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Zurückhaltend statt auftrumpfend: das Gipfelrestaurant auf dem Chäserrugg von Herzog & de Meuron.

Winterharte Häuser 2
Geborgen auf dem Gipfel

von Florian Heilmeyer | 21.11.2016

Mal ehrlich: Wer besteigt denn schon einen Berg und erzählt nachher nichts davon. All die Mühen und Glücksmomente wollen doch geteilt werden! Schnell werden noch ein paar Selfies mit erschöpfter, aber glücklicher Miene auf dem Gipfel geschossen. Nein – wer einen hohen Gipfel erklimmt, der will, der muss darüber sprechen. Und so sehen auch viele Gebäude aus, die auf Bergspitzen errichtet werden: wie stolze Bezwinger der Bergwelt, zur Hälfte noch mutig über dem Abgrund baumelnd. Yes we can! Macht euch die Berge Untertan.

Die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron haben sich solcher Unterwerfungsmetaphorik enthalten. Ihr Entwurf für eine Gipfelstation und eine neue Kabinenbahn in der Ostschweiz ist stattdessen eine architektonische Übung in Bescheidenheit, ja geradezu in Unsichtbarkeit angesichts eines überwältigenden Bergpanoramas ringsum. 

Der Entwurf der neuen Gipfelstation umarmt auch die vorhandene Seilbahnstation, die neue Holzhaut macht aus Alt- und Anbau eine Einheit.

Zunächst ging es im Jahr 2011 darum, im Auftrag der Toggenburg-Bergbahnen eine Konzeptstudie für die sanfte Entwicklung des Tourismus im Gebiet Obertoggenburg zu erstellen. Im Mittelpunkt der Studie stand ein Berg mit dem wunderbaren Namen Chäserrugg – wie das klingt, wenn ein Schweizer diesen Namen ausspricht, lässt sich an der Schreibweise erahnen. Der Chäserrugg ist der östlichste der sieben Churfirsten, seine Spitze liegt 2.262 Meter über dem Meeresspiegel. Von Norden kommend ist er ein sanfter Riese, der geruhsam größer wird, aber nach Süden steht er als imposante, fast 1.900 Meter hohe Felswand über dem Walensee. Für Flachlandbewohner klingt das spektakulär, in der Schweiz ist das aber nur ein Berg unter vielen. So wurde der Chäserrugg zwar schon seit 1972 von einer kleinen Bergbahn erschlossen, die aber nur wenige Fahrgäste anzog. Auf dem Gipfel wartete ein improvisiertes Restaurant in einem kleinen Haus, das ursprünglich nur als temporäre Unterkunft für die Bauarbeiter der Bergbahn errichtet worden war. Der Chäserrugg war einfach nichts besonders Spektakuläres.

Hüttencharakter: Holz bestimmt die Atmosphäre des Baus auch im Inneren.

Von dieser alten Gipfelbebauung haben Herzog & de Meuron das Seilbahngebäude erhalten, ein pragmatischer Stahlbau auf Betonsockel. Das alte Restaurant aber wurde entfernt und stattdessen ein neues Quergebäude an die Bahnstation angefügt, dass sich seitlich über die Bergkuppe streckt. Mit einem großen Fenster öffnet sich der Bau ganz zum grandiosen Bergpanorama nach Süden, wo der Berg steil abfällt. Altes und neues Gebäude wurden dann außen mit demselben Holz umfangen, und ein großes, gemütliches Dach sitzt über allem, sodass Alt- und Neubau als Einheit wirken. Die Holzteile wurden von lokalen Handwerkern im Tal aus heimischer Lärche vorfabriziert und im Sommer auf dem Berg montiert. Der Innenausbau konnte im folgenden Winter erfolgen. Den Architekten ging es um einen ganzheitlichen, nachhaltigen Ansatz, der mit allen Ressourcen schonend umgeht: So wurde nur der Montagekran mit dem Helikopter gebracht, alle anderen Teile konnten mit der Gondelbahn bei laufendem Betrieb geliefert werden. Für den Beton wurde der aufbereitete Aushub direkt als Kieszuschlag verarbeitet.

Wenigstens ein wenig waghalsig: die Terrasse am Gipfelrestaurant hängt ein bisschen über dem Abgrund.

Der Ausdruck des Gebäudes ist insgesamt pragmatisch und schlicht, es wirkt eher wie eine große Scheune als wie eine Bergstation. Sein Holzdach trägt es tief heruntergezogen, wie einen großen Hut bei kaltem Wetter, und die eng gestellten Holzstützen sind Hinweis darauf, welche schweren Lasten hier oben getragen werden müssen. Im Inneren vermitteln Atmosphäre und Akustik des Holzes zusammen mit der offensichtlichen Stabilität der gesamten Architektur ein Gefühl von verlässlicher Geborgenheit. Zwar bietet sich hier ein spektakuläres Panorama durch die drei verglasten Seiten, aber wer den Atem anhalten will muss schon auf den kleinen vorgelagerten Balkon treten, der wenigstens ein wenig über den Abgrund hinausragt. Wie um die Geborgenheit hier noch etwas zu stärken, kommt das Dach über dem Balkon ganz tief herunter.

„Wir haben versucht, mit Holz eine Sprache zu entwickeln, die ins Toggenburg passt, ohne in die Falle gängiger Alpen-Klischees zu tappen“, erzählt Christine Binswanger, die das Projekt für Herzog & de Meuron gelenkt hat. „Es ging darum, einen Ort zu schaffen, der zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter Charakter hat, eine Stimmung zu schaffen für Skifahrer, die es eilig haben, aber auch für Wanderer oder andere, die hier ihre Ruhe suchen.“

Von der anderen Seite führt nun eine neue Gondelbahn auf den Chäserrugg hinauf. Die drei Gebäude dafür entwarfen ebenfalls Herzog & de Meuron.

Im Januar 2016 wurde der zweite Abschnitt des Projektes fertig: eine Kabinenbahn, die den Chäserrugg zusätzlich von einer anderen Seite her erschließt. Sie erweitert das Skigebiet um ein paar Pistenkilometer und führt aus Espel kommend über eine Mittelstation auf etwa 2.000 Meter hinauf – endet also deutlich unter der neuen Gipfelstation mit ihrem spektakulären Restaurant. Berg- und Talstation der neuen Kabinenbahn ähneln in der Gestaltung der Station am Gipfel: sie sehen aus wie Scheunen, aus denen jedoch überraschend Gondeln herausfahren. Dadurch sollen sie – anders als sonst übliche Stationen mit ihrer High-Tech-Ästhetik – vor allem im Sommer besser mit der Landschaft und den hier üblichen Bautypologien harmonieren.

Sowohl die Berg- als auch die Talstation der neuen Gondelstrecke bestehen aus Stahlkonstruktionen auf soliden Betonfundamenten. Während der Sockel der Talstation flach über dem Boden liegt, wurde er bei der Bergstation so hoch aufgeständert, dass darin Pistenfahrzeuge geparkt werden können. Dächer und Wände wurden mit grauen Faserzementplatten bedeckt, deren Farbe und Struktur an verwitterte Holzställe erinnern soll, so die Architekten.

Die Tal- und Bergstation der neuen Gondelbahn sehen wie große, einfache Scheunen aus.

Die Gestaltung der Mittelstation weicht von den beiden anderen ab. Hier orientierten sich die Architekten, sagen sie, an den Lawinenschutzstollen, mit denen viele Straßen im Alpenraum geschützt werden: Es dominiert der rohe Beton. Das Dach ist an außen sichtbaren, fächerförmig aufgestellten Trägern aufgehängt und zeichnet den leichten Knick nach, den die Gondelbahn hier vollführt. Zwischen den Überzügen auf dem Dach wurde etwas Erde und Geröll gestreut, was zusätzlich an übliche Lawinenschutzmaßnahmen erinnert. Tatsächlich kommen an dieser Stelle gelegentlich Lawinen vor, so dass die Gestaltung hier nicht nur Ästhetik, sondern auch Funktion ist. Die Mittelstation kann außerdem mit Türen vollständig verschlossen werden, denn hier werden in den Betriebspausen der Bahn alle 78 Gondeln geparkt.

Die Mittelstation zeichnet die Biegung der Gondelbahn nach.
Die fächerförmig aufgestellten Dachträger aus Beton erinnern an Schutzbauten – wie die Lawinenstollen an den Autobahnen in den Alpen.

Mit dieser deutlich an einfachen, ländlichen Typologien orientierten Architektursprache setzen Herzog & de Meuron fort, was sie in Projekten wie dem Parrish Museum auf Long Island (2012) oder dem Slow Food Pavilion für Carlo Petrini (2015) schon gezeigt hatten – und eine vernakulär inspirierte Architektur, mit der sie sogar jüngst den Wettbewerb für das neue „Museum des 20. Jahrhunderts“ mitten in Berlin gewinnen konnten. Es ist eine Architektur der Neuen Einfachheit oder sogar: Bescheidenheit und man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Herzog & de Meuron vor allem austesten wollen, wie weit sie damit heutzutage kommen können. Auf dem Gipfel des Chäserrug, auf Long Island oder auf dem Kulturforum in Berlin. Das ist so bescheiden, dass es schon fast sensationell ist.