Im Niemandsland, im britischen Pavillon, einem Bauwerk auf exterritorialem Gebiet, das sich zwar in den venezianischen Giardini, aber im Besitz Großbritanniens befindet, blickt man ebenso gern nach vorn wie zurück. Den Auftakt bildet ein Holzmodell. Es macht in den Größenverhältnissen 1:10 mit einem Teilstück eines Stadions vertraut, das anlässlich der Olympischen Spiele im Jahr 2012 in London gebaut wird. Auf steil ansteigenden Tribünen darf man Platz nehmen wie in einem Anatomiesaal. Stifte, Papier, Muscheln und Zweige liegen bereit: Der Zeichenunterricht kann beginnen. Die Welt im Entwurf, als Naturstudie entfaltet sie sich vor unseren Augen. Aber Vorsicht! Das Sehen will gelernt sein. Vorher ist an Architektur gar nicht zu denken.
Das von venezianischen Schreinern gefertigte Holzmodell, das - in Anlehnung an die in den Wissenschaften praktizierte Methode des „close reading" - den Titel „Stadium of close looking" trägt, stellt die Primarstufe einer europäischen Schule des Sehens dar. Ihre Fortsetzung erfährt sie in Fotografien, die Alvio und Gabriella Gavagnin, ein Vaporetto-Schaffner und seine Frau, von 1979 bis 1994 in nüchternem Schwarzweiß in Venedig aufgenommen und archiviert haben. Und nicht zuletzt in jenen für die Architektur so folgenreichen Aufzeichnungen, die der Kunsthistoriker John Ruskin Mitte des 19. Jahrhunderts gewissenhaft zu Papier brachte, als er Venedig Spitzbogen für Spitzbogen, Kapitell für Kapitell und Balustrade für Balustrade inventarisierte.
Der British Council, der seit 1935 professionell den Pavillon bespielt, konnte diesmal den Philosophen Wolfgang Scheppe als Kurator gewinnen. Scheppe, der an der "Istituto Universitario di Architettura di Venezia" (IUAV) lehrt, machte im letzten Jahr von sich reden, als er im Rahmen der Ausstellung „Migropolis" untersuchte, welche Folgen Massentourismus, Migrantenströme und Schwarzmarkt für die Serenissima haben. Zeigte er damals schonungslos die Schattenseiten der Stadt, so lenkt er diesmal den Blick auf Medien und Mechanismen, die dazu beitragen, dass diese zum Bild gerinnt. Dazu stellt er 124 Blättern, die Ruskin mit dem Vermerk „Done" (Erledigt) versah, Fotografien gegenüber, die sich gerade dadurch als spektakulär erweisen, dass es ihnen gelingt, in einer so außergewöhnlichen Stadt wie Venedig das Alltägliche zu feiern. Den gotischen Fensterbögen, Säulenordnungen und Profillinien, denen Ruskin einst in seinen in marmoriertes Papier eingeschlagenen „Notebook" ein Denkmal setzte, antworten nun regennasse Plätze, Spuren im Schnee, verwehtes Papier im Brachland, vom Fernseher beleuchtete Wohnzimmer oder menschenleere Gassen. In stiller Verehrung einer Stadt, die ihm Heimat war und ist, brachte Alvio Gavagnin Bilder hervor, die - Eugène Atgets Poetisierungen des Urbanen durchaus verwandt - das Bühnenhafte Venedigs unterstreichen.
Im Vergleich von Fotografie und Zeichnung zeigt sich: Das Medium generiert Sicht auf Architektur, Stadt und soziales Leben - und damit Weltsicht. Wo Ruskin in der Zeichnung die Struktur der Bauwerke offenlegte und mit seiner Konzentration auf die Details den fragmentarischen Blick einübte, da erweist sich die analoge Fotografie Gavagnins als ein Medium, das mehr im Bild festzuhalten vermag, als der Fotograf gesehen haben muss, während er den Auslöser der Kamera betätigte. Seine Bilder, die ihren Reiz aus dem Atmosphärischen und Narrativen beziehen, wollen mit einem detektivischen Blick entschlüsselt werden.
Eines haben Alvio und Gabriella Gavagnin indes mit Ruskin gemein: Sie wissen um die Vergänglichkeit dessen, was ihnen vor Augen steht. Aber auch dieses Wissen schlägt sich medial auf unterschiedliche Weise nieder. Während das mechanisch erzeugte Bild stets von einem Hauch von Nostalgie umweht ist, weil es vom Verschwinden eines unwiederbringlichen Augenblicks erzählt, vermag die von Hand gefertigte Zeichnung jedem noch so Einmaligen das Typische abzuringen. Eben darin sah Ruskin seine Aufgabe, eine Aufgabe, die ihm nicht immer leicht fiel. „Ich bin", so klagte er, „durch so viele harte, trockene, mechanische Arbeit gegangen, dass ich das Gefühl für den Reiz des Ortes fast ganz verloren habe. Die Analyse ist ein widerwärtiges Geschäft." Aber eines, das er für notwendig hielt. Mit Hilfe eines Archivs historischer Bauformen wollte er bildhaft die Zeichen einer Kultur bewahren, die zu schmelzen drohte wie ein Stück Zucker im Tee, weil sie der Modernisierungswut der Industrialisierung nichts entgegenzusetzen hatte als ihre einst glanzvolle Geschichte.
Doch Ruskin hatte die Aufnahmefähigkeit seiner Zeitgenossen unterschätzt. Britische Architekten und Bauherren, die auf der Suche nach Neuem waren, fanden Inspirationen ausgerechnet im Alten, in der Bild gewordenen Stadt Venedig. In London, Oxford und Birmingham sollte die Gotik bald als „High Victorian Gothic" ihre Auferstehung feiern, allerdings als sinnentleerte Collage-Architektur. Ein solcher Erfolg war für Ruskin nicht gerade Anlass zur Freude. „Um meiner selbst willen wäre es mir lieber gewesen, kein einziger Architekt hätte je sich dazu herabgelassen, eine der in diesem Buche angedeuteten Ansichten anzunehmen, als dass einige die teilweise Anwendung davon gemacht haben, die unsere Fabrikschornsteine mit schwarzen und roten Ziegeln gesprenkelt, unsere Bankhäuser und Kleiderläden mit venezianischem Maßwerk veredelt, und unsere Pfarrkirchen zu dunklen und schlüpfrigen Räumen zusammengedrängt hat, als Reklame für billiges Glas und Ziegel", schrieb er sich 1874 im Vorwort zur dritten Auflage seiner „Stones of Venice".
Mit einer gehörigen Portion britischem Humor spielt man auf der diesjährigen Biennale auf den bis heute praktizierten Remix der Bauformen an. Der britische Pavillon, der 1907 auf einem Hügel in den Giardini errichtet wurde, der sich dem Schutt des eingestürzten Campanile vom Markusplatz verdankt, nennt sich diesmal schalkhaft „Villa Frankenstein". Und scheut nicht davor zurück, all das miteinander zu verschrauben, was in den letzten Jahren in Kunst und Architektur diskutiert wurde: die Bedeutung des Archivs, die Konstruktion des Blicks, die Medialität des urbanen Raums, die Adaption des Historischen, den Transfer der Kulturen. Was will man mehr? Done? Well done!
Zur Ausstellung ist erschienen:
Done.Book. Picturing the City of Society An Inquiry into the Depth of Visual Archives
The Venetian Notebooks of John Ruskin versus the Picture Library of Alvio Gavagnin
Herausgegeben von Wolfgang Scheppe
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/Ruit, 2010
368 Seiten, 399 Abbildungen, englisch
www.hatjecantz.de
In unserer Serie zur Architekturbiennale sind bislang erschienen:
› Oliver Elser über die zentrale Ausstellung der Biennale-Leiterin Kazuyo Sejima
› Dirk Meyhöfer über „Sehnsucht" im deutschen Pavillon
› Sandra Hofmeister über urbane Freiräume und Leerstand in den Pavillons von Frankreich und den Niederlanden