Die Frauen sind los!
Der Libanon ist reich kreativen Talenten und verstärkt treten auch weibliche Positionen in den Vordergrund. Insbesondere Designerinnen um die Vierzig werden sichtbarer, darunter Roula Salamoun, Stephanie Moussalem und Carla Baz. Den Boden bereitet für solche Erfolge haben vor allem zwei Kreative: Nada Debs und Karen Chekerdjian. Sie sind Vorreiterinnen – nicht nur dafür, dass es in einem patriarchalisch geprägten und konservativen Land wie dem Libanon möglich ist, als Gestalterin Erfolg zu haben. Sie waren auch die ersten Designerinnen, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren das libanesische Handwerk (wieder-)entdeckten, mit ihren Entwürfen verwoben und einen zeitgemäßen Look verpassten.
Eine neue Zeitrechnung
Debs wie auch Chekerdjian arbeiten nach wie vor im Designbusiness, allerdings nicht mehr nur allein in Beirut, sondern an ihren Zweitwohnsitzen Dubai und Paris. Denn nichts im Libanon ist mehr so wie vor dem 4. August 2020. An diesem Tag zerstörte eine verheerende Ammoniumnitrat-Explosion im Hafen von Beirut große Teile der Stadt, darunter auch zahlreiche Designstudios – während sich das Land bereits in einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise befand. Von diesem herben Schlag hat sich die Kreativszene der Stadt noch nicht wieder erholt. Fast alle der hier portraitierten Designerinnen verloren ihr Hab und Gut, mit dem Verlust ihrer Studios ihre Lebensgrundlagen und mussten ganz von vorn beginnen. Auch wenn sich einige Gestalterinnen wie Tamara Barrage und Carla Baz nach der Explosion dazu entschlossen haben, ins Ausland zu ziehen – die Bande zur Heimat bleiben eng. Generell ist die Beiruter Architektur- und Designszene gut untereinander vernetzt. "Die Kreativen waren schon immer diejenigen im Libanon, die Grenzen gesprengt haben in einem Land, das sehr konservativ und religiös ist", sagt der Grafikdesigner und Copywriter Philippe Ghabayen, ein Kenner der Szene.
Arbeiten im Netzwerk
Das Entwerfen von Möbeln, Leuchten und Accessoires bedeutet im Libanon vor allem eines: Arbeiten im Editionsdesign. Da es in dem Land keine führenden produzierenden Unternehmen gibt, ist das Industriedesign wie wir es von Europa kennen, quasi nicht vorhanden. Und so verkaufen auch die Designerinnen ihre Arbeiten vor allem in eigenen Webshops, über (internationale) Galerien und Messen oder als Einzelanfertigungen für bestimmte Projekte. Viele von ihnen sind vorrangig als Interiordesignerinnen und Architektinnen tätig und arbeiten für private KundInnen, beziehungsweise AuftraggeberInnen wie Restaurants und Hotels. Ein familiärer Hintergrund, der ihnen ein finanziell unabhängiges Arbeiten ermöglicht, ist unter den derzeit unwägbaren Umständen für die DesignerInnen dabei entscheidend.
Der Staat und die staatlichen Organisationen funktionieren im Libanon längst nicht mehr, weshalb auch die Designszene zunehmend von der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) abhängig ist – sei es, um finanzielle und organisatorische Hilfe zu erhalten oder wenigstens Sichtbarkeit auf dem (internationalen) Designparkett. In Beirut gibt es einige von Frauen gegründete NGOs, die sich direkt oder indirekt mit Design beschäftigen und auch gezielt GestalterInnen fördern. House of Today beispielsweise bietet libanesischen DesignerInnen nicht nur eine öffentliche Bühne auf Messen wie Veranstaltungen, sondern vermittelt auch HandwerkerInnen, ProduzentInnen und unterstützt den Vertrieb ihrer Entwürfe. Gegründet wurde House of Today von der Innenarchitektin Magrabi Tayeb, die eigentlich im Familienunternehmen arbeitet, einer Optikerkette mit 200 Filialen. Im November 2022 konnte so ein großer Messetand auf der Downtown Dubai bespielt werden – unter anderen mit Arbeiten der libanesischen Designerinnen Stephanie Moussalem und Roula Salamoun.
Dabei ging es auch darum, "einen Fuß in den Markt des Nahen Ostens" zu bekommen, wie Mattia Tebasti sagt, der die NGO zusammen mit Charbel Abi Azar inhaltlich positioniert. House of Today ermöglichte Moussalem – eine der derzeit erfolgreichsten libanesischen Designerinnen – vor zwei Jahren zudem einen Arbeits- und Rechercheaufenthalt in Neapel. Aus der Zusammenarbeit mit dort ansässigen HandwerkerInnen entstand die Leuchtenkollektion "Shades of Napoli", die während der Designveranstaltung Edit Napoli erstmals gezeigt wurde. "Uns ist bewusst, dass es für DesignerInnen wichtig ist zu reisen", sagt Tebasti. "Weil die wirtschaftliche Situation im Libanon immer schlechter wird, vergeben wir Stipendien, knüpfen Kontakte und unterstützen sie bei der Herstellung ihrer Objekte."
Aufmerksamkeit als Währung
Auch andere NGOs involvieren zunehmend Designerinnen in ihre Arbeit, wenn auch nur indirekt. Zwar werden sie für ihre Entwürfe oft nicht bezahlt – da die NGOs anderen Zwecken dienen – bekommen aber wenigstes mehr Sichtbarkeit. So arbeiten Pascal Habis und Zeina Raphael mit ihrer NGO The Ready Hand gerade an einer Kollektion von Designobjekten, die im Herbst in London für den guten Zweck versteigert werden sollen und an der Designerinnen wie Paola Sakr und Tatiana Akl beteiligt sind. Maya Chams Ibrahimchah unterstützt mit ihrer NGO Beit el Baraka ältere Menschen und Familien im Libanon. Teil der Organisation ist Beit Kanz – eine restaurierte historische Villa im Stadtzentrum von Beirut, die für ein Restaurant und zwei Läden umgenutzt wurde. In einem der Shops werden libanesische Designobjekte für den guten Zweck verkauft. Unter der Ägide der Kuratorin Hala Moubarak entsteht derzeit in Zusammenarbeit mit libanesischen HandwerkerInnen eine Kollektion, die Mitte November 2023 vorgestellt werden wird. Mit von der Partie sind auch libanesische Designerinnen wie Céline und Tatiana Stephan von Architectures et Mécanismes. Und dann wartet die Stadt gespannt auf ein Designevent, das Ende Oktober stattfinden wird: We Design Beirut. Teil der Veranstaltung wird eine von Joy Mardini und William Wehbe kuratierte Ausstellung in der von der Explosion stark zerstörten Villa Mokbel sein. Und natürlich tauchen auch dort ein paar altbekannte (weibliche) Gesichter auf, aber auch einige junge Designtalente: Nada Debs, Karen Chekerdjian, Roula Salamoun, Sabine Skayem und Bruna Teeny von Ýakin sowie Maria Yared.
Fünf Designerinnen aus Beirut, die uns aufgefallen sind:
Roula Salamoun
Die Architektin und Designerin Roula Salamoun teilt sich ihr Studio im Beiruter Stadtteil Hamra mit ihrem Vater, einem Hoch- und Tiefbauingenieur, mit dem sie manchmal auch zusammenarbeitet. Das Haus stammt aus den Siebzigerjahren – betritt man es, begibt man sich auf eine Zeitreise. Salamouns Reich besteht aus zwei Räumen: einem Büro mit einer für Beirut typischen, steinernen Brise Soleil und dem eigentlichen Studio. Auf Arbeitstischen und in Vitrinen sind Prototypen und Materialproben platziert. Man sieht, dass es die Designerin liebt zu experimentieren. Gern beschreitet Salamoun auch neue Wege außerhalb des klassischen Produktdesigns, wie ihre Kooperation mit der libanesischen Restaurantkette Em Sherif zeigt, für die sie süße libanesische Köstlichkeiten (Maamoul) entwarf. Deren ungewöhnliche Form ist von Salamouns Möbelentwürfen wie dem "Archipelago Chair" und dem "Strata Table" inspiriert. Salamoun hat wie die meisten Kreativen in Beirut darüber nachgedacht, das krisengeschüttelte Land zu verlassen. Doch sie habe viele Aufträge im Libanon und auch die Produktion ihrer Objekte finde dort statt – deshalb will sie bleiben, erzählt sie uns bei einem Gespräch im legendären Sporting Club in Beirut. Gerade arbeitet Salamoun an ihrer Präsentation in der Villa Mokbel, die anlässlich der Designveranstaltung We Design Beirut Ende Oktober stattfindet. Dafür wird sie ihre bestehenden Kollektionen um neue Formen und Farben erweitern.
Carla Baz
Carla Baz lebt inzwischen in Dubai, ist aber nach wie vor eng verbunden mit der Beiruter Designszene. Ihre elegant-raffinierten Entwürfe wie Möbel und Leuchten werden im Libanon handgefertigt – aus Materialien wie Messing, Naturstein und satiniertem Glas. Letzten Herbst zeigte sie mit Installation "Neo-Oriental Boudoir" in Abu Dhabi, dass ihre Talente in verschiedenen gestalterischen Disziplinen liegen, was sie auch ihrer Ausbildung zu verdanken hat. Sie studierte Interiordesign in Paris sowie Produktdesign an der ECAL in Lausanne und arbeitete für Zaha Hadid und Vivienne Westwood. Die Objekte der Mittdreißigerin werden von Handwerkern im Libanon gefertigt, so beispielsweise die elegant-reduzierte Wandleuchte "Oyster" aus Messing und satiniertem Glas. Ebenfalls aufwendig in der Herstellung ist die Tischleuchte "Monarch", die durch die Verwendung von Natursteinen wie Guatemala Verde, Rosso Alicante und Tala Marron sehr opulent wirkt. Vor kurzem wurde im libanesischen Kfour das Luxus-Gästehaus "Indira" eröffnet, welches einst ihr Elternhaus war und für das Carla Baz in Zusammenarbeit mit Carole Tarazi Nasnas das eklektische Interiordesign entworfen hat.
Stephanie Moussalem
Ebenso wie Carla Baz arbeitet auch Stephanie Moussalem gerade an einem Projekt über libanesische Tischkultur, das die Designexpertin Hala Moubarak für die NGO Beit el Baraka kuratiert. Nachdem die Interior- und Produktdesignerin einige Jahre bei Karim Chaya und Spock Design tätig war, macht sie sich 2015 mit einem eigenen Studio in Beirut selbständig. Wie viele libanesische Designerinnen arbeitet Moussalem multidisziplinär – und pendelt zwischen Interiordesign-Projekten und Collectible Design. Dabei interessiert sie sich insbesondere für handwerkliche Techniken und Materialien wie Holz und Glas, wie ihre Leuchtenkollektion "Shades of Napoli" zeigt, die in Kooperation mit Fondazione Made in Cloister, Edit Napoli und House of Today entstanden ist. Dafür tauchte Moussalem tief in die traditionellen napolitanischen Handwerkstechniken und die Kultur der Stadt ein.
Tamara Barrage
Dass geförderte Arbeitsaufenthalte unabdingbar sind für die kreative Entfaltung von Designerinnen sowie um Netzwerke zu bilden und internationale Aufmerksamkeit zu schaffen, kann man auch am Beispiel von Tamara Barrage sehen. Letzten Sommer verbrachte Barrage mit Unterstützung von House of Today einige Wochen in Österreich, wo sie zusammen mit fünf anderen DesignerInnen mit dem Werkstoff Glas gearbeitet hat. Im Mai diesen Jahres stellte sie die entstandenen Arbeiten – zwei monumentale Kerzenleuchter, die in der Wiener Glaswerkstatt von Studio Comploj gefertigt wurden – in einer Ausstellung auf Schloss Hollenegg vor. Die in Dubai ansässige libanesische Designerin, die an der Design Academy Eindhoven kontextuelles Design studiert hat, interessiert sich insbesondere für die taktilen und sensorischen Eigenschaften verschiedener Materialien und bewegt sich bei ihren Projekten oft auf der Grenze zur Kunst. Gerade arbeitet Barrage in Kooperation mit House of Today und anderen Designerinnen wie Nada Debs und Shirine Sbaiti an einer Kerzenkollektion, die im Oktober 2023 anlässlich der Designveranstaltung We Design Beirut präsentiert wird.
Sibylle Tarazi
Sibylle Tarazi trafen wir vor kurzem zur Wiedereröffnung des bei der Explosion stark zerstörten Sursock Museums. Im Museumsshop werden einige Objekte libanesischer Gestalter verkauft, darunter ihr Entwurf Semperviren – drei sich ergänzende Marmortabletts in organischer Form. Die Designerin arbeitet oft mit Naturstein wie Onyx, Travertin und Marmor und erzählt, dass die Produktionsbedingungen im Libanon seit Beginn der Krise immer schwerer würden und viele Handwerker das Land bereits verlassen hätten. Tarazi entwirft handwerklich aufwendig gefertigte Einzelanfertigungen für private Auftraggeber. Man merkt der Designerin und ihren Arbeiten den künstlerischen Hintergrund an – sie studierte Grafikdesign und bildende Kunst an der American University of Beirut sowie Schmuckdesign an der Domus Academy in Mailand. Und so kann es sein, dass vergoldete Insekten aus Messing über die von ihr entworfenen Tische und Spiegel krabbeln.