Vollkommen vertraut, absolut revolutionär 02
„Ob wir es wollen oder nicht, auf dieser Seite berühren sich Körper, oder sie ist selbst Anrühren (meiner Hand, die schreibt, Ihrer, die dieses Buch in Händen hält). Dieses Berühren ist unendlich umgeleitet, aufgeschoben – Maschinen, Transporte, Fotokopien, Augen und wieder andere Hände haben sich dazwischen gestellt –, doch sie bleibt der winzige, beharrliche, hauchdünne Kern, das winzige Staubkorn eines allenthalben unterbrochenen und doch allenthalben fortgeführten Kontakts. Am Ende rührt Ihr Auge an die gleichen Schriftzüge, die das meine nun berührt, und Sie lesen, was ich geschrieben habe, und ich schreibe Ihnen. Irgendwo hat das Statt.“
Jean-Luc Nancy
Die Geste des Schreibens
Da ist sie wieder, die Magie des Schreibens. Auch der Philosoph Jean-Luc Nancy beschwört sie – nun als Form eines Kontakts zwischen uns Menschen, der stattfindet, was auch immer sich zwischen den Schreibenden und den Lesenden schieben mag. Auf die Hand und ihre Fertigkeiten, lässt sich dabei offenbar schwerer verzichten, als man glaubt. Beim Schreiben will sie besonders trainiert und in Form gehalten werden. Das Besondere an der Geste des Schreibens lässt sich trotzdem nicht leicht fassen, wird sie doch „von dichteren Schichten als der Gewohnheit überdeckt“ [1]. Schreiben, so Flusser, ist „mehr als eine eingewöhnte Geste, es ist beinahe eine Fähigkeit, mit der wir geboren werden. Es gibt Zentren in unserem Hirn, die die Geste des Schreibens kontrollieren, so wie es Zentren für die Kontrolle der Atmung gibt“ [2]. Die Geste des Schreibens ist offenbar sehr eng mit uns und unserem Körper verbunden. Was aber ist das Spezifische am Schreiben? „Worin unterscheidet es sich von den vergleichbaren vorangegangenen und künftigen Gesten – vom Malen, vom Drücken auf Computertasten? Gibt es überhaupt etwas Spezifisches, das allen Arten von Schreibgesten gemein ist – dem Meißeln von lateinischen Buchstaben in Marmor, dem Pinseln von chinesischen Ideogrammen auf Seide, dem Kritzeln von Gleichungen auf Tafeln, dem Tippen auf Schreibmaschinentasten? Was für ein Dasein führten die Menschen, bevor sie mit dem Schreiben begonnen hatten? Und wie sähe ihr Dasein aus, wenn das Schreiben aufgegeben würde?“ [3] Hier ist sie wieder, die bohrende Frage, was aus der Handschrift wird. Sie lässt uns nicht los.
Für Flusser ist sämtliches Schreiben „eine Schriftzeichen ausrichtende, sie ordnende Geste“. Da Schriftzeichen zudem (mittelbar oder unmittelbar) Zeichen für Gedanken seien, sei „Schreiben eine Gedanken richtende, ausrichtende Geste“ [4]. Womit ein hinter dem Schreiben verborgenes Motiv erkennbar wird: Man schreibt, um seine Gedanken in die richtigen Bahnen zu lenken. [5] Würden wir unsere Gedanken nicht mittels der Geste des Schreibens ordnen und sie blieben sich selbst überlassen, so würden sie „in Kreisen“ laufen: „Dieses Kreisen der Gedanken, wobei jeder Gedanke zum vorangegangenen zurückkehren kann“, nennt Flusser das „mythische Denken“ [6]. Schriftzeichen und Schreiben weisen also nicht weniger als den Weg aus dem mythischen in ein linear ausgerichtetes Denken.
Hier wird in Umrissen die enorme kulturelle Tragweite sichtbar, die in der Geste des Schreibens liegt. Mit einem Mal scheint mehr in Frage oder auf dem Spiel zu stehen als nur das Schreiben mit der Hand: „Das Motiv hinter der Erfindung des Alphabets war, das magisch-mythische (,prähistorische’) Bewusstsein zu überholen und einem neuen (,historischen’) Bewusstsein Raum zu gewähren. Das Alphabet wurde als Code des historischen Bewusstseins erfunden. Falls wir das Alphabet aufgeben sollten, dann wohl darum, weil wir unsererseits das historische Bewusstsein zu überholen bemüht sind. Wir sind des Fortschritts müde geworden, und nicht nur müde: Das historische Denken hat sich als wahnsinnig und mörderisch erwiesen. Das ist der wahre Grund (und nicht die technischen Nachteile des Alphabets), weshalb wir bereit sind, diesen Code aufzugeben.“ [7]
„Weil wir von jeder neuen Technologie – die wiederum eine vollkommen neue Welt schafft – betäubt werden, neigen wir dazu, die alte Welt sichtbarer werden zu lassen, indem wir sie in eine Kunstform verwandeln und unser Herz an die Gegenstände und die Stimmung hängen, die für sie charakteristisch war.“
Marshall McLuhan
Traurige Saurier
Wir haben es bereits erwähnt: Wer überhaupt noch mit der Hand schreibt, und nicht weniger, wer über diese Art des Schreibens schreibt, sieht sich unweigerlich in die Defensive gedrängt. Sprichwörtlich so traurig wie einst die Dinosaurier wartet die offenbar anachronistische Kulturtechnik aufs ihr Aussterben – oder tritt den Rückzug ins Museum an. Technische und mediale Entwicklungen weisen längst in eine ganz andere Richtung. Und das mit dem Schreiben entstandene historische Denken hat nicht nur den vielgestaltigen Mythos buchstäblich auf Linie gebracht und zum Logos verkürzt, es hat sich in den letzten Jahrhunderten offenbar auch selbst diskreditiert. Auf eine Vernunft abendländischen Zuschnitts lässt sich für die Zukunft kaum bauen; zu oft hat sie versagt, zu blutig, zu gewalttätig und ausgrenzend waren und sind ihre Folgen.
Also wird, den Erfolg sämtlicher „electronic devices“ im Rücken, eine Zukunft ohne Stift und Papier nicht nur imaginiert, sie wird auch sogleich auf Zuruf oder per Gestensteuerung in Gang gesetzt. Der Touchscreen ist das neue Papier. Wo derart viel und ungeniert von Zukunft geredet wird wie in unseren Tagen, bleibt für Vergangenheiten gleich welcher Art kein Platz. Selbst dann nicht, wenn sich das übermäßige Beschwören des Kommenden mittels naiver und bezugsloser Allgemeinplätze wie „make the world a better place“ als Pfeifen im Walde erweist. Die Geschichten von jenen „digital natives“ im noch unverbildeten Kindesalter, die auch in der gedruckten Illustrierte Bilder mit einer Daumen und Zeigefinger spreizenden Bewegung groß-zoomen wollen, gehören längst zur Folklore des Digitalzeitalters.
Und doch kann man es drehen und wenden wie man will: Als Mensch, der seine Hand nicht auf zwei Daumen reduziert sehen möchte, die auf einer kleinen Touchscreen-Tastatur herumdrücken, und der in der Hand auch kein zum Herumfuchteln in der Luft entwickeltes Körperteil erkennt, befindet man sich in der Defensive. Genauer: Nicht nur medientheoretisch, sondern auch medienpraktisch und medienarchäologisch gehört man zum sprichwörtlich alten Eisen.
Allerdings: Für all die schönen, neuen, kleinen, wunderbaren und mit der Welt vernetzten Tipp-, Wisch-, Guck- und Versendemaschinen braucht man Strom und eine stabile Verbindung zum die Welt umspannenden Netz. Auch freuen sich über die noch so jungen und verspielten elektronischen Erweiterungen unsers Körpers und der durch sie zu erzielenden vermeintlichen oder tatsächlichen Reichweite unserer geistigen und kommunikativen Emanationen zuallererst die Firmen, die sie anbieten. Allein Hand, Stift und Papier machen den Schreibenden weitestgehend autark und befreien ihn von überflüssigem Ballast (irgendeine Serviette findet sich immer und zur Not tut es, Künstler und Architekten machen es immer wieder gern vor, auch die Tischdecke – falls es sie noch gibt).
Der enorme Erfolg, der findigen Unternehmen parallel zur Elektrifizierung der Kommunikation mit handlichen Notizbüchern beschert wurde, verdeutlicht zumindest dies: Der Charme des Neuen und Innovativen expediert das Bewährte keineswegs so rasch ins Museum oder auf den Müllhaufen der Fortschrittsgeschichte, wie uns immer wieder weißgemacht werden soll. Man muss nur beobachten, wie sich junge Menschen zwischen Zwanzig und Dreißig aus kreativen Berufen in ihren Meetings verhalten: Nicht alle, aber viele schreiben sie ihre „To-Do-Listen“ in irgendwelche Kladden; das Tablet haben sie schon wieder zur Seite gelegt. Die Vorzüge des einen gereichen dem anderen, älteren, eben nicht unweigerlich und nicht in jeder Hinsicht zum Nachteil. Was sich in unseren nomadisch geprägten urbanen Kontexten als neun und innovativ gerade in Mode ist, kann in anderen lästig und weniger hilfreich sein. Die Tatsache einer solchen Parallelität verschiedener Medien und Techniken stimmt insofern optimistisch, als die Vielfalt an Schreibwerkzeugen ebenso zugenommen hat wie die Artikulationsmöglichkeiten – seien diese analog oder digital geprägt.
Hinzu kommt für das Schreiben im allgemeinen: Das Geheul, das geübte Kulturpessimisten sogleich angestimmt hatten, als der weltweite Siegeszugs der Email begann, ist rasch verklungen. Erstaunt konnten wir alle feststellen, dass heute – nicht nur per Elektropost, sondern auch per SMS, via Facebook oder WhatsApp – wesentlich mehr geschrieben wird als zu Zeiten papiergestützter monopolisierter Briefpost und grauer Festnetztelefone. Selbst wenn man hier und da auf Emails ohne erkennbare Zeichensetzung und voller Schreibfehler stößt oder ebenso kryptische wie lustige Kurzmitteilungen empfängt, die teilweise von der Autokorrektur statt vom Absender verfasst wurden, so muss man sich um die Kultur des Schreibens doch keine allzu großen Sorgen machen. Briefe werden heute nicht weniger geschrieben, nur schneller und anders verschickt. Beide, Sprache und Schrift, ob mit der Hand geschrieben oder auf einer kleinen virtuellen Tastatur, sind unablässig in Gebrauch; und, was unweigerlich zu jeder lebendigen Sprache gehört, beständig in einem Prozess des Wandels und der Erneuerung begriffen.
Die Hand, die vieles davon ins Werk setzt, hat also keineswegs auf ganzer Linie ausgedient. Zwar stellt der Paläoanthropologe im nüchternen Ton einer bis in die graue Vorzeit blickenden Wissenschaft in warnendem Ton fest: „Es wäre nicht sonderlich wichtig, dass die Bedeutung der Hand, dieses Schicksalsorgans, abnimmt, wenn nicht alles darauf hindeutete, dass ihre Tätigkeit eng mit dem Gleichgewicht der Hirnregionen verbunden ist, die mit ihr in Zusammenhang stehen. ,Mit seinen Händen nichts anzufangen wissen’ wäre auf der Ebene der Spezies nicht sonderlich beunruhigend, denn es dürften noch Jahrtausende vergehen, bevor ein so altes neuro-motorisches Dispositiv sich zurückbildet; aber auf individueller Ebene liegt die Sache ganz anders. Mit seinen Händen nicht denken können bedeutet einen Teil seines normalen und phylogenetisch menschlichen Denkens verlieren. Auf der Ebene des Individuums und vielleicht auch auf der Ebene der Spezies stehen wir also in Zukunft vor dem Problem einer Regression der Hand.“ [8] Und doch: Seit den 1960er Jahren, als Leroi-Gourhan dies schrieb, hat sich einiges davon relativiert und neu eingependelt.
[1] Vilém Flusser, Die Geste des Schreibens, in: Schreiben als
Kulturtechnik, Grundlagentexte, hrsg. v. Sandro Zanetti, Berlin 2012, S. 161.
[2]Flusser, Die Geste des Schreibens, ibid.
[3] Vilém Flusser, Die Schrift, Hat Schreiben Zukunft?, 3.
Aufl., Göttingen 1990, S. 8.
[4] Flusser, a.a.O., S. 10.
[5] ibid., wörtlich heißt es dort: „Man schreibt, um seine Gedanken in die
richtigen Bahnen anzuführen.“
[6] ibid.
[7] Flusser, Die Schrift, a.a.O., S. 39.
[8] Leroi-Gourhan, a.a.O., S. 320.
Ausstellung:
Thinking Tools
Design als Prozess: Wie Schreibgeräte entstehen
Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main
24. September 2016 bis 29. Januar 2017
weitere Artikel:
Vollkommen vertraut, absolut revolutionär - Teil 1
Wer schreibt heute noch von Hand? Werden wir schon bald nur noch tippen, wischen und klicken? Oder erwerben wir beim Schreibenlernen Fähigkeiten, die wir auch künftig brauchen werden?