Beobachtungen beim Mailänder Salone Internazionale del Mobile 2008
Vom zart gemusterten Plüsch der späten Jahre bis zum supernormalen Stuhl à la Francfort, von der High-End-Kochinsel im Schlossküchenformat bis zum coolen Pixel-Sofa, und von der weichen Sitznelke aus Stoffschnipseln bis zum bohèmienhaften Goldgrund - in den Zeiten der hybriden Vielfalt gibt es nichts, was es nicht gibt. Und so winden sich tausend Wege durch die Mailänder Saloni des Jahres 2008, nicht aber ein einziger oder gar singulärer. Ein großer blütenreicher Garten der Pfade, die sich verzweigen, das ist Mailand - ein monumentales Treibhaus, in dem bunte Blumen neben soliden Nutzpflanzen gedeihen und Orchideen ihre verführerischen Blüten treiben. Woraus wir den Schluss ziehen: Statt einer Perspektive, die so tun würde, als brächte sie alles unter einen Hut, bieten wir sogleich deren viele an - ein Reigen von Bildern aus den Einrichtungstropen. Wie neu ist das Neue?
Denn schon darüber, welche Neuheiten wirklich neu sind und welche nur up to date, lässt sich trefflich streiten: Ist Jasper Morrisons supernormaler „Basel Chair" für Vitra ein Klon des legendären Frankfurter Stuhls? Ist Tom Dixon mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs in ein neo-bourgeoises Fünfziger-sechziger-Jahre-Kontinuum, wenn er nun blitzblanksilberne „Mirror Balls" unterschiedlicher Dimension als artifiziellen Kugelbaum in den Raum stellt? Schießt Ron Arad mit seiner „do-lo-res" bei Moroso den Vogel ab, weil dieses „Pixelsofa" aus lauter säulenförmigen Modulen unterschiedlicher Höhe konsequent und doch spielerisch die Digitalisierung des Sitzens betreibt? Oder sollen wir uns lieber ans Solide halten und nach den Klassikern von morgen Ausschau halten, etwa nach dem wunderbar leicht wirkenden „LC03" von Maarten van Severen bei Pastoe? Orientalische Grandezza
Ganz sicher gebührt der Lorbeer einer neuen Grandezza Patricia Urquiola. Nicht nur, weil sie in diesem Jahr eine Fülle von Neuheiten für den Innen- und Außenbereich zeigt, in der sich die enorme Spannweite ihrer Ideen offenbart, und nicht nur, weil sie für die Hauptlinie der neuen Kollektion von Moroso verantwortlich zeichnet und gemeinsam mit Martino Berghinz auch den Messestand der Firma gestaltete, sondern weil sie mit „Bohemian" für Moroso die gute alte Sitzgruppe als etwas wiederentdeckt, das sich mittels Decken, Kissen und Fransenteppichen mal so mal so anziehen lässt, wodurch das einst Spießige sich mit einem Mal ins Avantgardistische wendet. Überhaupt ließ sich beobachten, dass die Rückkehr der Muster, die sich seit einigen Jahren vollzogen hat, in einem gediegenen Nomadentum voll orientalischer Einsprengsel und Anspielungen ihre Fortsetzung findet. Wo Edra aber die Reise ins Morgenland sogleich zum Programm erhebt und mit „Sherazade" und „Odalisca" von Francesco Binfarè das Sofa zur Sitzinsel macht, die sich mittels frei platzierbarer Rückenlehnen und orientalisch gemusterten Kissen nach Bedarf herrichten lässt (was Antonio Citterio für B&B ebenfalls, freilich zurückhaltender versucht), geht Patricia Urquiola einen Schritt weiter. Sie versieht die Dinge nicht einfach mit einem exotischen Überzug, sondern formt aus Handwerkstradition, Moderne und dem Reichtum eines globalen Repertoires kultureller Muster eine Synthese. Design boomt
Das zeitgenössische Design und die Firmen, die es produzieren, sparten auch diesmal in Mailand wahrlich nicht an Glamour. Denn: Design boomt. Was sich schon daran ablesen ließ, dass die Messehallen draußen in Rho ebenso aus allen Nähten platzten wie die übrigen Standorte, allen voran die Zona Tortona mit ihrem Zentrum, dem „Superstudio Più", wo Jaime Hayon mit seinem „Jet set" für Bisazza das ultimativ zweckfreie Fluggerät geschaffen hat, ein ironisch-surreales, mit Mosaiksteinchen versehnes Propellermodell mit einem weiß gepolstertem Sofa obenauf. Auch Marcel Wanders ließ - wie viele andere - keinen Zweifel an seinem Hang zu einer gewissen Morbidezza, wenn er mächtige güldene und irgendwie abstrakte Tierschädel über seine mit feinen Schleifen dekorierten Betthäupter hängte. Keine Frage, Mailand war auch diesmal ein Eldorado, und das im wahrsten Sinne des Wortes: Soviel Goldglanz war nie. Und Tom Dixon war dabei noch recht bescheiden, ließ er doch nur goldige Tragetaschen an die Presse verteilen.Das Handwerk nachahmen
Wollte man nach einem Produktionsprinzip fahnden, die in mehr als einem Fall den Prozess des Gestaltens vorantreibt, so lässt sich zumindest eines ausmachen: Das der Nachahmung. Vielleicht wird man ja eines Tages verwundert feststellen, dass man sich auf der Schwelle zur ökologischen Hochtechnologie des 21. Jahrhunderts plötzlich überall alt bewährter Handwerkstechniken erinnerte, freilich technisch auf den neuesten Stand gebracht und für den Massenmarkt eingerichtet, aus innovativen Material und im Aussehen verfremdet. Das ist zwar nicht mehr ganz neu - hat sich aber inzwischen auf breiter Front etabliert. Und so wird geflochten, was das Material hält, es wird gebogen und bestickt, es gibt Fransen und scheinbar opulente Faltenwürfe.
Kartell beispielsweise hält weiterhin an seiner gummibärchenfarbenen Ästhetik fest, doch kommt auch hier der Gestaltung oder Behandlung der Oberfläche zunehmende Bedeutung zu. „Frilly" heißen die Stühle, die Patricia Urquiola für Kartell entworfen hat: Wie aus Zuckermasse gegossen wirkt der Faltenwurf, der Sitzfläche und Lehne überzieht. Deutlicher noch betreibt Yoshioka Tokujins „Ami Ami" die Nachahnung des Handgemachten, wenn er Stuhl und Tisch als Flechtwerk aus Kunststoff präsentiert. Alberto Meda nennt seinen Kunststoff und Aluminium kombinierenden Klappstuhl gleich „Honey Comb", bestehen Sitz und Lehne doch aus einer Bienenwaben gleichenden Struktur.
Im Grunde gehört auch Konstantin Grcics „Myto", zusammen mit der BASF für Plank entwickelt, in diese Reihe. Doch bleibt Grcic, dessen Freischwinger aus einem Guss in seiner endgültigen Form noch einmal schlanker geworden ist und dadurch an Eleganz gewonnen hat, konsequent auf technische Muster hin orientiert. Was er, nicht erst mit dem Myto, nachahmt und transformiert, sind die Prozesse unserer zweiten, industriellen Natur. Das Private im Öffentlichen
Noch etwas breitet sich weiter aus: Das Abschirmen der kleinen privaten Welt vom Getöse der großen Welt. Als solle ein kleiner Schutzraum des Privaten inmitten des Öffentlichen geschaffen werden, streben die Lehnen von Sesseln und Sofas in die Höhe, umfangen sie den Kopf wie eine Kapuze. Auch den Hang zum Hochlehner kennt man schon seit ein paar Jahren - etwa von Jaime Hayon oder den Sofas von e15. In Mailand sind jetzt zahlreiche neue Interpretationen zu bestaunen. War das 2007 bei Vitra vorgestellte Alkoven-Sofas der Bouroullec-Brüder immer schon eine Art der Einhausung und Einbettung, so gibt es das gute Stück nun nicht nur als so genannten „love seat", also als kleinen, zum Kuscheln einladenden Zweisitzer, sondern auch in einer Highback-Version, die nicht nur Liebenden einen Ort und Raum des temporären Rückzugs und der Diskretion schafft. Einen ähnlichen Effekt erzielt auch Patricia Urquiola mit dem Sofa ihrer neuen Serie von Außenmöbeln aus geflochtenen Kunststoffbändern. In den Zeiten der Hybride
Wir leben, das wird immer deutlicher, in den Zeiten der hybriden Möbel, die Altes und Neues ebenso verbinden wie Elemente aus unterschiedlichen Kulturen zu einem zeitgemäßen Amalgam verschmelzen. Der Umgang mit Materialien und deren Verarbeitung wird dabei immer raffinierter und im Ergebnis perfekter - ganz gleich, ob man sich in einer Nelke oder auf einem Pixelsofa, auf einem Kunststofffreischwinger oder auf feinem Maschendraht niederlässt, ob man sich von Naturtönen einhüllen, von Pastelltönen besänftigen oder von den kräftigen Farben des Neo-Pop wachrütteln lassen will.Nun aber wünsche ich viel Vergnügen beim Stöbern in den Bildern aus Mailand.
Im Nomadenzelt der Sheherazade
von Thomas Wagner | 24.04.2008
Mirror Ball von Tom Dixon
Edra
Frilly von Patricia Urquiola für Kartell
Bohemian von Patricia Urquiola für Moroso
Michelangelo Pistoletto
Jet set von Jaime Hayon für Bisazza
Zona Tortona
Heidi von Sebastian Wrong für Established & Sons
Alcove Sofa von Erwan & Ronan Bouroullec für Vitra
Lunar von Konstantin Grcic für Flos
Jet set von Jaime Hayon für Bisazza
Interni - Green Energy Design 2008
Myto Installation von Konstantin Grcic
Tudor von Jamie Hayon für Established & Sons
Matthew Hilton
Giant Rock von Arik Levy bei Green Energy Design 2008
Torch Light von Sylvain Willenz für Established & Sons
Tricot von Dominque Perrault für Poltrona Frau
Canasta von Patricia Urquiola für B&B Italia
Re-trouvé von Patricia Urquiola für Emu
Jean Marie Massaud
Ivy von Paola Navone für Emu
Re-trouvé von Patricia Urquiola für Emu
Myto von Konstantin Grcic für Plank
PO/0810 von Stephen Burks für Cappellini
Honeycomb von Alberto Meda für Kartell
Ami Ami von Tokujin Yoshioka für Kartell
Wingback Chair von Tom Dixon
Stitch von Adam Goodrum für Cappellini
Re-trouvé von Patricia Urquiola für Emu
Myto Installation von Konstantin Grcic
Tropicalia von Patricia Urquiola für Moroso
Bouquet von Tokujin Yoshioka für Moroso
Giant Rock von Arik Levy bei Green Energy Design 2008
Established & Sons
Missoni
Bei Boffi
Glove von Edward Barber & Jay Osgerby für Swedese
Kartell
Papyrus von Ronan & Erwan Bouroullec für Kartell
Moroso
Grcic/BASF Party mit Absolut Wodka
Marimekko & Artek