Erstens: Der Untergrund
Denkt man an Bogotá als neuerdings blühende Metropole und auch als Zentrum für Design, so scheinen doch zuerst die komplizierten Bedingungen dieser Stadt auf. Denn Bogotá galt für Jahrzehnte nicht unberechtigt als eine der gefährlichsten Städte auf diesem Globus: Brutale Militär-Regierung, grausamer Drogenhandel (an dem gewiss auch etliche der heute einfach nur noch Reichen ihr Vermögen erworben haben), eine linke Guerilla, die FARC, einst relativ einflussreich, dann zunehmend partialisiert und im Drogenhandel kriminalisiert, dazu auch noch diverse rechte Guerilla-Gruppen, kaum unterscheidbar von den vielen zusätzlichen kriminellen Banden. Alles dies zerstörte jegliche Lebendigkeit und ruinierte zugleich Ökonomie und Investitionsbereitschaft in Kolumbien und rabiat auch in dessen Hauptstadt Bogotá.
Noch Ende der 1990er Jahre war es für Kinder reicher Eltern in dieser Stadt selbstverständlich, dass sie einzeln in gepanzerten Fahrzeugen – begleitet von zwei Bewaffneten – zur Schule gefahren und später von dieser wieder abgeholt wurden.
Bis heute strahlt aus nahezu allen Informationen über Bogotá, die man im Internet findet, solche Gefährdung durch fortwährende Kriminalität und erhält man diverse Angaben darüber, wie man sich schützen kann und wo man achtsam sein muss: Beispielsweise bei Dunkelheit niemals auf dem Bürgersteig, sondern auf der Straße gehen, da Hauseingänge bedrohlich sind, oder unbedingt nur Taxis nehmen, die seitens einer offiziellen Instanz bestellt wurden.
Zweitens: Die Gegenwart
So. Und jetzt booming Bogotá. Gewiss, Reste jener Gefahren sind überall noch zu erkennen. Alle öffentlichen Gebäude und Hotels, zum Beispiel werden durch bewaffnete Sicherheitskräfte bewacht, zusätzlich begleitet von einem auf Sprengstoff-Schnüffeln spezialisierten Hund. Weiterhin gelten offenbar einige der Warnungen und Verhaltens-Anleitungen insbesondere bezüglich der Taxis. Idealtypisch notiert man sich beim Einsteigen das Kennzeichen und gibt es, wenn man sitzt, hörbar für den Fahrer per Telefon an einen Freund durch, und sollte nach dem Einsteigen der Fahrer sein Mobiltelefon benutzen, sollte man versuchen, sofort auszusteigen, denn sonst droht wohl immer noch jene berüchtigte Kurzzeit-Entführung: Irgendwann hält das Auto überraschend, steigen zwei Freunde des Fahrers ein und halten einen so lange fest, bis alle Konten leer geräumt sind.
Bewegt man sich jedoch heutzutage in jenen angesagten Quartieren der Stadt, dann wirkt alles das wie ein Mythos aus vergangener Zeit. Außer den schnüffelnden Hunden und bewaffneten Sicherheitskräften verheißt überhaupt nichts irgendeine Gefahr. Vielmehr „business as usual“, und das auf bestem Niveau.
So hat sich seit 2006 die Zahl der Start-ups verzehnfacht, finden diverse Kongresse statt und hat neuerdings die „Lufthansa“ Bogotá als zentralen Flughafen für Lateinamerika erkoren – was übrigens sehr plausibel ist, denn angesichts der Höhenlage dieser Stadt spart man bei Start und Landung etwa 25 Prozent Energie und auch Zeit.
Die Stadt wirkt zweifellos sehr lebendig, in der Geste und womöglich in der Wirklichkeit von Aufbruch. Ein weiteres Symbol dafür ist jener besondere schnelle Bus-Transfer: Da in Bogotá weder Straßenbahn noch U-Bahn existieren (in ganz Kolumbien übrigens keine Eisenbahn), wurden gesonderte Fahrspuren, teilweise sogar auf völlig anderen Wegen als die anderen Straßen, für sehr schnelle Busse eingerichtet. Tatsächlich bewegen sich diese Busse dort wie auf Schienen und sind wirklich sehr schnell und beliebt beim Publikum.
Gründe für diese neue Dynamik von Bogotá finden sich mehrfach. Zum einen ist die Wirtschaft in einigen Ländern Lateinamerikas, die einst führend waren, instabil geworden. Das betrifft insbesondere Argentinien, aber ebenfalls Brasilien und Venezuela. So verlagern einige Unternehmen ihre Standorte nun von Caracas nach Bogotá. Zudem liegt Kolumbien geographisch recht günstig, nämlich umrahmt von Panama, Venezuela, Brasilien, Peru und Ecuador. Hinzu kommt, dass in Kolumbien schon traditionell eine vorzügliche Ausbildungsituation existiert, mit sehr vielen Universitäten und davon etlichen in der Hauptstadt Bogotá. Noch vor einigen Jahren gingen die hervorragend ausgebildeten jungen Menschen ins Ausland, nach Spanien, in die Vereinigten Staaten und in Nachbarländer von Kolumbien. Jetzt bleiben sie vor Ort oder kommen sogar zurück.
Ein dritter Aspekt betrifft die eigenartige Besonderheit der Ökonomie von Bogotá und teilweise sogar Kolumbiens insgesamt. In diesem Land wird nicht sehr viel produziert. Klar, einige Agrarprodukte wie Kaffee und Rosen, einige seltene Mineralien, aber sonst: Dienstleistungen. Tatsächlich besteht die Ökonomie von Bogotá, immerhin eine Acht-Millionen-Stadt, zu 90 Prozent aus Dienstleistungsunternehmen. Insbesondere im Finanzsektor (neben Banken gibt es sehr viele private Finanzdienstleister) und ansonsten im Bereich Handel, Planung, Forschung und Tourismus. Apropos Tourismus: Ein deutliches Zeichen für diese neue ökonomische Dynamik findet sich in der Tatsache, dass noch vor wenigen Jahren in Bogotá zu viele Hotels existierten, also das Übernachtungsangebot viel zu groß war, und etliche Hotels geschlossen wurden, während nun gerade diverse neue Hotels, auch Luxushotels, gebaut werden.
Drittens: Der Service
Der Dienstleistungssektor ist also der hauptsächliche Wirtschaftsfaktor dieser Stadt und partiell auch insgesamt der Nation Kolumbien. Das führt zum Design – und der Anlass dieses Berichts ist ja eine große eintägige Konferenz zu Service Design, veranstaltet von der Handelskammer Bogotá. Das wirkt angesichts der Stärke der Service-Industrie verständlich, demonstriert jedoch zugleich eine große Kompetenz und ein engagiertes Wissen der Veranstalter über diese so relevante Form von Design.
Kurz einige Anmerkungen zu Service Design: Als vor mehr als 25 Jahren jemand in der Design-Kommission der Europäischen Union (so etwas existierte einst) dafür plädierte, einen europäischen Preis für Service Design zu vergeben, wurde er von vielen internationalen Design-Verbänden heftig angegriffen. Service Design nämlich sei völlig unsinnig. Als derselbe einige Jahre später den Kölner Fachbereich Design (heute „Köln International School of Design/KISD“) gründete und dafür auch eine Professur für Service Design ausschreiben ließ, lachten die meisten im deutschen Design immer noch und bekämpften ihn für solchen Quatsch. Und tatsächlich war es schwer, für diese Professur zu jener Zeit eine geeignete Person zu finden.
Dies gelang nach einiger Zeit doch und Birgit Mager entwickelte seit ihrer Berufung auf diese Professur das Verständnis um diesen Bereich von Design und baute es gemeinsam mit anderen zu einem der wichtigsten Arbeits- und Forschungsfelder im Design auf und aus. Was völlig plausibel ist angesichts etwa der Tatsache, dass in entwickelten Volkswirtschaften etwa 60 bis 70 Prozent des Bruttosozialproduktes durch Dienstleistungen erbracht werden und diese selbstverständlich gestaltet werden müssen. Insbesondere angesichts globaler ökologischer Probleme ist die Transformation von Produkten in Dienstleistung („sharing“ in all seinen unterschiedlichen Dimensionen) äußerst sinnvoll und man ohnehin inzwischen verstehen muss, wie sehr die meisten Produkte im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben als Dienstleistungen fungieren, was dann ebenso für die entsprechenden, diese Güter produzierenden Unternehmen gilt.
Service Design gibt es also nun auch in Bogotá, und das mit enormem Erfolg. Immerhin kamen zu dieser Konferenz mehr als 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in die Handelskammer, weitgehend Vertreterinnen und Vertreter von Unternehmen, und hier wiederum überwiegend aus dem Bereich der Finanzwirtschaft – und seltsamerweise, merkwürdig zumindest für Auswärtige, waren auch etliche Vertreter der Armee anwesend, die sich in Kolumbien offensichtlich zumindest partiell zum Bereich „Service“ zählt.
Viertens: Die Konferenz
Die Konferenz selber bot tatsächlich sehr gute Einsichten und Perspektiven von Service Design und erläuterte recht genau und an vielfältigen Beispielen dessen Relevanz, zumal für Kolumbien.
Zuerst sprach jemand, der diese Kategorie schon vor über 25 Jahren publiziert hatte. Er erörterte die Genese und die Gründe für Service Design – unter anderem an dem durchaus einleuchtenden Beispiel von Kleidung: Denn diese funktioniert sowohl als Schutz (gegen Regen oder Sonne und auch gegen unerwünschte Einblicke), als auch dafür, sich wohlzufühlen und eine eigene Haltung zu finden, und zusätzlich als Mitteilung an die anderen Menschen, wer man sei und wie man wahrgenommen werden möchte. Mithin steckt in ein und demselben Produkt gleichermaßen Produkt-, Kommunikations- und Service-Design, da Mode insgesamt eine Dienstleistung für die Menschen bietet.
Sodann ein Vortrag von Dean Crutchfield, der in den Vereinigten Staaten eine Agentur für Innovation und Unternehmens-Beratung betreibt. Er erläuterte an etlichen Beispielen – wenn auch sehr marketing-fokussiert –, wie wichtig Service Design für das „business“ in allen Unternehmensbereichen ist. Ergänzt und erweitert wurde dies durch Jorge Rodriguez, einen ursprünglich aus Bogotá stammenden, derzeit aber vor allem in Barcelona und anderen europäischen Orten tätigen Unternehmensberater: Er diskutierte Innovationen der Dienstleistungen aus der Perspektive von Design mit dem für Bogotá gewiss sehr wichtigen Hinweis, jedes Unternehmen müsse sich ständig als Start-up begreifen und sich demgemäß permanent neu darstellen und innovativ arbeiten.
Danach formulierte Uta Brandes die Relevanz des Gender-Diskurses im Rahmen von Dienstleistung und Service Design. Sie tat dies am Beispiel ihrer publizierten Studie über weibliche Geschäftsreisende und deren spezifische Anforderungen an eine service-orientierte Hotelkultur. Anschließend folgte ein mit vielen Fallbeispielen illustrierter Beitrag der global agierenden und unter anderem in Madrid ansässigen und in Bogotá schon recht aktiven strategischen Designfirma „Designit“. Am Nachmittag schlossen sich diverse sehr gut besuchte Workshops zu einzelnen Aspekten des Service Design an, und eine kleinere spezielle Beratungsrunde für einige ausgewählte Unternehmen in englischer Sprache. Hier wurde, wie insgesamt in der Konferenz, das enorme Interesse, die große Aufmerksamkeit und Intensität der Anwesenden sehr deutlich. Man spürte einfach, wie derzeit der Wunsch nach Qualifizierung und Möglichkeiten der praktischen Umsetzung entsprechender Konzepte in dieser Stadt bei den Unternehmen, offensichtlich aber auch insgesamt, sich bemerkbar machen.
Fünftens: Die Perspektiven
In Gesprächen mit einigen derer, die das alles organisiert haben – insbesondere Manuel José Moreno als Direktor für Innovation an der Handelskammer Bogotá und Diana Gaviria als Direktorin der kooperierenden Institution „Connect“ sowie mit dem jungen Designer Juan Sebastian Lopez – kam immer wieder zur Sprache, wie ernsthaft und wichtig Design in Bogotá genommen und diskutiert wird und wie sehr man sich um ein allgemeines Verständnis und dessen praktische Umsetzung bemüht. Es wurden aber auch erstaunlich kritische Töne gegenüber dem eigenen Land angeschlagen, das gesellschaftlich noch sehr disparate Entwicklungsgeschwindigkeiten aufwiese. Selber bezichtigt man sich dort, in vielen Aspekten noch provinziell zu sein (dazu gehört übrigens auch, dass die englische Sprache in Kolumbien noch nicht sehr verbreitet ist). Bestimmte Prozesse vor allem des sozialen Zusammenlebens entwickeln sich, wie das in der Empirie so häufig geschieht, sehr langsam, andere, insbesondere in wirtschaftlichen Kontexten, haben eine enorme Geschwindigkeit erreicht. Nun geht es darum, in Kolumbien – und auch speziell in Bogotá – die Zukunft zu gestalten. Soweit dies und nicht zuletzt mithilfe von Design möglich ist. Es lohnt, Kolumbien weiterhin aufmerksam zu beobachten.