IMM COLOGNE 2020
Dokumentationszentrum für Lebensgewohnheiten
Das Mobiliar ist die Hohlform des menschlichen Lebens – es definiert die Zwischenräume, in denen unser Alltag stattfindet. Eine große Möbelmesse wie die imm cologne in Köln ist gleichermaßen ein Seismograph für sich verändernde Gewohnheiten, wie auch Abbild unserer Wunschvorstellungen und Ideale. Natürlich wandelt sich all das nicht schlagartig und von Jahr zu Jahr. Man muss schon genauer hinschauen, um Verschiebungen jenseits einer neuen Trendfarbe festzustellen.
Wer also auf die imm 2020 blickt, wird zunächst vielleicht bemerken, dass die Anzahl der Neuheiten im Vergleich zu den Vorjahren leicht rückläufig scheint. Liegt das an der Messe, die im harten Konkurrenzkampf um die Premieren mit der zeitgleichen Maison et Objet in Paris und dem Salone del Mobile im April in Mailand steht? Oder ist es ein erstes Indiz für ein Umdenken der Möbelindustrie, an deren Neuheitenorgien der letzten Jahre zuletzt immer wieder Kritik aus den eigenen Reihen, etwa von e15-Gründerin Farah Ebrahimi, formuliert wurde? Viele Hersteller reisten nur mit einer echten Neuheit oder auch nur einigen Serienergänzungen nach Köln. Und natürlich war das Thema Nachhaltigkeit omnipräsent, wobei es für den Außenstehenden immer schwerer zu unterscheiden wird, was echtes Engagement und zukunftsweisende Technologie und was reiner Marketinggag ist. Es darf bezweifelt werden, dass die Hersteller es in jedem Fall selbst wissen. Sei's drum – der gute Wille ist zu loben.
Neues von Stuhl und Sofa
Was an Neuheiten präsentiert wird, unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was die vergangenen Messen gezeigt haben. Jedoch scheinen sich bestimmte Produkte ausmachen zu lassen, die alle größeren Hersteller im Programm haben wollen und die nun bei jedem Unternehmen peu à peu ins Sortiment rücken. Der Sessel für den Esstisch ist so ein Fall. Lange fristete er ein Schattendasein, wurde zwar von verschiedenen Polsterherstellern angeboten, doch blieb ein Mauerblümchen. Dem Design eines Stuhles, so war offenbar bisher die einhellige Meinung bei Gestaltern und Produzenten, ist ein dickes Polster abträglich – macht es ihn doch gleichermaßen schwer wie unhandlich und verhindert eine elegante Linienführung. So fristete der Esssessel bislang zumeist seine Existenz in den Schauräumen der Möbelkaufhäuser. Inzwischen erfährt er allerdings eine neue Wertschätzung – auch bei den auf hochwertiges Design spezialisierten Herstellern. Letztes Jahr präsentierte etwa bereits COR, einer der führenden deutschen Sitzmöbelhersteller im Premiumsegment, "Nenou" – eine Serie, die explizit um einen bequemen Tischsessel herum entwickelt wurde, wie Designer Jörg Boner berichtet. 2020 stellt nun Thonet mit dem Modell 520 ebenfalls einen Polsterstuhl für den Esstisch vor. Designer Marco Dessí gelang es, den schwierigen Spagat zu vollbringen, die ikonischen Bugholzformen mit einer gepolsterten Lehne zusammenzuführen. Keine einfache Übung. "Auch wenn es wie ein Designerklischee klingt", erinnert sich Dessí, "gab es beim Entwurf des 520 tatsächlich so eine Art zündende Idee: Ich betrachtete meinen klassischen Bugholzsessel Thonet 209 und fragte mich, ob man nicht den Rückenbügel nach unten rutschen lassen und die entstehenden freien Flächen mit Polster füllen könnte." Der Rest des Entwurfsprozesses habe vor allem aus "Abschälen" bestanden, wie Dessí und Thonet-Kreativdirektor Norbert Ruf übereinstimmend berichten, um dem Stuhl trotz der massiven Polsterung eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen.
Warum greifen auch designaffine Käufer neuerdings zunehmend zu Esssesseln anstatt zum klassischen Stuhl? Die plausibelste Erklärung scheint zu sein, dass sich heute das häusliche Leben in immer stärkerem Maße am Esstisch abspielt. Die allgegenwärtigen offenen Küchen im Wohnraum führen dazu, dass Bewohner und Gäste lange Zeit am Tisch bleiben. Und wer stundenlang auf einem Platz sitzt, möchte dies verständlicherweise zu bequem wie möglich tun. Die Sitzgruppe, lange Zeit das gesellschaftliche Herzstück jeder Wohnung, hat, wie Werner Aisslinger schon letztes Jahr analysierte, als Ort für formales Wohnen ausgedient. Stattdessen ist das Sofa hauptsächlich privater Rückzugsort für die Familie und dient mittlerweile zum Arbeiten ebenso wie zum Entspannen. Entsprechend informell sind die Designs inzwischen geworden. Quasi als Gegenstück zum Polsterstuhl für den Esstisch hat das legere Sofasystem seinen Siegeszug durch alle Preisklassen des Möbelmarktes angetreten. Dieses Jahr präsentieren die deutschen Premiumhersteller Rolf Benz und Walter Knoll jeweils ein neues Modell, das auf einen jüngeren, qualitäts- und designbewussten Kundenkreis abzielt. "Liv" von Rolf Benz (Design: Luca Nichetto) und "Muud" von Walter Knoll (Design: EOOS) wollen Leichtigkeit mit Vielfältigkeit in der Nutzung vereinen. Bei "Muud" sollen große, gesteppte Daunenkissen Bequemlichkeit und Zwanglosigkeit vermitteln. Mittels eines Klappmechanismus kann zudem aus einer Ecksofa-Konfiguration ein Gästebett für Zwei werden.
Trotz solcher technisch aufwendigen Zusatzfunktionen: Das Thema "Wohnen auf kleinem Raum", das bei immer weiter steigenden Immobilienpreisen in den Großstädten wirklich von großer Relevanz ist, überlassen die meisten großen Hersteller dann doch lieber entweder Spezialisten wie Müller Small Living oder gleich IKEA. Stattdessen könnte man meinen, das viele Unternehmen zu der Überzeugung gelangt sind, dass bei schrumpfenden Wohnflächen zwangsläufig die Gärten größer werden. Immer mehr (außen-)raumgreifende Sitzgruppen für Terrassen von der Größe einer Normalverdienerwohnung werden auf den Markt geworfen. Nun ist auch Cassina auf diesen Zug aufgesprungen und bietet für die Gartenfreunde unter den Oligarchen und Tech-Millionären Freiflächenmobiliar von Rodolfo Dordoni, ein sogenanntes "Love Bed" mit den Ausmaßen einer Nordseehallig von Patricia Urquiola und eine Polstergarnitur samt Tisch aus der Feder von Philippe Starck an. Letzterer präsentierte seinen Entwurf, eine martialisch wirkende Formschöpfung aus Holz, Stahl und Stricktextil, umringt von zahlreichen Fans, die zu einem nicht geringen Teil aus den Weltregionen zu stammen schienen, in denen auch die anvisierten Käufer von "Fenc-e Nature" zu Hause sind. Er habe ein "sentimentales Produkt" geschaffen, wie er es immer tue, rief er ihnen zu und verschwand.
Techniker und Ästheten
Von soviel Zuspruch können selbst die erfolgreichsten unter den deutschen Designern nur träumen. Das sind auch in diesem Jahr Stefan Diez und Sebastian Herkner, die die Antipoden des Designs hierzulande darstellen. Diez, der technische Tüftler, hat nicht nur den Stand für Kvadrat entworfen, dessen Hauptelement ein an Frei Otto erinnernder Schirmparavent ist. Er hat auch gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Lina Fischer für Midgard die Leuchte "Ayno" entwickelt – vielleicht das beste neue Produkt der Messe. "Ayno" besteht aus einem Fuß, einem Schirm und dazwischen einem hochflexiblen Fieberglasstab, der in fast jede Position gebogen und mit dem Stromkabel fixiert werden kann. Dank der wenigen Bauteile wird Midgard die komplett in Deutschland gefertigte Leuchte zu einem überaus konkurrenzfähigen Preis anbieten können.
Sebastian Herkners Liebe gilt dagegen weiterhin dem Kunsthandwerk. Mit ClassiCon ist es ihm gelungen, seinen inzwischen zum Klassiker avancierten Beistelltisch "Bell Table" zu einem bildschönen Esstisch zu vergrößern. Dabei bestand die Herausforderung darin, eine Glasbläserei zu finden, die den charakteristischen Glasfuß in der benötigten Größe produzieren kann. Acht Jahre nach der Premiere des "kleinen Bruders" ist dies nun gelungen. Wie Diez hat sich auch Herkner dieses Jahr als Standdesigner betätigt und für Thonet einen der gelungensten Messeauftritte gestaltet. Er gliedert die Präsentationsfläche mit Wandschirmen aus dem für die Marke so typischen Rohrgeflecht und hat an der Standaußenseite Markisen befestigen lassen, die als Anspielung auf den legendären Kaffeehausstuhl Thonet 214 zu lesen sind. Für ligne roset hat Herkner ebenfalls einen gelungenen Wurf geliefert. Das Sofa "Taru" lässt Anklänge an das Avantgardedesign erkennen, etwa bei den wuchtigen Füßen. Solche Details lassen an die massigen, fast ungeschlachten Formen denken, wie sie etwa Faye Toogoods "Roly Poly Chair" zeigt.
Bei allem Respekt für Herkners überzeugenden Entwurf: Das Überraschende, Verwegene und Unangepasste, das Toogoods Stuhl so besonders macht, fehlt allerdings bei "Taru". Wer im Rahmen der imm 2020 einen Blick auf sensationelles Design jenseits des Mainstreams werfen wollte, konnte dies an zwei Orten tun. In einer schmucklosen Passage auf dem Messegelände zeigte AHEC, der Zentralverband der amerikanischen Hartholzindustrie, das für die London Design Week 2019 entstandene "Legacy"-Projekt. Auch wenn die Präsentation in Köln weit unglamouröser ausfiel, als bei der Premiere im Victoria & Albert Museum – die zehn Exponate, die unter anderem von Jasper Morrison und Max Lamb entworfen wurden, sind fraglos das Beste, was an Design auf dem Messegelände zu sehen war. Es ist wirklich begeisternd, welche Qualität die Entwürfe, bei aller Andersartigkeit, durchgängig besitzen. Eines der Objekte, ein Lesepult für Iwona Blazwick, die Direktorin der Londoner Whitechapel Gallery, stammt vom Designduo Raw Edges, das die Architektur & Wohnen am Sonntag vor Messebeginn als Designer des Jahres auszeichnete. Die kleine Ausstellung ihrer Arbeiten, die während des imm cologne im Hotel 25hours zu sehen ist, illustriert, was der Möbelmesse und den ausstellenden Unternehmen zurzeit ein wenig fehlt: der Mut, wirklich Neues auszuprobieren! Denn wer sich ändernde gesellschaftliche Gewohnheiten immer nur mit zeitlichem Abstand nachvollzieht, dem droht, irgendwann einmal abgehängt zu werden.