Alles hat seine Zeit: Leben, Lernen, Lieben – und Design. Befasst man sich innerhalb des Metiers Gestaltung mit dem Thema „Essen und Trinken“, so erkennt man, welch enormer Wandel sich da in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. Geht es beispielsweise um Kaffeegenuss, so denkt heute niemand mehr an das 12-teilige Service, an die hübsche Kanne, in die nach und nach der Kaffee tropft, der langsam in einem Porzellanfilter aufgebrüht wird. Stattdessen geht es um die Bar-Zahl der vollautomatischen Espressomaschine, um Papp- oder Thermobecher und lange Löffel für das Latte Macchiato-Glas. Die Mobilisierung der Gesellschaft sowie die veränderten Trinkgewohnheiten haben Designern ein ganz neues Spielfeld eröffnet. Gleiches gilt für den Fernseher (und natürlich den Computer), dem ein enormer Einfluss auf unser Alltagsleben und unsere Essgewohnheiten zugestanden werden muss: Sitzen Menschen beim Essen auf der Couch, dann sind tiefe Teller oder Schalen, am besten mit einer Art Henkel, praktischer als große flache Teller, von denen Speisen leicht herunter rutschen können.
Aus derart veränderten Gewohnheiten ergeben sich grundlegend andere Fragestellungen: Welche Designklassiker für Tisch und Küche sind noch relevant? Welche Anforderungen muss ein aktuell gestalteter Gegenstand heutzutage erfüllen? Und wie beeinflusst das seine Form? Im Wilhelm Wagenfeld Haus in Bremen ist natürlich der Pionier des Produktdesigns selbst der Ausgangspunkt. Dabei war dem Bauhaus-Schüler das Autorendesign noch fremd, Form und Zweck standen im Fokus: „Ich sehe die künstlerische Wirksamkeit in unseren Industrien als ein individuelles Schaffen, das sich nicht in scheinbaren Originalitäten verliert, sondern vielmehr die Vollendung der Dinge in einer anonymen Formwirkung erkennen muss. Wo Geräte und Möbel dermaßen schön gestaltet sind, dass sie unbeachtet bleiben, wo sie derart leicht und gut ihren Zweck erfüllen, dass niemand erst fragt, wer sie erdacht hat oder von wem die Form sei, da ist jene Haltung als Wesensart erreicht, an die ich denke.“ So zitiert die Bremer Schau Wilhelm Wagenfeld. Ob die Teekanne für die Jenaer Glaswerke, die Salz- und Pfefferstreuer „Max und Moritz“ für WMF oder das Service „Weiss“ für Fürstenberg – Wilhelm Wagenfeld hat Gebrauchsgegenstände gestaltet, die bis heute weltweit bekannt und begehrt sind. Mehr oder weniger dasselbe gilt für die beiden Finnen Tapio Wirkkala und Timo Sarpaneva, die etwas jünger sind als Wagenfeld, aber in Europa und den Vereinigten Staaten als mindestens ebenso stilbildend galten.
Was für ein Wandel hat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts, speziell seit den 1950er und 1970er Jahre vollzogen? Sind die Denkansätze von Wilhelm Wagenfeld und seiner Zeitgenossen, die damals die gesellschaftlichen Veränderungen spürten und in ihre Gestaltung einfließen ließen, noch von Bedeutung und in der Arbeitspraxis von Designern umsetzbar? Diese Fragen stellte die Wilhelm Wagenfeld Stiftung elf internationalen Designern unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen kulturellen Hintergründen: Aldo Bakker, Sebastian Bergne, Naoto Fukasawa, Ruth Gurvich, Alfredo Häberli, Ineke Hans, Kap-San Hwang, Hanna Krüger, Polka, Barbara Schmidt und Scholten & Baijings.
Herausgekommen ist ein originelles Sammelsurium aus ausformulierten Gedanken zum Benutzen von Geschirr, Servietten und Karaffen, zu gesellschaftlichen Veränderungen, Entwürfen und Vorlieben, zur Bedeutung alter und neuer Materialien, Techniken und Dekore. Die Antworten stehen nicht nur auf dem Papier, sie haben auch die Form von Objekten wie Tafelgeschirr und Besteck, Schalen und Holzbretter, Gläser und Kannen, es finden sich aber auch Tüfteleien und kleine Objets trouvés. Zu sehen sind die Gegenstände, die den gegenwärtigen Stand der Dinge in Sachen globale Ess- und Tischkultur wiedergeben, in 2 mal 2 Meter großen Schaukästen. Allein die Objekte Wagenfelds verteilen sich auf zwei Vitrinen, den anderen Gestaltern haben die Kuratoren Beate Manske (Geschäftsführerin des Wilhelm Wagenfeld Stiftung), Jakob Gebert (Professor für Möbeldesign und Ausstellungsarchitektur in Kassel) und Hanna Krüger (Produktdesignerin aus Kassel) jeweils einen beleuchteten Tischkasten gewidmet, wobei die drei Klassiker am Beginn der Ausstellung stehen.
Als Betrachter muss man sich Zeit nehmen. Denn mit dem schnellen Anschauen der Exponate ist es nicht getan. Auch gibt es viel zu lesen: Zitate der Designer an den Wänden und mehr oder weniger ausführliche Erläuterungen auf den umlaufenden Rändern der Schaukästen zu den verwendeten Materialien, den gesellschaftlichen Veränderungen, die das Design beeinflussen, und darüber, wie zweckgebunden oder zweckfrei die jeweiligen Objekte gedacht sind. Originell ist das Thema allemal, ertappt man sich beim Lesen und Betrachten doch selbst dabei, seine eigenen Gewohnheiten zu überprüfen und sich danach zu fragen, ob und wie sich das eigene Verhalten in punkto Essen und Trinken verändert hat.
Und noch etwas ist im Wagenfeld-Haus zu sehen: Ergänzt werden die Exponate nämlich durch Fotografien von Tanja Jürgensen. Die Fotografin aus Kassel gab Bremern aus unterschiedlichsten Berufs- und Altersgruppen Ausstellungsstücke in die Hand und hielt die Interaktion zwischen Mensch und Objekt fest. Manchmal erkennt man auf den Fotos das persönliche Umfeld der porträtierten Personen, wodurch der entscheidende Aspekt von Design beleuchtet wird: Die Gegenstände sind dazu gemacht, benutzt zu werden. Die Fotos dokumentieren somit ganz lebensnah den „Stand der Dinge“.
Vom Stand der Dinge
Bis zum 29. September
Di 15 – 21 Uhr, Mi – So 10 – 18 Uhr
Wilhelm-Wagenfeld-Haus Bremen
www.wwh-bremen.de