Jean Paul Gaultier, fotografiert von Jean-Paul Goude, machte das Breton-Ringelshirt salonfähig. Foto © Jean-Paul Goude
Hello, welcome, I am Jean Paul Gaultier
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Von Annette Tietenberg 27.01.2016 Im September 2014 kündigte Jean Paul Gaultier das Ende der Ära seiner Prêt-à-porter-Kollektionen an. Er wolle sich, so ließ er wissen, von nun an ganz auf Haute-Couture und wenige ausgewählte Projekte konzentrieren. War es purer Zufall, dass er diese Entscheidung just in jenem Moment traf, als seine Retrospektive um die Welt tourte und Furore machte? Die Ausstellung Jean Paul Gaultier. From the Sidewalk to the Catwalk wurde 2011 vom Musée des beaux-arts de Montréal initiiert und realisiert. In den darauf folgenden Jahren zog sie im Dallas Museum of Art, im Young Museum San Francisco, in der Fundación Mapfre in Madrid, in der Kunsthal Rotterdam, im Architecture & Design Center Stockholm, im Brooklyn Museum in New York, in der Barbican Art Gallery London, in der National Gallery of Victoria in Melbourne und im Grand Palais von Paris insgesamt sage und schreibe 1,5 Millionen Besucher an, bevor sie ihre letzte Station erreichte: die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München. Nun läuft dort der Countdown. Ein Zettel im Schaufenster mahnt: „Nur noch wenige Tage“. Zu bestaunen sind 140 Kreationen, die Jean Paul Gaultier zwischen 1971 und 2015 geschaffen hat, darunter Haute-Couture-Roben und Prêt-à-Porter-Ensembles, der berühmte Herrenrock, die bretonischen Ringelshirts, aber auch das panzerartige konische Bustier, das Madonna auf ihrer Blond Ambition-Tour im Jahr 1990 trug, die Bühnenoutfits von Kylie Minogue, Beyoncé und Beth Ditto und das weißschuppige Meerjungfrauenkleid, das Marion Cotillard anlässlich der Oscar-Verleihung 2008 zu einem schillernden Auftritt verhalf. Sie alle werden vom Kurator Thierry-Maxime Loriot und der Ausstellungsdesignerin Sandra Gagné so präsentiert, dass sich der Kontext der Mode mit großer Leichtigkeit und viel Vergnügen multisensuell erschließt: Im Gaultier-Kosmos beflügeln sich High Fashion und Subkultur, Punk und Pop, Film und Musik, Handwerkskunst und Körperkult gegenseitig. Folgerichtig wird der mittlerweise 63 Jahre alte Jean Paul Gaultier in bewährter Avantgarde-Manier als Grenzgänger gefeiert. Seit jeher multikulturell denkend, greift er auf Muster, Trachten und Fertigungstechniken aus Europa, Amerika, Afrika, Arabien und Asien zurück. Als Transgender-Experte arbeitet er mit Teri Toye, Zaldo Goco, Conchita Wurst und Andrej Pejic. Seine Outfits ironisieren tradierte Rollen- und Geschlechterzuschreibungen und bringen – durchaus in der Nachfolge des Surrealismus – zusammen, was traditionell nicht zusammengehört: die Nähmaschine und den Regenschirm auf dem zum Laufsteg mutierten Seziertisch. Wahrhaft alchimistische Fähigkeiten stellt Gaultier bei der Vereinigung von Naturstoffen mit synthetischen Materialien unter Beweis: Straußenfedern, fein gefädelte Seide mit Inka-Muster, Nerz, Fuchspelz, Menschenhaar, Haifisch- und Pythonhaut, Leder, Perlen, Kristalle, Muscheln und geflochtenes Stroh gehen wie selbstverständlich eine Symbiose mit Vinyl, Kunststoffpailletten und Blech ein. Als Zeichen hoher Wertschätzung ist der Beschilderung zu entnehmen, wie viele Stunden geschickte, geduldige und hoch qualifizierte Kunsthandwerker aus aller Welt damit zugebracht haben, Gaultiers Träume wahr werden zu lassen. Auf- und Umwertungen jeglicher Art sind Gaultiers eigentliches Metier. So kaufte er die Stoffe, die er 1976 für seine erste Prêt-à-Porter-Kollektion einsetzte, in Kaufhäusern wie Marché Saint-Pierre und dem Samaritaine. Das Ergebnis war ein tragbares „assisted ready-made“, das jetzt in München zu sehen ist: Neben Jacken aus Tapetenstoff und Tischsets entstand – getreu dem Motto der Ausstellung From the Sidewalk to the Catwalk – eine montierte Punk-Kombination à la Parisienne, ein Punk-Cancan aus Ballerina-Tutu und Biker-Jacke. Dass ihm die Fähigkeit, mit Materialwechseln zu verblüffen, bis heute nicht abhanden gekommen ist, stellt Gaultier in München nicht zuletzt anhand eines Kaftans unter Beweis. Gefertigt ist diese traditionell anmutende Bekleidung der Chassidim aus schwarz glänzendem Friesennerz. Ebenso viel Sorgfalt wie sonst auf die Auswahl sprechender Materialien und die Konzeption sensationeller Modeschauen scheint der Modedesigner in diesem Fall auf die Präsentationsformen der Ausstellung verwandt zu haben. Denn nichts fürchtet Gaultier mehr als den Stillstand. Entsprechend groß waren anfangs seine Vorbehalte gegenüber einer Retrospektive. „Für mich klang eine Ausstellung ein bisschen nach Tod“, erinnert er sich. „Wenn man stirbt, kommt man ins Museum.“ Also ist das Ausstellungsdisplay, das er in Zusammenarbeit mit dem Théatre UBU aus Montréal entwickelte, eine hochprofessionelle Inszenierung von ‚Lebendigkeit’. In Filmausschnitten werden Kostüme vorgeführt, die Gaultier für Produktionen von Regisseuren wie Peter Greenaway, Pedro Almodóvar und Luc Besson entworfen hat. Madonna ist in Konzertmitschnitten, Videos und Polaroids zugegen, und Cindy Sherman führt am eigenen Leib vor, dass Gaultiers Kreationen im Rollenspiel fast jeden nur erdenklichen Identitätswechsel möglich machen. Obendrein bekommen all jene, die keine Gelegenheit hatten, den Defilees des Couturiers in Paris beizuwohnen, in der Ausstellung ‚lebendig’ knisternde Stoffe in Bewegung zu sehen, wenn Puppen wie Models über den Laufsteg gleiten. Doch nicht nur das. Die Modellpuppen werden regelrecht animiert. Dank einer ausgefeilten Projektionstechnik, die ihnen bewegliche Gesichter verleiht, sprechen sie ihr Publikum in verschiedenen Sprachen an. Sie bewegen ihren Mund, sie lächeln, sie singen, sie schauen ihrem Gegenüber in die Augen, zwinkern und blinzeln. Auch ein Alter ego des Modedesigners ist darunter. Diese Puppe, die ein blau-weißes Ringelshirt im Matrosenstil mit dazu gehörigem Halstuch trägt, begrüßt die Besucher gleich im ersten Raum mit den Worten: Hello, welcome, I am Jean Paul Gaultier. Mittels der Einbildungskraft der Betrachter werden all diese Ausstellungsstücke aber erst dann wahrhaft ‚lebendig’, wenn der Künstlermythos sie umweht. Das hat Gaultier von der Kunst gelernt. Und so ist und bleibt er selbst das imaginäre Zentrum der Retrospektive. Sorgfältig dosiert macht er die Ausstellungsbesucher mit seinen Lebensstationen, seinen Bekannten und seinen Inspirationsquellen bekannt. So ist zu erfahren, dass er seine Vorliebe für Bustiers und Korsetts der Tatsache verdankt, dass er als Kind derart faszinierende und zugleich beängstigende Utensilien im geblümten Kleiderschrank seiner Großmutter entdeckte. Es sei der Film Falbalas von Jacques Becker aus dem Jahr 1944 gewesen, den er in seiner Kindheit wieder und wieder sehe wollte, der ihn auf die Idee gebracht habe, Modemacher zu werden. Und wer sein erstes Model war, dem er einen Büstenhalter verpasste, wissen wir nun auch: Es war sein Teddybär, oder besser gesagt, seine Teddybärin. Nana ist, durch ihre Patina als eine Heißgeliebte ausgezeichnet, in einer Vitrine zugegen. So darf die Ausstellung getrost als ‚lebender’ Beweis dafür gelten, wie raffiniert, ja meisterlich der Modedesigner Jean Paul Gaultier Emotionen zu schüren und Begehren zu wecken versteht. So gekonnt er mit den verschiedensten Materialien zu jonglieren weiß, so souverän spielt er in der Ausstellung mit den Gefühlen seines Publikums. Scheinbar mühelos lässt er latente und manifeste Bilder aufflackern, erzählt fragmentarische Geschichten, die ergänzt und vervollständigt werden wollen, impft den Ahnungslosen mittels wohlklingender Melodien den einen oder anderen Ohrwurm ein und entlässt sein Publikum schließlich mit einer unstillbaren Sehnsucht nach dem Unbegreiflichen ins eigene prosaische Leben. Bis zum nächsten Ausstellungsbesuch. Wenn die Modedesigner, die es gewohnt sind, termingerecht in arbeitsteiligen Prozessen Illusionen zu erzeugen, weiterhin in den Kunstmuseen ihre Kreise ziehen, weil in der Modewelt der Druck zu groß geworden ist, dann dürften für Künstlerinnen und Künstler, für Kuratorinnen und Kuratoren, die darauf beharren, dass die Kunstausstellung ein Erkenntnismedium sei, harte Zeiten anbrechen. Viel zu verlockend ist das Angebot der Modemacher, ihr Publikum in Ausstellungen zumindest vorübergehend in prominente Persönlichkeiten zu verwandeln. Madonna hat dieses Potenzial schon 1990 erkannt, als sie über Jean Paul Gaultier sagte: „Uns verbindet die Liebe zur Show, und jedes von Gaultier entworfene Kleidungsstück verstärkt nur meine Persönlichkeit.“
Jean Paul Gaultier |
Käfigstangenkorsett „Dévoreuse“ mit Schößchen aus goldenen Lederbändern aus der Kollektion „Confessions d’un enfant du siècle“, Haute Couture Herbst/Winter 2012/2013, veröffentlicht im Magazin „7 Hollywood“, 2013. Foto © Alix Malka
Kylie Minogue trägt „Immaculata“ aus der Kollektion „Les Vierges“, Haute Couture Frühjahr/Sommer 2007. Foto © Darenote Ltd. / Kylie Minogue
Der japanische Fotograf Izima Kaoru inszenierte ein Modell der Kollektion „Le Retour de l’imprimé“, Prêt-à-porter Damen Frühjahr/Sommer 1984, samt einem Hut von Stephen Jones für das Hanatsubaki Magazine. Foto © Hanatsubaki Magazine / Shiseido Co., Ltd.
Leopard als Abendkleid: aus der Kollektion „La Russie“, Haute Couture Herbst/Winter 1997/1998. Foto © Rainer Torrado / Jean Paul Gaultier
Kylie Minogue hat dieses Korsett auf der „Kylie X Tour" im Jahr 2009 getragen. Foto © Emil Larsson
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