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Hoffnung aus der Heidelberg Street
von Nora Sobich | 03.09.2011

In den letzten zehn Jahren haben allein 200.000 Menschen Detroit verlassen, so jetzt im Frühjahr die erschreckende Statistik des amerikanischen „Census Bureau". Auf einer Fläche so groß wie Boston, Manhattan und San Francisco zusammen, leben nur noch 700.000 Menschen; in den Boomzeiten waren es zwei Millionen. Detroit, das in vielen Gegenden entvölkert aussieht, als wären gleich mehrere Hurrikans nacheinander darüber hinweggefegt, macht neuerdings aber nicht nur als Spitzenreiter der „Shrinking Cities" von sich Reden, sondern auch als „up-and-coming Art City". „Kreative verstehen Detroit jetzt als ‚leere Leinwand'", meint Eric Novack, Manager der gigantischen Fabrikanlage „Russel Industrial Center", die Loft und Locations an Künstler, Musiker und Filmleute vermietet. Der populär gewordene Begriff „empty canvas" ist jedoch umstritten. Denn Detroit ist eben immer noch eine Großstadt, auch wenn sie im Vorbeifahren geisterhaft wirkt.

Der chilenisch-amerikanische Fotograf und Soziologe Camile José Vergara war Ende der neunziger Jahre einer der Ersten, der mit seiner Fotodokumentation „American Ruins" einen nationalen Dialog über das architektonische Erbe von Amerikas Ghettos und Geisterstädten angeregt hat. Seine Arbeiten waren auch der Versuch, urbane Ruinen anders zu sehen, nämlich als einen Wert an sich. Inzwischen hat sich für solche Dokumentationen der Begriff „ruin porn", auf deutsch „Ruinenporno", etabliert, wobei der Vorwurf, bei einer solch voyeuristischen Ästhetisierung würden soziale Missstände außer Acht gelassen, nicht ausbleibt. Wie der Verfall zelebriert wird, zeigen beispielhaft zwei kürzlich erschienene Bildbände.

Für „The Ruins of Detroit" nahmen die französischen Fotografen Yves Marchand und Romain Meffre Detroits verlorene Grandezza auf: verfallene Theaterhäuser, Geschäftsbauten, Fabriken. Der andere Band nennt sich „Detroit Disassembled", enthält Fotografien von Andrew Moore und lässt die stillgelegte Stadt wie ein Hochglanz-Pompeji der Neuzeit wirken.

Die Begriffe „empty canvas" und „ruin porn" sind, bei aller Kritik, die sie enthalten, charakteristisch. Der unfassbare Untergang dieser quintessentiellen amerikanischen Stadt, die in der erster Hälfte des letzten Jahrhunderts noch das wirtschaftliche Herz Amerikas und der größte Industriestandort der Welt war, hat in seiner Gewaltigkeit eben auch etwas verboten Erotisches. Jedenfalls scheint Detroits atemberaubende Visualität vielen mittlerweile einen Kick zu geben. Das ist mehr als „Geisterbahn", das ist fast schon ein Lebensgefühl sich relativierender Übergänge.

In der sechsstündigen Live-Performance „Ancient Evening", die letzten Herbst der New Yorker Künstlerstar Matthew Barney vor Detroits historischer Kulisse aufgeführt hat, war die epische, völlig vergessene Geschichte dieser Stadt einer der tragenden Hauptdarsteller. Auch der Begriff „leere Leinwand" trifft die Sache insofern gut, als diese außer Kontrolle geratene „Rustbelt City", also die Stadt mit dem „rostenden" Umland, wie kaum eine andere enorme Freiräume bietet. Manche sprechen schon vom „Wilden Westen", einem neuen urbanen Niemandsland Amerikas. So braucht es nicht viel, um in Detroit etwas in Bewegung zu setzen.

Vorreiter für eine Kunst, die inzwischen als „New Detroit Style" bekannt ist, war Mitte der achtziger Jahre Tyree Guyton und sein Projekt „Heidelberg Street". Seit über dreißig Jahren verwandelt Guyton Verfallenes in bunt umgebaute Märchen- und Hexenhäuser, in einen fantastischen, menschlicheren Stadtraum. Guyton selbst war in der Heidelberg Street aufgewachsen und hatte den sozialen und ökonomischen Verfall hautnah miterlebt: die Rassenunruhen 1967 mit über vierzig Toten, 2.000 Verletzen und komplett zerstörten Stadtteilen; die beiden Ölkrisen in den siebziger Jahren, als im Grunde schon klar war, dass sich Detroits Autoindustrie nicht wieder vollständig erholen würde; den Wegzug der weißen Mittelschicht, die heute wie in einer Festung jenseits der „Eight Mile Road" lebt.

Seitdem hat es zwar immer wieder Versuche gegeben, die von räumlicher Apartheid gezeichnete Stadt wiederzubeleben, doch ohne Erfolg. In Folge der jüngsten Wirtschaftskrise - dem Platzen der Immobilienblase, für die Detroit eines der Zentren war, und dem abermaligen Einbruch der Autoindustrie mit über 400.000 verlorenen Jobs allein im Bundesstaat Michigan – ist die Stadt als Symbol für harte Arbeit und Durchhaltevermögen inzwischen sogar wieder hoffähig geworden. Jedenfalls ist die Aufmerksamkeit für dieses dramatische Stadtschicksal gewachsen. Detroit erscheint plötzlich auch als Stadt neuer Möglichkeiten.

So gedeiht, als hätte man in einem Lehrbuch für „Shrinking Cities" nachgelesen, eine Art urbaner Miniatur-Goldrausch. Künstler, „Urban Explorers" und Stadtarchäologen fühlen sich angezogen, weil hier die Lebenshaltungskosten ebenso niedrig sind wie die bürokratischen Hürden. Der durchschnittliche Häuserpreis lag 2010 bei gerade einmal 7.100 Dollar. Wenn man Glück hat, bekommt man schon für 100 Dollar ein sogenanntes Forclosure House, ein „verpfändetes Haus" und gleich gegenüber noch ein leer stehendes Grundstück als Garten hinzu. Die Stadt schreit förmlich danach, die entstandenen Lücken im zerfledderten Stadtraum zu schließen.

Einer der jungen Detroiter Urban Pioniers ist Phil Cooley, Mitte dreißig, Filmemacher und ehemaliges Model. Seit sechs Jahren betreibt Cooley das im urbanen Recyclingstil selbst renovierte „Hipster"-Restaurant „Slows Bar-BQ", das auf bezahlbare amerikanische Küche setzt und jeden Tag bis auf den letzten Platz gefüllt ist. „Slows Bar-BQ" liegt direkt gegenüber dem Ende der achtziger Jahren außer Betrieb genommenen „Michigan Central Station", der achtzehnstöckigen Grande Dame der „ruin porn"-Babes. Cooleys Immobilienfirma besitzt inzwischen auch vier Nachbarbauten von „Slows Bar-BQ". Ein Kaffeehaus hat hier bereits eröffnet, eine Cocktailbar ist geplant, ebenso ein Karaoke-Klub und ein Gebäude, das Atelierhaus und öffentliches Kunstcenter werden soll.

„Was gibt es Besseres?" fragt der 28 Jahre alte Grafikdesigner Philip Lauri, der das Kulturlabel „Detroit Lives!" betreibt und riesengroße Wandgemälde in der Stadt malt, „als eine der einflussreichsten amerikanischen Städte neu zu erfinden?" Die ins Rollen geratene Transformation nennt die „Cranbrook"-Kunststudentin Kate Daughdrill „unglaublich aufregend". Mit „Soup" organisiert Daughdrill eine Art „get-together" für kreative Detroit-Aktivisten, bei denen das Eintrittsgeld in Parkrenovierungen oder mobile Kochstationen fließt. Als „Creative Community" veranstaltet die Nonprofit-Organisation „555" öffentliche Kunstaktionen. Zudem werden alte Gebäude aufgekauft und in Ateliers umgebaut, wie gerade erst eine alte Zigarrenfabrik und eine ehemalige Polizeistation.

Die Kreativität, deren Energie manche schon mit der im Berlin der Nachwendezeit vergleichen, erklärt Rebecca Hart, Kuratorin für zeitgenössische Kunst im „Detroit Institute of Arts", mit dem Engagement von Stiftungen wie „The Kresge Foundation", die den Kreativboom inzwischen mit mehreren Millionen Dollar unterstützt. Auch die gute Vernetzung der Detroiter Kunsthochschulen spiele eine Rolle, so Hart. Eine der zentralen Figuren ist hier Dan Pitera, Direktor des Detroit Collaborative Design Center der Mercy Universität. Bei dem „Change"den Veränderungen, so Pitera, gelte es vor allem den alteingesessenen Bewohnern zu beweisen, dass sich selbst eine Stadt wie Detroit verändern lässt.

Pate aller Projekte ist nach wie vor Tyree Guytons „Heidelberg Project" – beispielhaft für ein Kunstverständnis, das einen direkten Bezug zum Ort hat und gemeinsam mit Nachbarschaftsorganisationen und den so genannten Grassroots-Bewegungen der Stadt agiert. Dabei scheint es vor allem auch um neue Sichtweisen zu gehen: wie bei der „Imagination Station", einem Häuserprojekt der alternativen Immobilienfirma „Loveland AG" des 29 Jahre alten Jerry Paffendorf, der 2009 nach Detroit kam und zuvor in New York und San Francisco bei verschiedenen Start-ups gearbeitet hat. Das Detroiter Künstlerpaar Mitch Cope und Gina Reichert sammelte letzten Herbst mit dem Kunstmagazin „Juxtapoz" aus San Francisco 180.000 Dollar, mit denen verschiedene Künstler in Detroit-Hamtramck ein halbes Dutzend leerstehender Häuser in seltsam surreale Häuserkunst verwandelten.

Ein wichtige Rolle bei der Transformation spielen auch „Urban Farming" und „Community Gardening", die sich für Detroit mit seinen Brachflächen geradezu anbieten. Über tausend Kleingärten und innerstädtische Farmbetriebe gibt es bereits. Ein Detroiter Millionär, John Hantz, plant mit zwanzig Millionen Dollar hier nun die größte Urban Farm der Welt aufzubauen. Detroits endlos weiter Stadtraum, wo die Natur wieder stärker sichtbar wird, erscheint wie ein perfektes Laboratorium für neue Umgänge mit urbanem Raum. Hybridformen sind bereits vorstellbar – lose arrangierte Viertel, Cluster kleiner Dorfgemeinschaften in einer grünen Umgebung.

Lange hat man in Detroit unter „Urban Renewal" nur den wahllosen Abriss solider Bausubstanz und alter Industriedenkmäler verstanden. Mit Detroits neuem Bürgermeister Dave Bing, ehemals Basketballstar und Unternehmer, hat man jetzt beschlossen, die Stadt sich gesund schrumpfen zu lassen. Umgestaltung ist das zentrale Wort der Initiative „Detroit Works Project", die mit Toni Griffin, Professorin für Stadtplanung in Harvard, an neuen Strukturen arbeitet. Um Stadtviertel zu verdichten und öffentliche Versorgung – Polizei, Feuerwehr und Beleuchtung – komplett einzusparen, sollen tausende Häuser abgerissen werden. Wie das konkret funktionieren kann, ist aber noch fraglich.

Zurückhaltend wirkt auch Luis Croquer, Direktor des „Museum of Contemporary Art Detroit", mit dem die knospende Kunstszene seit einigen Jahren eine feste Institution hat. Als idealistisch bezeichnet Croquer die Vorstellung, dass eine Stadt allein dadurch ein besserer Ort werden könne, weil sich viele Künstler in ihr niederlassen. Detroit sei zwar billig, so Croquer, doch gebe es kaum Galerien. Auch das Angebot an Nebenjobs sei gering; fast die Hälfte der Bewohner lebe unterhalb der Armutsgrenze. Es sei abzuwarten, so Croquer, wie viele Kreative am Ende tatsächlich blieben. Detroit ist in Amerika, das mit strauchelnden Industriestädten übersät ist, zudem nicht die einzige Stadt, die auf einen Aufbruch durch Kreativwirtschaft setzt. Stadterneuerung in die Hände von Künstlern und Urban Explorern zu legen, ist schon in vielen Städten probiert worden – mit mehr oder weniger großem Erfolg. Interessant findet Luis Croquer an dem „Change", dass sich in extremen Situationen Leute vereinen. Nach dem Crash habe eine Art Erweckungserlebnis stattgefunden, glaubt er. Und dass nun in Detroit die Lösung für die Zukunft aus der Gemeinschaft selbst entstehen könnte, so Croquer, sei eine radikale Sache für ein Land wie die Vereinigten Staaten, das immer für Modernismus und Individualismus stand.

Sicher ist: Im Unterschied zu Detroits bisherigen Versuchen, ist der aktuelle nicht verordnet, sondern kommt von „unten". Die Energie zur Veränderung beschränkt sich, anderes als früher, nicht nur auf einzelne Projekte wie die Wiederbelebung der „Riverfront", die Neuerfindung von „Greek Town" oder die Errichtung von Casinos und zwei neuen Sportstadien in Downtown Detroit. Der Aufbruch hat einen spontanen und dezentralen Charakter. Dennoch applaudieren beileibe nicht alle. Es ist in Detroit sogar schon eine Gentrifizierungsdebatte in Gang gekommen, wobei es in manchen Vierteln schon als Gentrifizierung gilt, wenn man zu oft die Polizei ruft.

Zufall oder Schicksal mag es sein, dass der Wandel in einer Zeit passiert, in der einiges zusammenkommt: ein von der Krise ausgelöster Überdruss am „Corporate America", der alternative Lebensformen wieder attraktiv gemacht hat, sowie die Do-it-yourself-Bewegung, die in Amerika schon zu so etwas wie einem „kulturellem Moment" geworden ist. Über Internet und Plattformen wie „Etsy" lässt es sich mittlerweile überall kreativ sein. Und Detroit, wo es sozusagen an allem fehlt, einem funktionierenden Bildungs- und einem öffentlichen Verkehrssystem, wo sich die alltägliche Lebensmittelversorgung oft auf so genannte „Liquor- und Partystores" beschränkt, ist für Selbstversorger ein Eldorado. Handwerkliches Talent ist dieser Stadt, die eben nicht Paris oder New York ist, Grundvoraussetzung.

Der Weg hin zu einer lebbaren, sozialen und urbanen Balance ist zwar noch lang. Auch ist noch völlig offen, ob urbane Landwirtschaft und grüner Do-it-yourself-Traum überhaupt ansatzweise die für eine Großstadt nötige Dynamik entfalten können. Außer Frage aber steht, dass Detroit schon jetzt einer der spannendsten Stadträume Amerikas ist. Kein Wunder also, dass auch David Byrne Feuer fing, als er dort im letzten Jahr für den Film „This Must Be The Place" einen alten Talking-Heads-Song einspielte. Die Himmel über Detroit, so Byrne, seien größer als die über New York.

Wandbild von Kobie Solomon am Russell Industrial Center, Foto: Nora Sobich
Detroit im Winter, Foto: Nora Sobich
Altes Auto als Relikt einer vergangener Zeit, Foto: Nora Sobich
Verfallene Villa, aus dem Buch „The Ruins of Detroit“, Foto: Yves Marchand und Romain Meffre
Das Projekt “The Imagination Station” macht aus diesen verlassenen Häusern einen kreativen Campus in Detroit
Musikraum mit zerstörtem Piano, aus dem Buch „The Ruins of Detroit“, Foto: Yves Marchand und Romain Meffre
Titel des Buchs „The Ruins of Detroit“, herausgegeben vom Steidl Verlag
Projekt „Heidelberg Street“, Quelle: Michelle Figurski
Verkaufsstand im Russel Industrial Center
„The people`s festival” im Russel Industrial Center
Heidelberg Street, Party Animal House, Copyright: Heidelberg Archives
Graffiti „Detroit lives!” in einem alten Bahnhof
Jerry von „Detroit lives!”, Foto: Vanessa Miller
„Business of the future to be dangerous” von Detroit lives
„Heidelberg Street“ von Tyree Guyton
„Salvaged Landscape” von Catie Newell
„Art in a living context“, Foto: Nora Sobich
Gemalte Silhouette einer Frau, Foto: Nora Sobich
Glasfassade mit herausgebrochenen Scheiben, Foto: Nora Sobich
Blick aus verfallenem Haus, aus dem Buch „The Ruins of Detroit“, Foto: Yves Marchand und Romain Meffre
Zerstörter Bühnenraum, aus dem Buch „The Ruins of Detroit“, Foto: Yves Marchand und Romain Meffre
Alte Bibliothek, aus dem Buch „The Ruins of Detroit“, Foto: Yves Marchand und Romain Meffre
Wandmalerei der Initiative „Detroit lives“
Graffiti beim Russel Industrial Center
Großflächig mit Farbe bemalte Gebäudewand der Northend Studios
In den Northend Studios
Heidelberg Street, New White House, Copyright: Michelle Figurski
Heidelberg Street, The Obstruction of Justice “OJ” House, Copyright: Michelle Figurski
„We Kahn do it!” von Detroit lives
Poster „Detroit lives!” , Foto: Vanessa Miller
„Detroit Lives“ von Johnny Knoxvilles
„Paint A Burnt House” von Marianne Audrey Burrows
Detroit Riverfront, Gabriel Richard Park, Foto: JJR