Den Anfang macht Wladimir Tatlins legendäres, 1919 entworfenes „Monument der Dritten Internationalen". Die berühmteste und zugleich spektakulärste Architektur-Ikone der Zeit, veranschaulicht durch ein (rekonstruiertes) Modell, eine Zeichnung und eine Fotografie des als verschollen geltenden Originalmodells, scheint ein gelungener Auftakt zu sein für eine Schau, die sich unter dem Titel „Baumeister der Revolution" mit „Sowjetischer Kunst und Architektur 1915-1935" beschäftigt. Denn Tatlins Turmbau, der mit einer Höhe von 400 Metern den Eiffelturm überragt hätte und durch drehbar gelagerten Innenräumen eher eine gigantische Maschinerie als ein Bauwerk im klassischen Sinne gewesen wäre, steht gleichsam auf der Grenze zwischen Kunst und Architektur. Er ist zu Recht als vollkommener Ausdruck für die Dynamik der Revolution und als Hymne auf die (vermeintlichen) Möglichkeiten der Konstruktion gelesen worden. Freilich ist er in erster Linie als kühne künstlerische Vision zu begreifen und weniger als konkreter Architektur-Entwurf. Als solcher nämlich war er immer weit weg von jeder Realisierbarkeit – nicht nur, weil die finanziellen Mittel dazu fehlten.
Die architektonisch-konstruktive Utopie des Künstlers Tatlin ist der erste und leider auch letzte Höhepunkt einer Schau, die den behaupteten Zusammenhang zwischen einer bestimmten künstlerischen Strömung – dem Konstruktivismus – und der gebauten Realität in der nachrevolutionären Sowjetunion mit Hilfe von drei Gruppen von Exponaten deutlich zu machen versucht: Erstens Zeugnisse der russischen Avantgarde-Kunst der 1910er und 1920er Jahre in Form von Zeichnungen, Gemälden und Objekten, die aus der Costakis Collection des Staatlichen Museums für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki stammen. Zweitens Vintage-Fotografien von beispielhaften, im Zeitraum zwischen 1922 und 1935 errichteten Gebäuden aus der Sammlung des Staatlichen Architekturmuseums Schusev in Moskau. Drittens Farbaufnahmen des britisch-amerikanischen Architekturfotografen Richard Pare, die in den letzten fünfzehn Jahren entstanden und den heutigen, fast durchweg beklagenswerten Zustand eben dieser Bauten dokumentieren. Während die künstlerischen Arbeiten in der gesamten Schau präsent sind und so quasi den Hintergrund für den architektonischen Teil abgeben, werden die Bauprojekte nach typologischen Gesichtspunkten geordnet gezeigt.
Dass die Kunst des Konstruktivismus, die im Martin-Gropius-Bau mit prominenten Namen wie Alexander Rodschenko, El Lissitzky, Ljubow Popowa und anderen mehr vertreten ist, eine deutlich architektonische Note besitzt, erklärt sich durch die vorwiegende Nutzung eines geometrisch bestimmten Formenvokabulars. Sie kommt auch bereits in der Betitelung vieler Arbeiten – etwa „Malerische Architektonik", „Dreidimensionale Konstruktion" oder „Raum-Kraft-Konstruktion" – zum Ausdruck. Worin nun aber im konkreten Fall der Zusammenhang zwischen dem genuin künstlerischem Schaffen einerseits und den gezeigten Bauwerken andererseits besteht, bleibt – jenseits offensichtlicher formaler Analogien – im Ungewissen.
Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen – schon wegen ihrer teilweise großen Formate – die Aufnahmen von Pare. Sie zeigen mal einschlägig bekannte, mal eher unbekannten Bauten der Epoche, die in ihrer Entstehungszeit oft als Symbole des Fortschritts und der Hoffnung auf ein neues, besseres Leben verstanden wurden, im heutigen Russland aber offensichtlich keine Wertschätzung mehr finden. Pares Fotografien, entstanden auf zahlreichen Reisen, die ihn auch in die entlegenen Winkel des Riesenlandes führten, beeindrucken durch ihre Vielfalt und Fülle. Manchmal überraschen sie mit ungewöhnlichen Perspektiven. Mitunter überzeugen sie durch atmosphärische Dichte und Sensibilität für Details. Insgesamt betrachtet aber erscheinen sie, trotz ihres dokumentarischen Anspruchs, in der Auswahl der Motive und Sichtweisen oft merkwürdig willkürlich – gerade so, als hoffte Pare durch gesuchte Subjektivität ihren künstlerischen Wert zu steigern. Das ist selten genug gelungen. Schwerer wiegt, dass es aufgrund der gezeigten Aufnahmen praktisch in keinem Fall möglich ist, sich ein einigermaßen vollständiges Bild der vorgestellten Projekte zu machen – auch nicht mit Hilfe der parallel gezeigten Vintage-Aufnahmen. Das liegt wesentlich an der Beschränkung auf das Medium der Fotografie, das für die Präsentation von Architektur zwar einen eminent wichtigen, aber nie hinreichenden Beitrag leistet. Die Qualität und Originalität einer architektonischen Lösung erschließt sich eben nicht allein durchs Abbild. Ohne Grundrisse und Schnitte, auf die man in der Ausstellung aus unerfindlichen Gründen grundsätzlich verzichtet hat, lässt sich die Struktur eines Gebäudes nicht erfassen. Und ohne deren Kenntnis kann man die Gestaltung einer Fassade nicht wirklich verstehen und würdigen. So einfach ist das.
Baumeister der Revolution
Von 5. April bis 9. Juli 2012
Martin-Gropius-Bau, Berlin
www.berlinerfestspiele.de
Zum Weiterlesen:
Baumeister der Revolution
Von Jean-Louis Cohen, Maria Tsantsanoglou, Christina Lodder und Maria Ametow
Hardcover, 272 Seiten, deutsch
Mehring Verlag, Essen, 2011
39,90 Euro
www.mehring-verlag.de