Vollkommen vertraut, absolut revolutionär 03
„Denn während es (...) den sogenannten Menschen und sein Bewußtsein ausmacht, sich sprechen zu hören oder sich schreiben zu sehen, trennen Medien solche Rückkopplungsschleifen auf. (...) Der Phonograph hört eben nicht wie Ohren, die darauf dressiert sind, aus Geräuschen immer gleich Stimmen, Wörter, Töne herauszufiltern; er verzeichnet akustische Ereignisse als solche. Damit wird Artikuliertheit zur zweitrangigen Annahme in einem Rauschspektrum.“
Friedrich Kittler
Rauschen im audio-visuellen Theater
Wer über das Schreiben im Allgemeinen und über das Schreiben mit der Hand im Besonderen nachdenkt, wird vom Siegeszug audiovisueller Medien im Alltag wie von einem Schock getroffen. Seit der Erfindung von Phonograph und Kinematograph Ende des 19. Jahrhunderts gibt es Speicher, die „akustische und optische Daten in ihrem Zeitfluß selber festhalten und wiedergeben können“ [1]. Damit sind nicht nur Ohr und Auge autonom geworden. Seitdem definieren audiovisuelle Medien, was wirklich ist. „Was erst Phonograph und Kinematograph, die ihre Namen ja nicht umsonst vom Schreiben haben, speicherbar machten, war die Zeit: als Frequenzgemisch der Geräusche im Akustischen, als Bewegung der Einzelbildfolgen im Optischen.“ [2]
An dieser Tatsache lässt sich so wenig rütteln wie daran, dass diese Erweiterungen unserer Sinne unsere Wahrnehmung der Welt von Grund auf verändert haben – zumal seit sie jederzeit und überall verfügbar und untereinander vernetzt sind. Das bedeutet aber keineswegs, dass der Umweg über die Sprache und die Organisation der Gedanken in der linearen Schrift damit vollständig ausgedient hätten.
Das Alphabet hat sich nicht grundlos als fruchtbare Erfindung erwiesen. Ohne es wären Diskurse wie jene der griechischen Philosophie, der mittelalterlichen Theologie oder der modernen Wissenschaften nicht entstanden. Ist es nicht überraschend und macht es nicht nachdenklich, wenn ein Medienphilosoph wie Flusser davon spricht, etwas an der gesprochenen Sprache selbst rufe danach, „festgehalten zu werden – und zwar weniger in den Gedächtnissen der Sprecher und Hörer, auch nicht auf Schallplatten oder Tonbändern, sondern vielmehr eben schriftlich. Die gesprochene Sprache scheint geradezu von selbst der Schrift entgegenzueilen, um Schriftsprache zu werden und dadurch ihre volle Reife zu erreichen. Die gesprochene Sprache erscheint nach der Erfindung des Alphabets als Vorbereitung zur Schriftsprache, und das Alphabet wurde erfunden, um die Menschen überhaupt erst richtig sprechen zu lehren.“ [3] Bleiben Alphabet und Schriftsprache als alltägliche Schule des Sprechens und Denkens also nicht auch dann relevant, wenn wir zugleich ganz anders agieren, unmittelbar und in Echtzeit in Bilder eintauchen, auf Stimmen und Töne hören, überall Informationen abrufen können?
Ein Aspekt unter vielen innerhalb des Wettstreits zwischen verschiedenen Arten, der Welt zu begegnen und zu ihren vielgestaltigen Sensationen vorzudringen, diese zu verstehen und zu begreifen, betrifft die Frage: Wo bei der Übermacht all der in den elektronischen Netzen zirkulierender Bilder, Töne und Meinungen werden die kritischen Fähigkeiten des Menschen künftig ihren Ort haben, wenn nicht im Sprechen und Schreiben? Brauchen wir in Zukunft etwa keine Distanz zu dem digitalen Wirbel um uns herum, keine Medien und keinen Raum mehr zum Nachdenken? „Schreiben soll Bilder erklären, wegerklären. Das bildliche, vorstellende, imaginäre Denken soll einem begrifflichen, diskursiven, kritischen weichen. Man schreibt alphabetisch und nicht ideographisch, um ikonoklastisch denken zu können. Deshalb werden Laute einer gesprochenen Sprache notiert. Beim Sprechen spricht man ,über’ Vorstellungen und ,über’ Bilder, man steht dabei über dem imaginären Denken und spricht von oben herunter. Das Alphabet als Partitur einer gesprochenen Sprache erlaubt, diese mit dem Sprechen erklommene Transzendenz den Bildern gegenüber festzuhalten und zu disziplinieren. Man schreibt alphabetisch, um die überbildliche, begriffliche Bewusstseinsebene zu behaupten und auszubauen, anstatt – wie beim vorschriftlichen Sprechen – fortwährend ins bildhafte Denken zu verfallen.“ [4] Wurde das Alphabet nicht erfunden, um das mythische Sprechen durch ein logisches Sprechen zu ersetzen, „um überhaupt erst buchstäblich ,denken’ zu können“? [5]
Niemand weiß heute zu sagen, ob und wann der vor Urzeiten begonnene Wandel der Bildsymbole vom Mythogramm zum Ideogramm und vom Ideogramm zum Buchstaben an ein Ende kommen und was an seine Stelle treten wird. Die mediale Erweiterung unserer Sinne und die Perfektionierung der Aufzeichnung haben vermutlich ebenso wenig das letzte Wort wie die kommerzielle Rückkopplung unseres Verhaltens an riesige Datenpools.
„Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich wird man dann neue Systeme mit variabler Schriftgestaltung benötigen. Sie werden die Innervation der fehlenden Finger an die Stelle der geläufigen Hand setzen.“
Walter Benjamin
Im Rhythmus des Körpers oder der Maschine
Mit Blick auf die Schreibmaschine vertraut Walter Benjamin in seinem Aphorismus aus der 1928 erschienenen „Einbahnstraße“ noch wie selbstverständlich auf ein „erst dann ... wenn“. Die fehlenden Finger und deren Nervenstränge sind mittlerweile längst aktiviert und an die Stelle der geläufigen Hand getreten. Auch an Systemen variabler Schriftgestaltung herrscht heute kein Mangel. Wie unmittelbar die „Genauigkeit typographischer Formung“ in die Konzeption von Büchern eingegangen ist, mag sich jeder selbst ausmalen. Dabei ist die rasante Entwicklung und Verbreitung elektronischer Medien auch über die Schreibmaschine hinweggegangen. Wer hätte im Jahr 1984, als mit dem „MacIntosh“ eine erste benutzerfreundliche „Business Machine“ auf den Markt kam, geglaubt, dass wenige Jahrzehnte später nicht nur die Schreibmaschine ins Museum gewandert sein würde, sondern per Email und Twitter auch Millionen von Menschen permanent auf hosentaschengroßen Smartphones herumtippen – oft mit ihren beiden Daumen, wohlgemerkt.
Was die Schreibmaschine angeht, so hat Friedrich Kittlers streng auf die Hardware gerichteter Blick nicht nur offengelegt, dass Firmen wie Remington & Son die bei Waffen seit den Napoleonischen Kriegen bekannte Normierung der Einzelteile auf die Produktion zivilen Schreibgeräts übertragen haben, sondern auch, dass die Schreibmaschine zu einem Diskursmaschinengewehr wurde [6]: „Was nicht umsonst Anschlag heißt, läuft in automatisierten und diskreten Schritten wie die Munitionszufuhr bei Revolver und MG oder der Zelluloidtransport beim Film.“ [7] Auch das Heldenlied von ihrer Feuerkraft wird bis heute gesungen und diese als Vorzug der Mechanik buchstäblich gegen die Handschrift ins Felde geführt.
Erwähnt werden muss dies weniger als Beispiel für die historisch fortschreitende Mechanisierung des Schreibens. Im Unterschied zur Handschrift als wichtiger erweist sich hier die technisch bedingte Veränderung im Schreibrhythmus. In seiner mechanisierten Form kennt dieser Rhythmus „keine Imagination, er humanisiert kein Verhalten, sondern Rohmaterialien“. Die langsame Invasion der Technik hat die Imagination nach und nach in eine neue Situation versetzt. Heute „sind die Individuen getränkt und bestimmt von einer Rhythmizität, die das Stadium einer praktisch totalen Maschinisierung (eher als das einer Humanisierung) erreicht hat.“ [6]
Die Hand als Teil des Körpers indes folgt ihrem eigenen Rhythmus. Mit der Schwerfälligkeit einer mechanischen Tätigkeit hat dieser sowenig zu tun wie mit den Abstraktionen virtueller digitaler Medien und ihrer Turing-Maschinen. Selbst die – zumindest beim bloßen Abschreiben vorhandene – Langsamkeit des Schreibens von Hand könnte sich in Zeiten unablässiger Reizüberflutung als vorteilhaft herausstellen.
„Vollkommen vertraut. Absolut revolutionär. Sobald du ihn in die Hand nimmst, merkst du, dass der Apple Pencil genau das macht, was du willst. Er reagiert auf Neigung und Druck, so dass du viele unterschiedliche künstlerische Effekte zeichnen kannst. Und seine pixelgenaue Präzision gibt dir völlig neue kreative Möglichkeiten.“
Apple Werbung
Die Hand holt sich den Stift zurück
Würde man in dem kurzen Werbetext die Wörter „Apple Pencil“ einfach durch „Füller“ oder „Füllfederhalter“ ersetzen und „pixelgenau“ streichen, die Aussage würde keinen Deut weniger zutreffen. Selbst wenn man nur schreiben und keine künstlerischen Effekte erzielen möchte. Wie so oft bemächtigt sich das Allerneuste der Eigenschaften des Bewährten und Vertrauten. Es tarnt sich, schlüpft in eine bekannte Haut. MAYA-Prinzip hat der Designer Raymond Loewy das einst genannt – Most Advanced Yet Acceptable [9]. Offenbar funktioniert es noch immer, so innovativ wie möglich zu sein, aber niemanden abzuschrecken. Handschrift kann am Ende dann doch fast jeder.
Holt sich die Hand Schrift und Stift also zurück? Wird, statt ihn ganz wegzuwerfen, der von Daumen, Zeige- und Mittelfinger kontrollierte und aus dem Handgelenk kommende Schwung des Schreibstifts einfach ins digitale Zeitalter katapultiert? Technisch gesehen scheint das kein Problem zu sein. Warum also nicht auf einen Bildschirm schreiben und einen Stift in Händen halten, der es erlaubt, das Denken wie gewohnt linear auszurichten und zu ordnen, es zugleich aber ohne große Umstände in die multidimensionale Welt des Digitalen einzuspeisen? Hat ein derart magischer Stift sogar das Zeug zur Versöhnung des Analogen mit dem Digitalen, des Linearen mit dem Multidimensionalen, der Distanz mit der Nahsicht?
Die Tragweite von Prozessen historischen Ausmaßes lässt sich erst im Nachhinein erkennen. Die Eule der Minerva beginnt bekanntlich erst in der Dämmerung ihren Flug, wenn, wie Hegel sagt, „eine Gestalt des Lebens alt geworden ist“ [10]. Wer weiß, vielleicht wird die Hand und ihr über Jahrtausende hinweg erworbenes Geschick auf der nächsten Stufe der technischen Entwicklung ja tatsächlich wieder mehr gebraucht. Eine Transformation des Schreibstifts in ein hybrides Gerät würde trotzdem wenig ändern. Die Fremdheit zwischen Alphabet und digitalem Code bliebe bestehen. Vielleicht müssen wir einfach zu akzeptieren lernen, dass die Perspektive einer erdumspannenden Alphabetisierung nur für einen kurzen Zeitraum als Äquivalent gesellschaftlichen und geistigen Fortschritts erschienen war. [11]
Am Beginn der Menschheitsentwicklung war die Hand nicht mehr als eine Zange zum Festhalten. Vom „oberen Paläolithikum bis ins 19. Jahrhundert hat sie einen endlosen Höhenflug hinter sich gebracht. In der Industrie spielt sie noch eine wesentliche Rolle bei wenigen Werkzeugmachern, die jene Teile der Maschinen herstellen, vor denen die Masse der Arbeiter nur noch einen Greifer mit fünf Fingern hat, der das Rohmaterial verteilt, oder einen Zeigefinger, der auf Knöpfe drückt. Noch handelt es sich um ein Übergangsstadium, denn es kann kein Zweifel bestehen, das nicht mechanisierte Phasen in der Herstellung von Maschinen nach und nach ausgeschaltet werden.“ [12]
Den Rest erledigen Programmierer, Software, computergesteuerte Produktionsanlagen, Roboter und 3-D-Drucker. An den Tatsachen lässt sich nicht rütteln. Bis auf weiteres aber ist der Bleistift noch ganz selbstverständlich zur Hand, fließt tagtäglich noch sehr viel Tinte und ähnliche Schreibflüssigkeiten durch Füller, Kugelschreiber, Tintenroller – wie sehr das Reale auch um uns her rauscht und als mächtige Fortschrittswelle über die Bildschirme brandet.
[1] Kittler, a.a.O., S. 10.
[2] Kittler, ibid.
[3] Flusser, Die Schrift, a.a.O., S. 35/36.
[4] Flusser, Die Schrift, a.a.O., S. 34/35.
[5] Flusser, Die Schrift, a.a.O., S. 36.
[6] Kittler, a.a.O., S. 282/283.
[7] Kittler, a.a.O., S. 283
[8] Leroi-Gourhan, a.a.O., S. 385.
[9] Raymond Loewy, Häßlichkeit verkauft sich schlecht, Düsseldorf 1953, S. 228.
[10] „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“, vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main 1972, S. 14.
[11] vgl. Leroi-Gourhan, a.a.O., S. 492.
[12] Leroi-Gourhan, a.a.O., S. 320.
Ausstellung:
Thinking Tools
Design als Prozess: Wie Schreibgeräte entstehen
Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main
24. September 2016 bis 29. Januar 2017
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und in Form gehalten werden. Auch trainiert, wer schreibt, das Denken.