerstörungsfreier Rückbau kaum gelingt. Viel einfacher ist es mit Holz- oder Stahlkonstruktionen.
Wenn wir diese urbanen Minen in Zukunft besser bewirtschaften wollen, müssen wir uns aber auch Gedanken machen, welche Informationsquellen im Bauteil selbst oder in digitalen Zwillingen stecken, die einer Ingenieurin/ einem Ingenieur und Planenden in ferner Zukunft sagen, was damals die quantitativen und qualitativen Annahmen waren, um das Bauteil zu dimensionieren. Und dass wir die Bauteile so fügen, dass sie leicht herausgehoben werden können, wenn eine Wiederverwendung des Gesamtgebäudes aus driftigen Gründen nicht möglich sein sollte. Aber nur auf die Zukunft zu setzen ist falsch, wir müssen heute schon Gebäude bauen, die an verschiedenen Stellen eines Kreislaufs operieren. Mit eventuell neuen Bauteilen, und mit anderen, die sich schon in einem weiteren Lebenszyklus befinden.
Wir sind gerade dabei eine neue Materialbibliothek aufzusetzen, die einer breiten Öffentlichkeit zugeführt werden soll, nicht nur für unsere Studierenden, sondern auch für Interessierte, andere Planende. Es wird eine offene Bibliothek geschaffen, mit der ich auch – neben traditionellen Materialien und Baustoffen – für den Einsatz solcher neuartigen rezipierten Baustoffe aus der urbanen Mine werben möchte. Schaut man nach Dänemark oder Norwegen, wo bereits heute die Erteilung von Baugenehmigungen and den CO₂-Ausstoß von Gebäuden während der Errichtung und dem Betrieb geknüpft wird, sieht man neuerdings einen unglaublich hohen Einsatz rezyklierter und wiederverwendeter Materialien und auch Bestandsflächen von bestehenden Gebäuden, da diese Flächen und Massen mit "0" bilanziert werden.
Also eine physische Bibliothek mit Forschungsliteratur und auch eine Datenbank zu den Werkstoffen?
Dirk Hebel: Mit einer zentralen digitalen Datenbank an der alle mitarbeiten sollen und können und physischen Materialsammlungen. Wir von der Fakultät Architektur des KIT haben mit der Bergischen Universität Wuppertal und der Fachhochschule Münster eine Kooperation von Materialbibliotheken an Deutschen Hochschulen ins Leben gerufen, zu der wir nun alle einladen möchten zu partizipieren. Wir werden alle die gleiche digitale Grundlage benutzen und dann an unterschiedlichen Orten physischen Sammlungen aufbauen, damit jede und jeder die Möglichkeit hat, die Materialien auch anzuschauen und anzufassen.
Sie haben gerade von neuen Materialien gesprochen. Können Sie berichten, was das Material der Stunde ist, an dem Sie forschen?
Dirk Hebel: Mineralische und metallische Werkstoffe werden immer knapper, die Erdkruste ist nicht unendlich auszuschöpfen. Auch dadurch werden die Baukosten in Zukunft steigen, weil nicht genug Primärmaterial vorhanden ist. Die bestehenden Materialien müssen wir im Kreislauf halten. Aber man braucht kein Mathematiker zu sein, um auszurechnen, dass dies den Bedarf an Baumaterial alleine nicht decken wird. Hier kommen die nachwachsenden Rohstoffe ins Spiel. Wir sollten viel mehr in dieses weite Feld von biologischen Materialien hineinschauen – auch neben dem tollen Werkstoff Holz. Wir forschen seit längerem an Pilzen und dem Potential des Pilzmyzel als biologischer Kleber. Auch wie wir damit Holzwerkstoffplatten fertigen können, für die wir keine synthetischen Kleber mehr benötigen, oder Isolationsmaterialien, welche wir wachsen lassen können. Je mehr wir daran forschen und in diese nachwachsenden, regenerativen Materialien verstehen, umso faszinierter bin ich, was die Natur uns bereitstellt. Wir müssen es nur verstehen lernen und zur Anwendung bringen. Die Palette ist unendlich und der ganze Bereich der Biologie könnte für zukünftige und neuartige Baumaterialien viel stärker in den Fokus rücken.
Energieeffizienz und regenerativ erzeugte Energie sind Teil eines neuen Zuhauses. An welchem Zeitpunkt der Forschung fließt das mit ein?
Dirk Hebel: Es ist essenziell, dass der Kreislauf mit regenerativen Energien angetrieben wird. Es nützt ja nichts, wenn ich für den Hausbau Holz und biologische Materialien verwende und es als CO₂-Speicher verstehe, aber auf der anderen Seite fossile Energieträger verbrenne, die wiederum CO₂ ausstoßen. Auch die Energie, die für die Wiederverwertung aufgebracht werden muss, um aus einem alten einen neuen Werkstoff herzustellen, ist im Idealfall regenerativ. Energiefrage und Ressourcenfrage müssen Hand in Hand gehen.
Inwiefern spielt der Wohnkomfort eine Rolle?
Dirk Hebel: Wir haben in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass wir nicht alles mit Technologie lösen können. Wir haben ein unglaubliches Wissen aufgebaut, wie wir Gebäude auch künstlich belüften, beleuchten, heizen und kühlen können. All das ist technisch perfekt. Durch mehrere Forschungsarbeiten konnte jedoch festgestellt werden, dass zwischen dem technischen Potenzial und der tatsächlichen Nutzung eine riesige Lücke klafft. Der Mensch und seine Psychologie spielen eine viel wichtigere Rolle, als wir das uns in den letzten fünfzig Jahren vorstellen konnten. Ich finde es schön, dass wir zur Erkenntnis kommen, nicht alles mit Technologie erschlagen zu müssen. Das wir in Zukunft wieder einfachere Systeme erdenken, die den Menschen unterstützen, ihm aber nicht die Verantwortung abnehmen. Ich begrüße dieses andere Verständnis von Technologie als unterstützende Maßnahme, die den Menschen nicht ablöst. Forschungsprojekte, die in diese Richtung gehen, wie "Einfach Bauen" von Florian Nagler und Thomas Auer, setzen sich kritisch und innovativ mit diesen Fragen auseinander.
Ein stärkerer Fokus auf das Menschliche, das ist eine positive Entwicklung. Dem entgegen stehen vielleicht die Bestrebungen um das Thema Smart Home, was ja eine weitere Digitalisierung und Technisierung des Alltags birgt. Erachten Sie diese parallelen Entwicklungen als gegenläufige Tendenzen oder ist beides vereinbar?
Dirk Hebel: Ich glaube, es ist schon vereint. Anfang der 2000er-Jahre hat die Smart Home Idee wirklich geboomt, ein richtiger Hype. Nicht nur Smart Home, sondern ganze Städte sollten "smart" werden. Das hat sich nicht bewahrheitet, weil auch hier der Mensch der entscheidende Faktor war und ist. Es gibt Bereiche, in denen sich Smart Home bewährt hat, gerade in der Sicherheitstechnologie – aber es ist nicht dazu gekommen, dass wir alle mit unserem Smartphone aus dem Wohnzimmer den Kochherd regeln oder den Kühlschrank konditionieren. Auch hier hat eine Nivellierung auf einem sinnvollen Niveau stattgefunden.
Es gibt also eine gesellschaftliche Entwicklung in unserem Umgang mit Technologie, dass wir nicht jedem Hype hinterherlaufen, sondern betrachten, wo ist es wichtig, wo läuft es dem Menschlichen entgegen oder konträr dazu. Zudem wird die CO₂-Frage auch dort relevant: Je mehr Technologie ich einbringe, umso höher wird der CO₂-Fußabdruck eines jeden Gebäudes. Ich schätze, wir werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren sehr wahrscheinlich erleben, dass auch wir hier in Deutschland Baugenehmigungen an den Ausstoß von CO₂ knüpfen werden, wie eben schon von Dänemark und Norwegen berichtet. Solch auf ein Gesamtgebäude bezogene Zielvorgaben im Gegensatz zu strikten und unflexiblen Einzelvorgaben von Bauteilen bergen enormes innovatives Potenzial, weil es dann wiederum die Verantwortung von Planenden wird, festzulegen, wo ist ein etwas höherer CO₂-Wert unumgänglich, und wo kann ich massiv einsparen, damit eine sinnvolle und vorgegebene Gesamtbilanz eintritt. Wir müssen innovativ werden, wir sollten keine festen Rezepte vorgeben.
Wenn mir ein Gebäude gefällt, habe ich als Mensch den Wunsch, es zu erhalten und zu pflegen, Stichwort Römische Antike, Mittelalter oder Barock. Das ist der menschliche Faktor, den Sie angesprochen haben. Spielen Schönheit und Ästhetik für nachhaltiges Bauen eine Rolle und kann man überspitzt sagen, je schöner, desto nachhaltiger?
Dirk Hebel: Die jahrhundertelangen tradierten Werte in der Architektur unserer Baukultur, der Schönheit, der Langlebigkeit, der Robustheit, also die Vitruv‘schen Werte, die gelten heute noch genauso wie vor tausend Jahren. Aber die Gesellschaft entwickelt sich weiter und die Frage ist, welche anderen Werte kommen zu diesen ursprünglichen hinzu. Nur weil ein Gebäude auch regenerative Energien nutzt, um beheizt zu werden, ist es nicht automatisch schön oder gar nachhaltig. Ich stimme Ihnen zu: Ein schön empfundenes und gut funktionierendes Gebäude wird gepflegt und ist eventuell dadurch nachhaltiger, weil es geliebt und unterhalten wird und es bleibt dadurch auch sehr wahrscheinlich länger erhalten. Aber auch nur weil es schön ist und eventuell lange überlebt, macht es auch das noch nicht automatisch nachhaltig. Ich glaube, wir erleben gerade einen Wandel der Werte, die die ursprünglichen modifizieren und ergänzen. Das macht den Beruf auch etwas komplexer. ArchitektInnen müssen heute in viel mehr Bereiche Einblick haben, um abzuschätzen, was einer zeitgenössischen Baukultur entspricht, zu der nun auch die Nachhaltigkeitsfrage gehört.
Der Universität fällt hier eine wichtige Aufgabe zu, um Forschung zu betreiben und neue Ideen zu entwickeln, diese aufzubereiten und einfach erklären zu können und dann in die Anwendung zu bringen. Noch vor fünfzehn Jahren war die Frage nach einer Kreislaufgerechtigkeit im Bauwesen in der universitären Lehre eher untergeordnet. In der heutigen Generation von Lernenden ist das nicht mehr der Fall, die Fragen nach innovativen und alternativen Ansätzen wird selbstverständlich eingefordert. Da wir als Lehrende aber eine solche Ausbildung nicht selbst genossen haben, sind wir auch ein Stück weit AutodidaktInnen und lernen mit unseren Studierenden. Das ist eigentlich eine schöne Situation, gerade in diesem wichtigen Moment in unserer Epoche, der durch Krisen geprägt ist. Darin steckt die Chance des Aufbruchs, den wir gemeinsam über alle Generationen hinweg generieren müssen.
Wie schätzen Sie die Situation international ein? In anderen Ländern, anderen Klimazonen: Arbeiten und denken alle in ähnliche Richtungen oder ist es regional sehr unterschiedlich?
Dirk Hebel: Es kommt darauf an, in welchen Situationen sich diese Gesellschaften befinden. Wenn Sie nach Ostafrika schauen, wo ich öfter unterwegs bin, in von Unruhen geprägte Länder, steht natürlich diese Fragestellung nicht an erster Stelle. Sondern: Wie behause ich Millionen von Menschen mit Zugang zu Wasser, Energie, Sicherheit und Würde . Auch bei uns ist diese Frage wichtig, wenn auch in einem anderen Ausmaß. Hätten wir in Deutschland nicht viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum, könnten wir an anderer Stelle schon weiterdenken. Wir erleben unterschiedliche Geschwindigkeiten geknüpft an die jeweiligen gesellschaftlichen Herausforderungen.
Es ist allerdings ermutigend, dass wir in Europa nicht nur im Bauwesen die Kreislaufgerechtigkeit näher beleuchten, sondern auch die allgemeine Reparaturfreundlichkeit von Produkten, d.h. die Frage, wie wir diese möglichst lange nutzen können. Wie lange muss ein Produkt halten und wenn es nicht mehr funktioniert, wie einfach oder schwer ist es zu reparieren? Wie lange halten Unternehmen Ersatzteile bereit? Wie offen werden die technischen Daten geteilt, damit andere die Ersatzteile ebenso produzieren können? Das sind wichtige Fragestellungen für die Kreislaufwirtschaft und ein gesellschaftliches Thema, das in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erfolgt. Aber diese werden schneller, und wir brauchen nicht mehr die Weiterentwicklung über mehrere Generationen, bevor wir solche Themen umsetzen.
Unsere Leserschaft sind überwiegend ArchitektInnen, PlanerInnen, DesignerInnen. Können Sie uns von Ihrem präferierten realisierten Projekt berichten?
Dirk Hebel: Wir bauen immer wieder Testlabore. Auch das ist Teil unserer universitären Aufgabe. 2022 haben wir mit dem Projekt RoofKIT den grössten internationalen Bauwettbewerb für Hochschulen gewonnen, den Solar Decathlon. Dabei war und ist es schön zu sehen, wie motiviert die heutige Generation von ArchitektInnen und IngenierInnen an auch schwierige Fragestellungen herangeht. Und mit wieviel Herzblut und Selbstverständnis diese Generation die Ideen vorantreibt – und dann eben auch Produkte nachfragt bei der Industrie oder diese anfängt zu entwickeln, wenn sie nicht verfügbar sind. Um an Ihre Fragestellung mit der Leserschaft anzuknüpfen: Das eine bedingt das andere. Wir brauchen eine breitere Palette von Materialien und Produkten, die die Kreislaufwirtschaft wirklich verinnerlicht haben.
Wenn ich in letzter Zeit über Fachmessen laufe, dann erlebe ich leider immer noch häufig, dass der Anspruch nach Kreislaufgerechtigkeit und Nachhaltigkeit zwar postuliert wird, aber man nach zwei Nachfragen an einen Punkt kommt, wo die Antworten unglaubwürdig klingen. Hier würde ich mir wünschen, dass wir ehrlicher miteinander umgehen, dass wir das Thema in seiner Komplexität betrachten und dementsprechend auch offen und nachvollziehbar umsetzen. Die Kreislaufwirtschaft bietet die Möglichkeit eines Innovationssprungs.