100 JAHRE BAUHAUS
Ein Irrgarten, genannt Biografie
Es war eine Frage der Zeit, bis "Alternative Fakten" in Publikationen zum Thema Architektur und Design vordringen würden. Hier geht es nicht um die bekannten Fehler, Schlampereien und Ungenauigkeiten, die in der Designberichterstattung allgegenwärtig und in der Architekturpublizistik nicht immer zu vermeiden sind. Vielmehr um eine Methode der Halb- und Unwahrheiten. Endlich, so verkünden die Protagonisten dieser Taktik, sind sie in der Lage, dem für lange Zeit in die Irre geführten Publikum, die Augen zu öffnen. In der politischen wie in der publizistischen Sphäre wird die Methode genutzt, um Aufmerksamkeit zu erheischen, die im Malstrom der digitalen Bilder und Neuigkeiten anders nicht mehr zu haben ist.
Das bessere Argument und die genaue Recherche zählen wenig – umso mehr dafür der Appell an Gefühle und Instinkte. Beliebt ist etwa, zu behaupten, etwas sei bislang "weitgehend verschwiegen" worden. "Walter Gropius war bereits als junger Mann ein wahrer Meister des Ungesagten", gibt der bis dahin versierte Design- und Architekturschreiber Bernd Polster, ein Neuling auf dem Gebiet der historischen Biografie, den Grundton seines Buches vor. Das Ungesagte ist bekanntlich nicht zu dokumentieren, es lässt sich weder hinterfragen noch widerlegen. Mit "Walter Gropius – Der Architekt seines Ruhms" leistet Polster Pionierarbeit im höchst fragwürdigen Sektor der alternativen Architekturgeschichtsschreibung.
Während gegenwärtig landauf, landab gejubelt und dabei oftmals Halbwissen zur Avantgarde-Kunstschule in Weimar, Dessau und Berlin ausgebreitet wird, fehlt es an kritischen, womöglich polemischen Gegenstimmen. Polsters fabulierendes Sachbuch mit Fußnoten ist keine dieser Stimmen.
Polster breitet überwiegend Fakten aus, die seit Jahrzehnten bekannt und seither in der Fachliteratur und den großen Feuilletons diskutiert, bewertet und eingeordnet wurden. Andere als er haben diese Forschungsergebnisse lesbar und schlüssig dargestellt. Bereits vor 25 Jahren, zum 75-jährigen Gründungsjubiläums des Bauhauses, legte Annemarie Jaeggi ihre Monografie über Adolf Meyer vor. Das Katalogbuch "Der zweite Mann – Ein Architekt im Schatten von Walter Gropius" ist die erweitere Fassung der Dissertation der heutigen Direktorin des Bauhaus-Archivs von 1992. Sie listet nach damaligem Kenntnisstand akribisch auf, was Adolf Meyer als Partner von Gropius entwarf, welche Werke gemeinsam entstanden. Und schon zuvor, bereits 1985, hatte Winfried Nerdinger seinen kritischen monografischen Katalog zu Leben und Werk von Gropius veröffentlicht. Wen es interessiert, der weiß spätestens seit dieser Zeit, dass der Architekt Gropius keinen Abschluss hatte, was ihn nicht von Peter Behrens, Le Corbusier, Buckminster Fuller und vielen anderen – Modernen wie Antimodernen – unterscheidet. Anders als der gleichfalls abschlusslose Mies van der Rohe hat er immerhin zwei Semester an Technischen Universitäten verbracht. Die Berufsmöglichkeiten zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren offenbar andere, weniger ausschließlich an Zertifikate und Abschlüsse gebunden, als es uns heute unerlässlich erscheint. Noch viel mehr Unvorteilhaftes ist über den Bauhausgründer seit langem bekannt. Rechtfertigt dies reißerische Zwischentitel wie "Walterchens Welt", "Aufstieg aus Besessenheit", "Alma, Sex und Avantgarde", "Der leibhaftige Gropius"?
Schon Reginald R. Isaacs, Autor der materialreichen großen zweibändigen Monografie, deren beide Bände 1983 beziehungsweise 1984 auf Deutsch erschienen, veröffentlichte einen Brief von Gropius an dessen Mutter aus dem Jahr 1907, in dem er ausführlich seine "absolute Unfähigkeit, auch nur das Einfachste auf Papier zu bringen" darstellte. Gropius schrieb: "Ich bin nicht im Stande einen geraden Strich zu ziehen." Kurz: Der angehende Architekt konnte nicht Zeichnen. Dabei ging es nicht um eine vorübergehende Schwäche, die sich durch Training beheben ließe. Vielmehr konstatiert er bei sich "fast eine physische Unmöglichkeit", denn "ich bekomme sofort einen Krampf in der Hand, breche dauernd die Spitzen ab, und muss mich nach fünf Minuten ausruhen." Es ist sein Biograf Isaacs, der dies veröffentlicht. Trotz großer Nähe zu Gropius in Harvard. Der Soziologe und Stadtplaner verdankt ihm die Berufung auf die dortige Stiftungs-Professur für Regionalplanung. Eine gewisse Grundskepsis gegenüber Isaacs’ Folgerungen ist bei dieser persönlichen Verflechtung sicher berechtigt. Aber rechtfertigt dies, sein Werk auf dessen Recherchen auch Polsters Buch fußt, als "Werkzeug der von ihm (Gropius) systematisch betriebenen Selbststilisierung" zu charakterisieren?
Was Polster als rätselhaft vernebelt, nämlich Gropius’ gesprächsbasierte Entwurfspraxis, die stets eines Widerparts, eines Umsetzers bedurfte, hat Nerdinger 1985 bereits im Detail recherchiert und geschildert. Ebenso die Tatsache, welche Probleme damit gerade im Zuge der kontinuierlichen Umsetzung des Werkes einhergehen. Anders als bei Le Corbusier oder Mies van der Rohe, so Nerdinger damals, fehle bei Gropius die durchgängige formale Stringenz. Und doch sind uns heute große Architektur-Unternehmen geläufig. Während Chefin oder Chef für den Namen stehen, führen deutlich unbekanntere Mitarbeiter die Entwürfe aus. Norman Foster, Renzo Piano und Zaha Hadid können oder konnten zwar zeichnen, eine Vielzahl ihrer Projekte, stammen dennoch von oftmals ungenannter Hand.
Wichtige Zeitzeugen von Gropius’ Leben und Wirken sind längst nicht mehr da. Es ist also eine Auseinandersetzung, die auf Basis von historischen Akten und Briefen, Katalogen und alten Schriften beruht. Ati Gropius, Adoptivtochter von Walter und Ise Gropius, mit der Polster lange Interviews führte, starb bereits 2014. Im Jahr zuvor brachte der WDR ein Radiofeature von Bernd Polster, mit O-Tönen von ihr. Im ebenfalls „Der Architekt seines Ruhmes“ betitelten Stück resümiert Polster: "Das 19. Jahrhundert, aus dem er kam, trug Gropius mit sich." Das ist vielleicht keine besonders originelle Erkenntnis, aber auch nicht verkehrt. Nun behauptet er, sein Protagonist sei ein Mann von vorgestern, ein Aufschneider und Hochstapler, "ein Felix Krull", "ein Husar", was auf seine militärische Ausbildung anspielt, seine Fähigkeit zu Reiten macht ihn zum "Herrenreiter", seine ostelbische Verwandtschaft zum Junker. Wenn es bei Gropius’ Eltern üblich war, Dienstboten für sich arbeiten zu lassen, fragt sich Polster, ob diese wohl im "Hängeboden" schlafen mussten, "dieser typisch Berliner Einrichtung?" Husar, Herrenreiter, Hochstapler, geistiger Dieb – nach passender Gelegenheit streut der Autor seine Urteile in den Text ein, ermüdend oft wiederholt er sich dabei. Das gilt ebenso für die "Verliese des Vergessens", in die Gropius angeblich seine übergangenen Opfer und einstigen Weggefährten zur Sicherung der eigenen Position weggesperrt habe. Damit nicht genug, bemüht Polster "gute Feen", sobald er selber nicht mehr weiter weiß, wenn er nicht begreift, wie es seinem Protagonisten wieder einmal gelang, sich aus der Affäre zu ziehen, sich einer verdienten Strafe oder wenigstens der öffentlichen Schande zu entwinden.
Gropius’ gesamtes Leben erscheint als eine Folge von Betriebsunfällen. Dass er Direktor des Bauhauses wird: eine tragische Fehlentscheidung, da er nicht über die eigentlich notwendigen Graduierungen verfügte. So geht es immer fort, eine Schandtat folgt der nächsten, was all jene Leser ermüdet, die nicht bereit sind, sich auf die Verschwörungstheorie à la Polster einzulassen. Die Exmatrikulation eines einst geförderten rechten Studenten traf einen "verstoßenen Jünger". Was auch immer geschieht auf den mit Anhang rund 653 Seiten des Buches: Gropius ist der Misse- und Übeltäter.
Ist dies nur ein langweiliges, oder auch ein bösartiges Buch? Eine Geschichte unter vielen:
Beim Bau seines 1937 mit Marcel Breuer entworfenen Hauses in Lincoln, Massachusetts, durfte der "weibliche Teil der Kleinfamilie mitreden", berichtet Polster im Buch. Tochter Ati beschwerte sich über die Fenster ihres Zimmers, die so hoch angebracht waren, "genau wie in der Siedlung Törten –, dass ein Kind gar nicht hinausschauen konnte." Gropius begründete dies mit dem Schutz der Intimsphäre der Tochter. Dabei gab es keine Nachbarn und Passanten. Ende der Geschichte. Im Radiofeature von 2013 erzählte dagegen Ati: "Ich aber als Kind sagte, das geht doch nicht. Man kann doch nicht ein Fenster so hoch machen wie im Gefängnis. Da hat er es tatsächlich geändert, stellen Sie sich vor. Abgerissen, weil ein zwölfjähriger Frosch sagt: Nein das geht nicht!" Eine etwas andere Pointe.
Ein weiteres Beispiel: Isaacs erzählt, dass Walter Gropius sich kurz vor seinem Tod 1969 persönlich noch um die Gestaltung einer Gaststätte in jener Berliner Hochhaussiedlung "Britz-Buckow-Rudow" kümmerte, die heute Gropiusstadt heißt. Der Biograf beschreibt die Lage im Westen des Wohnhochhauses der Ideal-Baugenossenschaft. Es sei das "letzte Stück Arbeit gewesen, das Walter Gropius noch zu leisten vergönnt war". Polster dazu: Wie es die "Tragik der Geschichte wollte, verlieren sich die Spuren dieses gastlichen Ortes dann irgendwo in den Turbulenzen des 20. Jahrhunderts." Und weiter: "In Wahrheit hat es diese in Beton gegossene Kiez-Kneipe wohl nie gegeben. Alles nur geflunkert. Sie ist in dem Irrgarten, genannt Biografie, nur ein kleiner Nebenweg von jenen unendlich vielen täuschend echt aussehenden Scheinwegen, die alle ins Nichts führen". Ein simpler Telefonanruf bei der Ideal-Baugenossenschaft in Berlin und dem zuständigen Service-Leiter Dirk Mügge, der seit 45 Jahren dort tätig ist, ergibt, dass es sich um den "Ideal-Pavillon" handelt, der mit dem Hochhaus zusammen errichtet wurde. Es ist beileibe keine Bauhaus-Pilgerstätte, aber dort kann man Automaten-Dart spielen, Bier trinken oder an Walter Gropius denken. Zum Beispiel am 5. Juli, wenn er 50 Jahre tot ist. Prost! Oder ganz nach Belieben auch: Hoch die Tassen!
Bernd Polster
Walter Gropius. Der Architekt seines Ruhms
653 S., geb.
Hanser Verlag, München 2019
ISBN 978-3-446-26263-8
32,00 Euro