„Blues Blood Bruise“ – was soviel heißt wie „Blues Blut Beule“ – hat Glenn Ligon über den Eingang des Padiglione Centrale in den Giardini und über den Schriftzug „La Biennale“ geschrieben. Und Oscar Murillo hat zwischen die darunterliegenden Säulen schwarze Leinwände gehängt, die mangels Wind wie traurig gewordene Fahnen wirken. Gleich dahinter stellt Okwui Enwezor, der Kurator der 56. Biennale di Venezia und deren zentraler Ausstellung „All the World’s Futures“, klar: Statt Kunstformen und -praktiken einem einheitlichen Blickwinkel unterzuordnen, setze er auf eine „Schicht aus drei sich überlagernder Filter“ gebildet aus einem „Garten der Unordnung“, der „Lebendigkeit epischer Dauer“ und dem „Lesen des ,Kapitals’". Eine Konstellation von Parametern sollten diese „Filter“ dem Besucher an die Hand geben, damit er sich innerhalb der Mannigfaltigkeit der gezeigten „Praktiken“ zurechtfinde.
In den Sälen des Zentralpavillons und den Hallen der ehemaligen Arsenale der venezianischen Marine ist davon wenig zu spüren. Allein durch einen Garten der Unordnung glaubt man sich zu bewegen, wird die Schau doch beherrscht von einer übervollen Bildproduktion, die Kunst zumeist als eine postkoloniale Kritik der bestehenden Verhältnisse verstanden wissen will. Man kennt die Methode Enwezors von der documenta 11 des Jahres 2002, doch anders als 2015 in Venedig war er damals klug genug, sechs Co-Kuratoren mit ihren je eigenen Perspektiven mit an Bord zu holen.
Dieses Mal sind es die zahlreichen Länderpavillons in den Giardini, den Arsenalen und in der Stadt, die für entsprechende Gegengewichte sorgen – und für Präsentationsweisen, die Kunst nicht zuallererst als Beleg oder gut gemeinte Meinungsäußerung begreifen. Wohin, so könnte man fragen, steuert ein aufgeblasener Kunstbetrieb, der kritisch und politisch zu sein behauptet, aber trotzdem vor allem den Kunstmarkt widerspiegelt und bedient? Facetten eines ersten Rundgangs.
Eine tägliche Dosis von 30 Minuten Karl Marx muss wohl sein, wenn Kunst und Künstler gegen den Kapitalismus in Stellung gebracht werden: Für „Das Kapital Oratorio“ und andere performative Praktiken hat der Architekt David Adjaye im Zentralpavillon eine rote Arena entworfen.
Auf dem Weg von den Giardini zu den Arsenalen wird die Kritik an Enwezor bereits plakatiert: „What does an elitist event like the venice biennale has to do with Karl Marx“; auch wir wüssten gern, was eine elitäre Veranstaltung wie die Biennale mit Karl Marx zu tun hat?
Was legt seine Installation „Blaues Segel“ von 1964/65 auf Enwezors „gefiltertem“ Terrain nahe? Alles in der Schwebe? Arbeiten von Hans Haacke, einem Altmeister kritischer Konzeptkunst und ein akribischer Registrator kapitalistischer Praktiken, im Padiglione Centrale.
Einblicke ins Arbeiterleben während der Industriellen Revolution und Arbeiterlieder aus der Jukebox: Jeremy Deller weiß, wie man soziale Verhältnisse kartographiert und die Kunst darüber nicht völlig vergisst.
Biopolitische Verheißungen mit dem Duft frischer Babyhaut: Pamela Rosenkranz hat den Vorraum des Schweizer Pavillons sehr grün gestrichen, den Innenraum mit Kunststoffen isoliert und mit einer Flüssigkeit gefüllt, deren Farbigkeit dem standardisierten mitteleuropäischen Hautton entspricht.
Je höher man steigt und je schneller man fliegt, desto dünner wird die Luft und desto anstrengender, sich zu orientieren: Irina Nahkowa hat in den Russischen Pavillon den überdimensionalen Helm-Kopf eines Jet-Piloten gestellt.
Zu jedem Erinnerungsfaden der passende Schlüssel: Chiharu Shiotas Rauminstallation „The Key in the Hand“ im Pavillon Japans.
Gebannte Besucher im medialen Raum: Hito Steyerls Videoinstallation „The Factory of the Sun“ verwandelt den unteren Teil des zentralen Raums des Deutschen Pavillons in ein Motion Capture Studio.
Und plötzlich können sich Bäume bewegen: Céleste Boursier-Mougenot lässt in ihrer „Rêvolution“ einige samt Wurzelballen im Pavillon Frankreichs und auf dem Platz davor langsam und gravitätisch paradieren.
Lauter neue Werkgruppen und lauter bekannte Themen, die wie eine Nachspeise wirken sollen: Sarah Lucas wird ihrem Ruf gerecht, provoziert im Britischen Pavillon in den Giardini aber nur mäßig.
Apotheose im Tschechischen Pavillon (links): In weißen Lettern hat Jirí David auf die weiße Wand ein Zitat von Marx geschrieben: „Das Problem ist nicht, sich von unseren Illusionen zu befreien. Das Problem ist, sich von Situationen zu befreien, die Illusionen erfordern.“ Er setzt sich mit dem berühmten Zyklus „Das Slawische Epos“ von Alfons Mucha auseinander. Etwas groß geraten und vor dem Österreichischen Pavillon eher störend: Orchideen von Isa Genzken.
Subtile Kunst der Verbesserung mit theatralischer Wirkung: Heimo Zobernig hat im Österreichischen Pavillon den Garten zu einem Naturbild gemacht, den Boden angehoben, die Decke abgesenkt und dem Betrachter eine Bühne zum auftreten bereitet.
Verschwundene Staaten, Erinnerung und gestische Malerei: Ivan Grubanovs Installation „United Dead Nations“ im Pavillon Serbiens.
Wie man auf den Spuren Fitzcarraldos die Oper in die Tropen bringt: „Halka/Haiti 18°48’05’’N 72°23’01’’ W“ von C.T. Jasper und Joanna Malinowska im Pavillon Polens.
Erinnerung mit präparierten Tieren: Maria Papadimitrious „Agrimik. Why Look at Animals?“ im Griechischen Pavillon ist ein emblematisches Readymade und ein Fundstück, das sie aus der griechischen Stadt Volos nach Venedig versetzt hat.
Blick in die Corderie des Arsenale mit Arbeiten von Terry Adkins und Melvin Edwards (links) sowie Assemblagen aus in Beton gegossenen und mit schwarzem Kautschuk überzogenen Kettensägen von Monica Bonvicini.
Bild und Klang: Papierarbeiten des Südafrikaners Kay Hassan in den Arsenalen.
In den Arsenalen: Institutionenkritik anhand von Guggenheim, Louvre und Abu Dhabi.
Weiter an den Grenzen der Malerei unterwegs: „Fällt von der Wand nicht“ lautet ironischerweise einer der Titel der großformatigen Gemälde von Georg Baselitz.
Steigt in Venedig das Wasser, so steigt es auch in Tuvalu: Der taiwanesische Künstler Vincent J.F. Huang hat für das Inselreich Tuvalu im Pazifik ein ebenso einfaches wie eindrucksvolles Environment zum Klimawandel geschaffen.
Alle, deren Passbild hier erscheint, haben ihn gekannt: Kutlug Atamans „The Portrait of Sakip Sabanci“ in den Arsenalen.
Chinesische Drachen statt venezianischer Schiffe: Xu Bings lässt in der ehemaligen Schiffswerft einen weiblichen und einen männlichen „Phoenix“, Huang und Feng, starten.
Im Kanadischen Pavillon wird es unter der Regie des Kollektivs BGL „Canadissimo“ (links) und im Dänischen Pavillon pflegt Danh Vo eine eigene Muttersprache.
Auf einem Lippensofa lässt sich gut sitzen: Helena Cabello und Ana Carceller werfen im Pavillon Spaniens einen Blick auf Salvador Dalì.
Der etwas andere Zeitungskiosk und die Sprache der Comics: In Francesc Ruiz’ Installation verschwindet erst die Farbe, dann muss man erwachsen sein, denn es kommen die Machos.
Kolonialgeschichte im computergesteuerten Lagerregal: Vincent Meesen sprengt mit „Personne et les autres“ im Belgischen Pavillon das Format der Einzelausstellung und reflektiert das Verhältnis zwischen Europa und Afrika.
Auch eine Geschichte der Erde: Herman de Vries widmet sich natürlichen Prozessen und präsentiert im Pavillon der Niederlande Skulpturen, Objekte, Papierarbeiten und Fotografien.
Wenn die Geister wieder aus der Kiste steigen, kehrt sich die Zeit dann um?
Fiona Halls füllt den neu gebauten Pavillon Australiens mit „All the Kings Men“ (oben), Gestalten gestrickt aus dem Garn von Tarnuniformen, und zelebriert „Wrong Way Time“.