Von Albert Camus ist die Aussage überliefert, wer die Dinge falsch benenne, trage zum Übel der Welt bei. Typisch Schriftsteller, wird man sagen. Und doch weiß jeder, der sich heutzutage im großen Laufrad der sogenannten Wissensgesellschaft abstrampelt, in dem man ohne Unterlass kreativ zu sein hat, wie wichtig – und auch wie beglückend – es sein kann, flüchtige Beobachtungen, Gedanken, Gespräche nicht einfach dem Vergessen zu überlassen. Was, ob im Beruf oder privat, beim letzten Gespräch mit einem Freund, beim schnelle Wortwechsel mit Architekt X oder Designer Y alles zur Sprache kam, wie berauschend oder enttäuschend die letzte Ausstellung des Künstlers K gewirkt hat, wieso die Struktur des Projekts Z noch nicht stimmt und was die nächsten Tage so alles auf der Agenda steht – für all das gibt es die unterschiedlichsten Notationssysteme.
Architekten, Künstler, Schriftsteller und Journalisten halten sich dabei noch immer gern ans Analoge. Sie haben ein Notizbuch. Ständig eine kleine Kladde – oft im Format DIN A 6 – griffbereit in der Jackentasche dabei zu haben, in die per Hand all das geschrieben und gezeichnet werden kann, was als wert erachtet wird, festgehalten zu werden, ist eine wunderbare Angewohnheit, sich über dies und das klar zu werden. Ob kleines Heft oder dickes Notizbuch, das bewährte Pendant zu Smartphone oder Tablet kommt ohne Netzteil, Akku und Verbindung zur Cloud aus. Man hat all seine Gedankenspiele, To-do-Listen oder was man sonst noch so aufschreibt dabei, kann vor- und zurückblättern und finden, was man nicht gesucht hat. Und beim Blättern in alten Notizen stellt man nicht selten fest, welch gute Idee liegengeblieben ist und womöglich wieder aufgegriffen werden sollte. Die Notizen im Blick, kommt man auf neue Ideen oder findet sie wieder.
Ein Notizbuch ist einfach praktisch und durch nichts zu ersetzen. Im Grunde ist es kein Ding aus Papier und Klebstoff, sondern ein Kraftwerk, das unsere Denkmaschine antreibt und deren Ausstoß dokumentiert und bündelt. Einen besseren Kumpan, der immer funktioniert, für jedes Wort ein offenes Ohr hat und Geheimnisse für sich behält, kann sich unsere Selbstreflexion nicht wünschen. Auch, wenn es mal nicht optimal läuft. Tagebuchschreiben auf dem Notebook oder gar auf dem iPad? Dem Touchscreen samt Facebook anvertrauen, dass einem der Chef auf die Nerven geht, der Freund einem die Geliebte ausgespannt hat oder was gerade so alles schiefläuft – irgendwie passt das nicht. Außerdem sind Google und NSA auch nicht gleich im Bilde, wenn man in melancholischen Augenblicken der Ungerechtigkeit freien Lauf lässt und überlegt, wie es mit der Welt, vor allem der eigenen, weitergehen kann. Was auch von der Seele aufs Papier drängt, das Notizbuch nimmt es verständnisvoll auf.
Dabei war das Notizbuch fast schon verschwunden. Vor zwanzig, dreißig Jahren gab es im Handel nur noch altbackene Exemplare aus den Zeiten, als das Büro noch Kontor hieß, Bestellungen und Buchhaltung in Kladden und Journale eingetragen werden mussten. Überraschend ist es schon, dass Notizbücher parallel zur Digitalisierung wieder in Mode gekommen sind. Mit der Folge: Heutzutage gibt es ein ganzes Füllhorn davon, wobei selbst das einfachste Exemplar, dem wir unsere Gedanken anvertrauen, nicht mehr ohne eine eigene Philosophie der Kreativität auskommt.
Bei Moleskine etwa, jener Marke, mit deren kleinen, schwarzen Büchlein die Renaissance des Notizbuches als modisches Accessoire begann, spricht man recht selbstbewusst davon, „das Moleskine“ – was sonst – sei nicht weniger als ein „Synonym für Kultur, Reisen, Erinnerungen, Vorstellungskraft und persönliche Identität“, ein Begleiter, typisch „für unser heutiges nomadenhaftes Leben“. Wer’s glauben will, dem wird das Büchlein zum Gefährten und zur Stütze. Und weil das Marketing der Ausstatter unseres urbanen Nomadentums nichts dem Zufall überlässt, gibt es mittlerweile nicht nur Notizbücher, sondern auch Tagebücher, Skizzenbücher, Kalender, Taschen und Schreibgeräte – in allen möglichen Formaten und Farben: in Leder, Leinen, Kunststoff oder Pappe; bedruckt, geprägt, gebrandet oder einfach nur „black“; die Seiten blanko, kariert oder liniert, mit Lesezeichen und Stifthalter oder ohne. Eben für jeden Geschmack etwas, stammen die Büchlein von einem anonymen Buchbinder, einem kleinen Papiergeschäft oder von Moleskine, von Brunnen oder Leuchtturm 1917, von Manufactum oder Semikolon, von Ciak oder Authentics. Ganz zu schweigen von Systemen wie Serrote oder X17, die mehr und anderes sind als klassische Notizbücher.
Wer noch immer nicht glaubt, dass ein Notizbuch mehr ist als ein gebundener Stapel Papier, dem erzählt Moleskine die schöne Geschichte eines legendären Notizbuches der Künstler und Intellektuellen der vergangenen Jahrhunderte, dessen Erbe man bewahrt und angetreten habe. Vincent van Gogh und Pablo Picasso, Ernest Hemingway und Bruce Chatwin, alle hätten sie ihre Fantasien und Nöte einem „schlichten, schwarzes Rechteck, an den Ecken abgerundet“ anvertraut, einem perfekten, aber anonymen Objekt, das mehr als 100 Jahre lang von einer kleinen, französischen Manufaktur hergestellt worden sei, die Pariser Buchhandlungen belieferte, in denen nicht wir, die Touristen unserer Kreativitätsgeschichte, sondern die Heroen der Avantgarde selbst verkehrten. Die Skizze, die zum heute weltberühmten Gemälde wurde, das im Louvre oder im Metropolitan Museum hängt, die Beobachtung, aus der Weltliteratur entstanden ist, all das begann angeblich auf den Seiten dieser kleinen Alltagsbegleiter. Jedenfalls wird uns auf diese Weise das verklärte Bild permanenten Schaffens vors’s innere Auge gehängt wie eine Karotte vor’s hungrige Maul eines Esels, der glaubt, sie dereinst verspeisen zu können. Die Botschaft ist klar: Du sollst kein anderes Notizbuch neben mir haben.
Weil aber nichts so bleibt, wie es einmal war, die Inspiration nach Bildern und Daten verlangt, bemüht man sich in Zeiten von Smartphone und iPad auch bei den Herstellern des analogen Aufzeichnens um eine Verbindung zur digitalen Welt. So soll beispielsweise das „Evernote Business Notizbuch“ von Moleskine helfen, jederzeit den Überblick über auf verschiedene Geräte verteilte Notizen, Besprechungen und Termine zu behalten. Um das zu gewährleisten, wurde bei diesem hybriden Typus ein Seitenlayout speziell für die Verwendung mit der „Evernote Page Camera“ entwickelt, womit handschriftliche Notizen digital gespeichert werden können – ein temporäres Abonnement von „Evernote Premium“ inklusive. Am Vernetztwerden führt heutzutage offenbar kein Weg vorbei.
Dabei ist es so viel schöner, ins Regal zu greifen und in einem alten Notizbuch zu stöbern als den Labyrinthen der eigenen Fantasie per Suchbegriff zu Leibe zu rücken. „Mit Leuten, die das Wort ,effektiv’ gebrauchen“, hat schon der grantige Karl Kraus festgestellt, „verkehre ich in der Tat nicht.“ Der Geist, so viel steht fest, weht ohnehin, wo er will. Oft findet man seine Spuren in einem Notizbuch.
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