Der Riese macht Platz
Die Niederländische Architektur ist für ihren unkonventionellen Umgang mit Gestalt und Nutzungsmischung bekannt. Als um die Jahrtausendwende das Buch "Superdutch" erschien, sprach die gesamte internationale Architektenszene von der Innovationskraft junger holländischer Büros. NL Architects waren die Ersten, die neben MVRDV, Mecanoo und natürlich OMA jedem in diesem Zusammenhang sofort in den Sinn kamen. 2008 versetzte die Weltfinanzkrise der niederländischen Wirtschaft einen harten Schlag. Die Aufträge für Architekten brachen um bis zu 70 Prozent ein. Eine komplizierte Zeit für NL Architects, die in den schwierigen Jahren nur dank Projekten in China über die Runden kamen. Doch die Amsterdamer Architekten bewiesen einen langen Atem. Das gilt auch für das Forum Groningen. 2007 hatten sie mit ihrem Entwurf den Wettbewerb gewonnen, doch erst 2019 wurde der Bau fertiggestellt. Zwischen Wettbewerbserfolg und Fertigstellung lag eine lange Zeit des wirtschaftlichen Stillstandes in der viele niederländische Kommunen jeden Cent sparen mussten. Doch diese Zwangspause hat der architektonischen Idee keinen Abbruch getan – was ein eindeutiges Zeichen für die Qualität des Bauwerks ist. Denn mit dem Forum haben NL Architects ein radikales wie konsequentes Projekt entworfen, das sich mit wichtigen Fragen beschäftigt: Wie gehen wir mit dem zunehmenden Verlust des öffentlichen Raumes um? Wie kann man kulturelle Einrichtungen in den Alltag einweben? Wie schaffen wir Berührungspunkte zwischen Menschen und Räumen, zwischen digitaler und physischer Welt?
Antworten darauf formuliert das Bauwerk: Es ist keine Bibliothek, kein Museum, kein Kino. NL Architects haben mit dem Forum Groningen ein öffentliches Gebäude entwickelt, das typologisch mit dem Centre Pompidou verwandt ist. In der Architekturgestalt ist die Verwandtschaft zwar nicht auf den ersten Blick erkennbar – sieht man von der Wuchtigkeit beider Bauten einmal ab – wohl aber in den Werten und Anforderungen: Beides sind Orte, an denen die traditionellen Grenzen zwischen unterschiedlichen Angeboten vermeintlich hoher und populärer Kultur aufgelöst werden. Das Forum Groningen ist aber in seinem Ansatz noch radikaler: Es bildet in seiner Komplexität und Dichte einen ganzen Stadtteil samt öffentlicher Räume.
Der Grote Markt in der historischen Innenstadt, stand in den letzten 20 Jahren im Fokus der städtebaulichen Anstrengungen der Kommune Groningen. Vor allem im Osten des zentralen Platzes der historischen Innenstadt herrschte Leerstand und Verfall. Nach dem Abriss von Gebäuden hat der Grote Markt nun die Form und Fläche zurückbekommen, die er vor dem Zweiten Weltkrieg hatte. Ein neuer Platz – der "Nieuwe Markt" – verbindet den Grote Markt mit dem Forum Groningen, das sich an einer Stelle erhebt, die zuvor von einem Parkhaus besetzt wurde. Wie ein überdimensionaler Findling sitzt der markante Baukörper zwischen der im Norden und Süden angrenzenden Bebauung. Der scharfkantige Monolith ist 45 Meter hoch und verjüngt sich nach oben hin. Die Fassade aus Naturstein spricht in einer in ihrer Ästhetik bekannten Sprache zur Umgebung. Die unterschiedlichen Plattenformate verleihen dem solitären Baukörper eine gewisse Zugänglichkeit. Die Fensterbänder, die scheinbar willkürlich platzierten rechteckigen Fenster und die verglasten Zugänge im Erdgeschoss öffnen das monolithische Gebäude, das wie ein freundlicher Riesen seine Besucher empfängt.
Im Grunde besteht das Forum Groningen aus zwei zehngeschossigen Türmen, die durch das Fassadenkleid zu einem Baukörper zusammengefasst werden. Wer den Riesen betritt, findet sich in einem strahlend weißen Canyon wieder: Wie ein Felsspalt öffnet sich ein überdimensionales Atrium. Rolltreppen erklimmen kreuz und quer die einzelnen Ebenen. Volumen schieben sich in den Luftraum, formen Vor- und Rücksprünge und schaffen öffentliche Plätze auf allen Etagen.
Die angebotenen Nutzungen sind vielfältig: Im Erdgeschoss empfangen dem Besucher ein Café und ein Shop. Darüber sind über zwei Geschosse ein Auditorium und der Jugendbereich der Stadtbibliothek gestapelt. Anstatt die einzelnen Fachbereiche der Bibliothek an einer Stelle zu konzentrieren verteilen die Architekten sie über das gesamte Gebäude. Im vierten bis siebten Geschoss befinden sich die Räume des interaktiven Museums „Storyworld“. Ihm gegenüber liegt das Kino mit fünf Vorführräumen. Auf der Ostseite des Baus gibt es Büro- und Besprechungsräume sowie frei zugängliche Studien- und Arbeitsplätze. Über alle zehn Geschosse haben NL Architects zudem immer wieder unterschiedliche Raumangebote für Talkshows und Konferenzen, Lesungen und Veranstaltungen geschaffen. Im obersten Geschoss befindet sich ein Restaurant. Den Höhepunkt des Forums bildet die öffentliche Dachterrasse.
Trotz der vielen Institutionen, die das Forum Groningen aufnimmt, haben es NL Architects erreicht, dass der Anteil von privater zu öffentlicher Fläche – also Bereiche, für die man nicht ein Ticket kaufen, einen Ausweis beantragen oder etwas verzehren muss – annähernd gleich ist. Die öffentlichen Räume in allen Geschossen des Baus sind wie Stadtplätze für jedermann zugänglich. Sie werden im Zusammenspiel mit den verschiedenen Aktivitäten und Nutzungen zu attraktiven Freiräumen. Das komplexe Struktur des Baus ermöglicht kontinuierlich wechselnde Perspektiven auf die Stadt – und die Dachterrasse einen herrlichen Ausblick. Von hier kann man auch nachvollziehen, dass die gestapelten Plätze des Forums die charakteristische Struktur Groningens fortsetzen – Vismarkt, Grote Markt, Nieuwe Markt und das Forum bilden ein Netzwerk offener Stadträume.