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The Glowing Homeless, Pavillion 333, Pinakothek der Moderne, München, 2021 Eine Neonskulptur der Künstlerin Fanny Allié, die sich mit der Unsichtbarkeit und Entmenschlichung von Obdachlosen in München auseinandersetzt.

Es geht uns alle etwas an

Allein in Hamburg leben circa 19.000 Menschen ohne Wohnung. Welche Strukturen bieten Großstädte, um ihnen zu helfen? Und welche Rolle spielt die Architektur in diesem Kontext? Das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg zeigt noch bis zum 12. März 2023 die Ausstellung "Who's Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt". Das Konzept erklärt uns der Kurator Daniel Talesnik im Interview.
09.12.2022

Anna Moldenhauer: Warum haben Sie sich entschieden, die Problematik der Obdachlosigkeit in Form einer Ausstellung in den Fokus zu rücken?

Daniel Talesnik: Die Ausstellung "Who's next" wurde 2021 zuerst im Architekturmuseum der TUM ausgestellt, da Obdachlosigkeit ein Aspekt ist, der zum Feld der Architektur thematisch dazugehört. Obdachlosigkeit gibt es in den meisten Städten der Welt und gerade in der Pandemie hat sich die Dringlichkeit erhöht, hierfür Lösungen zu finden. Wir wollten diesem wichtigen Thema daher Raum geben. Die Frage, die wir uns gestellt haben, war auch, welche Rolle hierbei sowohl den ArchitektInnen wie der Gesellschaft zukommt. Welche Szenarien gibt es, die helfen könnten?

Sie haben gemeinsam mit Ihrem Team acht internationale Metropolen für die Recherche festgelegt, plus zehn deutsche Städte. Nach welchen Kriterien wurden diese ausgewählt?

Daniel Talesnik: Wir haben uns entschieden die Konzepte von acht globalen Städten vorzustellen, die nicht in Europa liegen, da es in diesen "Wohlfahrtsstaaten" ein soziales System gibt, ein Sicherheitsnetz. In den USA existiert das beispielsweise nicht. Die Situation kann dort für die Menschen sehr schnell ernst werden, wenn sie beispielsweise aufgrund von Arbeitslosigkeit ihre Wohnung verlieren. Die acht Metropolen eint zudem, dass sie von Wohlstand geprägt sind und sich in diesen ein starker Kontrast zwischen Arm und Reich zeigt. Wir haben die Entwicklung der ausgewählten Städte über die letzten 13 Jahre nachvollzogen. Für die Recherche waren somit jeweils Teams in den Städten unterwegs, um deren Biografie nach festgelegten Vorgaben zu erkunden. In diesem Kontext geht es um das grundsätzliche Verständnis in unserer Gesellschaft, ob es ein Grundrecht auf eine Wohnung geben sollte. Obdachlosigkeit ist ein globales Problem, aber es ist auch immer lokal. Interessant ist so auch die Ursachenforschung, denn neben einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum kann beispielsweise der Klimawandel zur Obdachlosigkeit führen, wie im brasilianischen Sao Paulo.

Außenansicht des Innenhofs von Holmes Road Studios, einem Wohnprojekt im Londoner Stadtteil Camden, Architekturbüro Peter Barber Architects

Gab es ein Konzept, das Sie besonders beeindruckt hat?

Daniel Talesnik: Viele Konzepte waren beeindruckend, wie eine gemischte Gebäudenutzung für StudentInnen und Obdachlose in Österreich, die auch Werkstätten und ein Café bietet. Eine besonders interessante Erkenntnis war darüber hinaus, dass nicht jede Idee 1:1 auf eine andere Stadt übertragen werden kann. Was in New York City gut funktioniert, greift in Los Angeles zum Beispiel überhaupt nicht. Die Vorstellung der Projekte soll daher mehr der Inspiration dienen. Auch die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Schichten wie die Anzahl der Obdachlosen sind von Stadt zu Stadt sehr verschieden. Ein weiterer Faktor ist die Sichtbarkeit – Obdachlose in Tokio sind viel weniger auffällig als in Moskau. Dass Obdachlosigkeit überhaupt ein Problem sein könnte, ist für die japanische Gesellschaft ein fremder Gedanke. Die Thematik ist somit eng verknüpft mit den jeweiligen Werten und Einstellungen der Gesellschaft. Wer hat ein Recht auf eine Wohnung und wer nicht? Wem sollte geholfen werden, wer verdient es nicht? Zudem geht es darum langfristige Lösungen zu schaffen, nicht nur um das Obdach für eine Nacht. Das sind die Fragen, die den Standpunkt der Architektur betreffen. Statt Schlafsäle für 12 Leute zu planen, ist ein Ansatz kleinere Einheiten zu entwerfen, die Privatsphäre bieten. Das jeweilige Programm bestimmt die Architektur. Mitunter ist für die Projekte auch die Materialität entscheidend: Geht es darum schnell zu bauen und flexible Räume zu schaffen oder um eine Architektur, die am Standort bleibt? Das Ziel ist eine soziale Qualität, räumlich und programmatisch. Eine andere Architekturdimension ist die Zentralität der Unterkünfte in der Stadt, statt diese in die Peripherie auszulagern.

Haben die Teams in den Städten auch mit Obdachlosen sprechen können?

Daniel Talesnik: Gute Frage. Unsere Ausrichtung zielte in erster Linie auf NGOs, auf die Gemeinschaft, auf Hilfsinstitutionen, auf die Dimension der Partizipation. Wir zeigen 19 Architekturbeispiele und sechs Filme, aber kaum Fotografie. Wir wollten nicht das Elend abbilden, da wir die Architekturfrage mehr objektiv als subjektiv verstehen. Die Filme bringen die Dimension der Obdachlosigkeit in den Raum. Zu jedem Projekt geben wir die Information, was das Gebäude die Gemeinschaft gekostet hat, wie viele Leute darin wohnen, ob es temporär oder langfristig ist, et cetera. Das ist quantitativ, dazu kommen qualitative Merkmale. Man sieht, dass es darauf ankommt, dass die Architektur den Bedürfnissen der Menschen entspricht. Wir können mit der Ausstellung kein allgemeingültiges Verständnis für das komplexe Problem der Obdachlosigkeit bieten, aber wir möchten mit ihr einen Weg finden darüber zu sprechen. Wenn man die Schau besucht, muss man mitarbeiten, sich auf das Thema einlassen, lesen, nachdenken. Am Ende haben die BesucherInnen hoffentlich einen besseren Standpunkt zu dem Thema und ein anderes Verständnis. Das Museum für Kunst und Gewerbe liegt zudem direkt am Nordausgang des Hamburger Hauptbahnhofs – in diesem Bereich halten sich jeden Tag viele Obdachlose auf.

Ich finde es sehr interessant, welches große thematische Spektrum Sie den BesucherInnen bieten. Wenn man versteht, wie groß das Problem bereits in der eigenen Stadt ist, ist eventuell auch die globale Dringlichkeit hierfür Lösungen zu finden greifbarer.

Daniel Talesnik: Ja absolut. Wir haben für die Vermittlung unter anderem pro Stadt eine Karte erstellt, auf denen die Möglichkeiten für Obdachlose eingetragen sind, sich mit dem Nötigsten zu versorgen – wie Unterkünfte, Essensausgaben oder öffentliche Toiletten, mobil oder an festen Orten. Wenn man Obdachlosigkeit sichtbar macht, wird die Stadt anders gelesen.

Erstes befristet genehmigtes Zeltlager für Obdachlose, Fulton St. (mit dem Rathaus im Hintergrund), San Francisco, 2020

Sie sind selbst Architekt und lehren auch an Universitäten. Würden Sie sagen, dass das Thema Obdachlosigkeit im Stadtraum in der architektonischen Ausbildung genügend thematisiert wird?

Daniel Talesnik: Eine Ausstellung wie diese bietet hoffentlich auch für StudentInnen der Architektur und Lehrende eine Motivation sich mehr mit dem Thema zu beschäftigen. ArchitektInnen sind nicht die RetterInnen der Obdachlosen, aber ein Teil der architektonischen Praxis sollte der soziale Aspekt sein, um mit Hilfe der Disziplin zur Verbesserung der Situation beizutragen. Obdachlosigkeit und der nachlässige Umgang mit der Thematik ist ein Problem der Gesellschaft in Gänze und geht uns alle an. Daher auch der Titel der Ausstellung, "Who's next?", wer ist der/ die nächste? Jede und jeder von uns kann im Laufe des Lebens von Obdachlosigkeit betroffen sein.


Who's next?
Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt

Bis 12. März 2023

Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg
Steintorplatz
20099 Hamburg

Öffnungszeiten:
Dienstag bis Sonntag: 10 bis 18 Uhr
Donnerstag: 10 bis 21 Uhr


Auszug Rahmenprogramm:

Alternative Stadtrundgänge
11. Dezember 2022
29. Januar 2023
5. März 2023
Jeweils 15 Uhr, Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 5 Euro
Treffpunkt: Haupteingang des MK&G

Ohne Obdach – Öffentlicher Raum als Lebensraum

Workshop des social design lab der Hans Sauer Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Designstudio criticalform und dem MK&G
Gestaltungspotentiale und das Scheitern von Social Design Prozessen in Bezug auf Obdachlosigkeit

Tipp:
Das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt zeigt parallel eine Fotoserie über Obdachlosigkeit in Tokio von Ulrike Myrzik und Manfred Jarisch im Hinz&Kunzt-Haus, Minenstraße 9, 20099 Hamburg

Whos's Next?
Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt

Hrsg. von Daniel Talesnik und Andreas Lepik
ArchiTangle Verlag
48 Euro (im Museum 39,90 Euro)