Kohlenstofffasern, kurz Carbon genannt, sind momentan der Star unter den Hightech-Materialien. Dieser Industriewerkstoff, der oft im Verbund auftritt, zum Beispiel mit Kunststoff verstärkt wirkt, hat den Reiz einer technischen Leichtigkeit und Rasanz wie vor gut einem Jahrhundert das silbergraue Leichtmetall Aluminium. So wie Aluminium mit seinem minimalen Gewicht und seiner Formbarkeit zum ultimativen Material des technischen Fortschritts wurde, und schließlich vom Haushaltsgerät bis zum Dymaxion-Haus eine geradezu rauschhaft beflügelte Moderne symbolisierte, verkörpert nun Carbon alle Attribute von Zukunft und Tempo. Es wird als „Formel 1 Werkstoff" gehandelt. Der Rumpf des neuen Boeing-Fliegers 787, wenn er denn auf den Markt kommt, wird aus Carbon gefertigt sein. Die Karosserie des Porsche Carrera GT besteht schon jetzt aus diesem innovativen Zukunftsmaterial und auch das stromlinienförmige Dach der BMW-Serie M3.
Carbonwerkstoffe vereinigen vor allem zwei Eigenschaften: sie sind sensationell leicht und unvorstellbar stabil. Das macht sie zum perfekten Material für den Automobilbau und die Luft- und Raumfahrt, aber auch für Motorradhelme, Tennisschläger, Speedskates, Racing-Segel oder Fahrradrahmen, die mit dem kleinen Finger angehoben werden könnten. Im Produktdesign steht Carbon mit seiner unheimlichen Leistungsfähigkeit erst noch am Anfang einer glanzvollen Karriere, wobei das Material für größere Stückzahlen im Grunde noch zu teuer und seine nachhaltige Entsorgung auch nicht ganz geklärt scheint. Die ersten Produktinnovationen aus Kohlenstofffasern sind aber schon auf dem Markt, und es werden bald mehr werden.
Genial in Form gebracht haben John Barnard und Terence Woodgate die Qualitäten dieses Industriewerkstoffs mit ihrem wunderschönen Tisch „Surface Table". Barnard ist bereits bekannt als Industriedesigner, Woodgate hat sich als Entwickler und Gestalter von „Formel 1"-Rennwagen einen Namen gemacht: beide zusammen scheinen eine ideale Kombination, um aus dem Hightech-Material einen Alltagsgegenstand zu entwerfen. Ihr Entwurf für das englische Unternehmen Established & Sons wurde in diesem Jahr auf der Mailänder Möbelmesse vorgestellt. Drei Meter lang ist die Carbon-Tafel, und schneidet mit ihrer Gestalt eine schwerlose Sichtachse in den Raum. Die Stärke der Platte misst gerade mal zwei Millimeter und ist damit, wie die Designer sagen, ungefähr fünf Mal so dünn wie bei ähnlich großen Tischkonstruktionen. Dennoch wirkt der Tisch, der nur auf Nachfrage produziert wird, alles andere als fragil und zerbrechlich. Die Hightech-Tafel gibt es entweder in „Walnut Veneer" oder - noch besser - im „Unidirectional Carbon fibre finish".
Mit seinem zukunftweisenden Image hat Carbon bereits eine ganz eigene Ästhetik hervorgebracht. Verehrer wollen die Oberfläche von Carbon mit ihrer charakteristischen, netzartigen Webstruktur dann auch pur und sichtbar haben, und bitte nicht überlackiert, vertuscht und behandelt. In Erinnerung kommt der aus fiberglasverstärktem Polyester gefertigte „DAR" (Dining Armchair Rod) von Charles und Ray Eames. Bei dieser Ikone des Produktdesigns, die im Vergleich zu einem Carbon-Stuhl ein echtes Schwergewicht ist, wurde die Forminnovation damals von dem gleichsam nackt und „natürlich" belassenen Fiberglas-Material begleitet, eine Industrieaura gewagt, die im Umfeld von vertrauten Materialien wie Holz oder Stahlrohr geradezu revolutionär erschien. Heute, wo eigentlich alles möglich und damit nichts mehr verwunderlich ist, schafft solch einen Ästhetiktransfer erstmals wieder Carbon.
An den „DAR"-Stuhl dachten wohl auch die beiden Designer Bertjan Pot und Marcel Wanders bei ihrem Stuhlentwurf. Der für das holländische Unternehmen Moooi, der Hausmarke von Marcel Wanders, gestaltete „Carbon Chair" erscheint mit seinem Fußgestell und der ergonomischen Sitzschale geradezu wie eine Hommage an Charles Eames Fiberglasstuhl von 1948. Das Material wird hier aber nicht mit futuristischer Hightech-Rasanz, sondern wie ein Bruch mit dem Erwarteten inszeniert. Die Sitzschale ist so wild aus den wolldünnen Kohlenstofffasern geflochten, als würden mit dieser kunstvoll chaotischen Webtechnik die Korbobjekte des Egon Eiermann in eine nächste Moderne transportiert. Den Designern kam es darauf an, wie sie sagen, Hightech und Handwerk zu verbinden. Das ist ihnen ästhetisch grandios gelungen. Das matte Tiefschwarz des Stuhls erinnert beim Anblick seiner stumpfen Nichtfarbe an die gute alte Holzkohle.
Das derzeit noch wie ein rarer Diamant unter den Industriematerialien hofierte Carbon inspirierte den Designer Konstantin Grcic zu einer „Limited Edition". Auf zwölf Stück plus zwei Prototypen ist die Edition seiner Chaiselongue namens „Karbon" begrenzt. Die Vorteile des Materials bringt auch dieser zierliche Entwurf, der von der Pariser Galerie Kreo vertreten wird, in eine ungewöhnlich dynamische Form. Motorhauben weich ist die hängematten-artige Liegefläche geschwungen, und wirkt dabei so kantig feingliedrig, als sei sie wie eine Strichzeichnung mal eben im Vorbeigehen in den Raum gemalt worden. Diese ersten „Avantgarde"-Objekte zeigen schon jetzt, zu welch gestalterischen Innovationen Carbon beflügelt und was dieses Material im Produktdesign an neuartigen Formen und Konstruktionen möglich machen kann. Man darf auf die nächsten spektakulären Entwürfe gespannt sein. Das Potenzial steht jedenfalls schon in den Startboxen.