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Gewölbekunst
28.05.2012
John Ochsendorf ist Professor für Bautechnologie am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Foto © Michael Freeman

Gewölbe sind hohe Kunst. Aller Anfang war das Pantheon in Rom. Trotz vieler Beispiele der Moderne ‒ Le Corbusiers mediterrane Tonnengewölbe, Pier Luigi Nervis fantastische Betonkuppeln, Eero Saarinens fliegende Raumschwünge und Louis Kahns archaische Backsteinbögen – scheint die Begeisterung fürs Gewölbe in den zurückliegenden fünfzig Jahren gering gewesen zu sein. Da sticht nun die Londoner Blavatnik School of Government besonders hervor, die von den Schweizer Architekten Herzog & de Meron bis 2015 erweitert wird. Geplant ist unter anderem eine in Fischgratmuster weiß gekachelte Gewölbedecke: Ein unverkennbares Zitat des großen Rafael Guastavino (1842-1908), der wie kaum ein anderer wusste, wie gewölbte Decken öffentliche Räume formen können.

Guastavinos dünnschalige katalanische Gewölbe sind heute noch in über tausend amerikanischen Bauten zu finden, allein zweihundert stehen in Manhatten – ob Grand Central Station, Ellis Island Hall oder Carnegie Hall. John Ochsendorf, Professor für Bautechnologie am renommierten Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, und Autor von „Guastavino Vaulting: The Art of Structural Tile“, erforscht seit zehn Jahren die historische Bautechnik des katalanischen Gewölbes und ihre Potenziale für ein modernes nachhaltiges Bauen. Nora Sobich sprach mit John Ochsendorf.

Nora Sobich: Der Name Rafael Guastavino ist heute kaum mehr bekannt. Vor hundert Jahren war das anders.

John Ochsendorf: Es ist die Geschichte eines Industriearchitekten aus Valencia, der in Barcelona viele Jahre gearbeitet hat, bevor er dann nach Amerika kam. Bis in die vierziger Jahre war seine Firma sehr erfolgreich. Wir kennen heute längst noch nicht alle seiner Gewölbesysteme. Jeden Monat entdecken wir ein neues.

Die Konstruktionsweise des sogenannten Ziegelleichtgewölbes, wie das katalanische Gewölbe auch heißt, wirkt in ihrer Materialgerechtigkeit ungemein modern, wie eine perfekte Umsetzung von Sullivans „Form follows function“.

Ochsendorf: Guastavino stand zwischen den Maurermeistern der Gothischen Periode und der Moderne. Seine Gewölbe sind wie die der Kathedralen oder des Pantheon echte Mauergewölbe, nur dass er sehr dünne Ziegeln verwendet hat. Eines seiner größten Gewölbe hat einen Durchmesser von 30 Metern bei einer kaum 15 Zentimeter dicken Schale.

Mit dieser erstaunlichen Technik haben Sie am MIT auch schon einige Gewölbe nachgebaut ...

Ochsendorf: An diversen Orten der Welt wird ja noch so gebaut, besonders in Spanien. Aber erst langsam begreifen wir wieder, welche Effizienz und Schönheit in diesen Formen steckt. Guastavinos spriralförmige Treppenhäuser waren dreidimensionale Konstruktionen, die ganz ohne Stahl und Beton auskamen. So was können wir heute gar nicht mehr nachbauen. Selbst für Ingenieure ist ihre Stabilität nicht nachweisbar. Ironischerweise musste Guastavino vor hundert Jahren aber schon 45 Tonnen Sandsäcke anschleppen lassen, um den New Yorker Baubehörden zu beweisen, dass sein berühmtes Treppenhaus stabil ist. All das ist sehr faszinierend.

... und ziemlich erstaunlich in Zeiten, wo Zaha Hadid gewagteste Baukörper mit modernster Computertechnik entwirft.

Ochsendorf: Architekten wie Zaha Hadid konzipieren Formen, indem sie Geometrie erforschen. Da gibt es keine Schwerkraft. Ingenieure müssen deswegen einiges tun, um solche Bauten später zum Stehen zu bringen. Während die Formen des katalanischen Gewölbes auf natürliche Weise stabil sind. Es sind strukturelle Formen. Wir sind jetzt dabei, eine Computersoftware zu entwickeln, die uns erklären soll, warum das so ist und wie sich mit dieser Technik neue Formen á la Zaha Hadid entwickeln lassen, nur mit mehr Bewusstsein für die Schwerkraft.

Bei aller Schönheit der Gewölbe, Guastavino war auch ein Geschäftmann, wie der Name seiner Firma, in der später auch sein Sohn mitarbeitete, verrät: „Guastavino Fireproof Company“...

Ochsendorf: Das Attribut „feuerbeständig“ verschaffte Guastavino die Möglichkeit, mit seinen Gewölbesystemen einen Fuß in die Neue Welt zu kriegen. Feuerresistenz war damals in den größtenteils noch in Holz gebauten amerikanischen Städten von großem Vorteil.

Für wohlhabende Privatkunden hat Guastavino – von einigen schönen Ausnahmen wie die Tennishalle für die Vanderbilts abgesehen – kaum gebaut, sondern vor allem im öffentlichen Bereich ...

Ochsendorf: Ja, es war die Zeit der „City Beautiful“-Bewegung. Schöne urbane Stadträume wurden geschaffen, um auch mit den europäischen Metropolen mithalten zu können. Aufwendige Gewölbe waren also gefragt.

Die Technik des Ziegelleichtgewölbes, wie Sie schreiben, ist im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte aber radikal vergessen worden. Warum?

Ochsendorf: Die Moderne war natürlich auch verdrängend. Nehmen Sie bloß eine der großen Ikonen der modernen Architektur, Mies van der Rohes Barcelona Pavillon von 1929, ein wunderschönes lineares System. Das Fundament ist ein doppelkurviges, dünnschaliges Backstein-Gewölbe. Es wurde aber im Untergrund versteckt, weil es nicht zu den ästhetischen Idealen der Moderne passte.

Für Ihre Forschungsarbeiten ist vor allem das „Lernen“ von historischen Bautechniken zentral?

Ochsendorf: Neue Möglichkeiten des Bauens aus der Geschichte zu entwickeln, halte ich für entscheindend. Es ist heute eine Herausforderung zu beweisen, dass historische Konstruktionsysteme für die Zukunft geeignet sind. Ein wichtiger Vorteil dieser Bauweisen besteht ja darin, dass hier ausschließlich Naturmaterialien zum Einsatz kommen.

... allerdings erfüllen sie nicht die Anforderungen der heutigen Sicherheits- und Baugesetze.

Ochsendorf: Wie gesagt, für Ingenieure ist es oft schwer, die Stabilität solcher Systeme zu erklären. In heutigen Bauordnungen ist deswegen für solche Gewölbesysteme wenig Platz, obwohl unsere Vorfahren ja über Jahrhunderte diese Bauweisen entwickelt und angewandt haben und genauso klug waren wie wir. Die modernen Bauordnungen sind vornehmlich für Industriematerialien entwickelt.

Guastavino besaß diverse Patente. Hat er denn das historische Gewölbesystem so nennenswert weiterentwickelt?

Ochsendorf: Darüber wird eine Debatte geführt. Die Gewölbetechnik, die ihre Ursprünge in der maurischen Architektur hat, geht in der mediterranen Gegend um Barcelona und Valencia ja über sechs Jahrhunderte zurück. Die Guastavinos, also Vater und Sohn, waren aber sehr innovativ. Sie haben diese Technik permanent den Erfordernissen des Marktes angepasst. So entwickelten sie zusammen mit einem Physiker der Harvard Universität eine Akustik-Kachel, die mit kleinen Löchern versehen war, um Geräusche zu absorbieren. Erst dadurch wurde es möglich, riesige Bahnstationen und Museen mit gewölbten Decken auszustatten. Manche meinten allerdings, die Guastavinos hätten persönlichen Gewinn aus einem Nationalgut gezogen.

Guastavino hatte auf Barcelona’s wegweisende Modernisme Bewegung nachweisbaren Einfluss, wie Sie schreiben. Auch auf den etwas jüngeren Antoni Gaudí?

Ochsendorf: Es gibt Hinweise, dass Gaudí tatsächlich Guastavinos 1903 in Nordspanien gebaute Asland Zement Fabrik aufgesucht hat. Gaudí war natürlich viel innovativer und hat die Gewölbetechnik in eine ganz neue Richtung gebracht, etwa bei seiner Casa Milà in Barcelona. Guastavino ging es weniger um die Ehrlichkeit der Konstruktion als um die dekorative Kraft der Kachelmuster, die aber auch für Gaudí später wichtig wurde.

Die Geschichte der Guastavinos ist also immer auch die Geschichte der ästhetischen und konstruktiven Anpassung einer traditionellen Bauweise an hohe Stückzahlen und einen, wenn man so will, modernen Mainstream-Markt?

Ochsendorf: Ja. In Amerika bekamen die Guastavinos die Chance, diese traditionelle Konstruktionsweise in einer Größenordnung zu betreiben, die in Spanien natürlich niemals so möglich gewesen wäre.

Die Handwerksleistung wirkt dennoch sehr aufwendig. Wie viele Handwerker waren bei den Guastavinos beschäftigt?

Ochsendorf: Das wissen wir leider nicht. Allein in zwölf verschiedenen amerikanischen Städten hatte die Firma während ihrer Blütezeit Dependancen.

Gibt es denn keine Aufzeichnungen? Die Guastavinos haben ja relaltiv lange gelebt, bis 1962.

Ochsendorf: Wenige und auch nur aufgrund eines Zufalls. Anfang der sechziger Jahre, als Guastavino schon völlig vergessen war, fiel dem amerikanischen Gaudí-Experten George R. Collins an der gewölbten Decke der Columbia-Universitäts-Kirche in New York auf, dass sie das gleiche Kachelgewölbe hatte wie viele Gaudí-Bauten in Katalonien. Er begann zu recherchieren und rief bei der Guastavino Company in Massachusetts an. Dort sagte man ihm, dass die Firma gerade ihre Tore geschlossen habe. Alle Unterlagen waren bereits im Müllcontainer gelandet. Collin konnte nur noch einige Zeichnungen und Briefe retten.

Noch mal zum Ende dieser spanischen Pioniere: lässt sich eine so fabelhafte Handwerks- und Konstruktionsleistung also doch nicht im großem Stil umsetzen?

Ochsendorf: Ja, aber Kosten sind natürlich immer auch relevant. Wenn wir jetzt die Potenziale dieses Systems neu bedenken, gilt das unbedingt zu berücksichtigen. Gutes, modernes Bauen in einer um Nachhaltigkeit bemühten Welt schließt ja die Frage mit ein, was das genau für Kosten sind, mit denen man umgeht. Gewölbe aus einfachsten Naturmaterialien sind eben nicht nur schön, sie sind vor allem auch haltbar und materialgerecht und insofern sehr effizient und kostensparend. Indem wir hier also zurückschauen, schauen wir unbedingt auch in die Zukunft.

Guastavino Vaulting: The Art of Structural Tile
Von John Allen Ochsendorf
Hardcover, 255 Seiten, Englisch
Princeton Architectural Press, Princeton, 2010
48,99 Euro
www.papress.com

John Ochsendorf ist Professor für Bautechnologie am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Foto © Michael Freeman
Gebäude im Bronx Zoo, New York, Foto © Michael Freeman
Subway-Station City Hall, New York, Foto © Michael Freeman
Great Hall auf Ellis Island, New York, Foto © Michael Freeman
Oyster Bar in der Grand Central Terminal-Station, New York, Foto © Michael Freeman
Halle des Queensborough Bridge Market, New York, Foto © Michael Freeman
Treppenaufgang in der St. Pauls Chapel, New York, Foto © Michael Freeman