Wer sich erinnert, verklärt nicht selten, was gewesen ist. Gern wird dann die Vergangenheit in die sanften Farben der Versöhnung getaucht. In Delfter Blau und aus der Vogelperspektive betrachtet, hat die Rheinschleife bei Biblis mit den Kühltürmen im Vordergrund durchaus idyllische Qualitäten. Auch die Landschaft am Neckar bei Obrigheim entfaltet ihren ganz eigenen Reiz. Und die Schafe, die unter einem hohen Himmel auf einer Wiese vor dem Druckwasserreaktor Brokdorf weiden, geben der Szene einen heiter-bukolischen Touch. Dabei ist es gerade mal 35 Jahre her, als 100.000 Menschen gegen das mit 1480 MW leistungsstärkste AKW Deutschlands protestierten. Im Oktober 1986 ging es trotzdem ans Netz, als weltweit erste Anlage nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl. All das ist einen Wandteller und eine kräftige Portion Sentimentalität wert – nicht nur bei den alten Atomkraft-Nein-Danke-Kämpfern.
Schon in der frühen Neuzeit war Import-Export ein Synonym für Globalisierung. Im 16. Jahrhundert hatten italienische Handwerker die Fayencetechnik in den Niederlanden etabliert. Allein, es fehlte an Breitenwirkung. Das änderte sich erst, als die Niederländisch Ostindische Kompagnie Anfang des 17. Jahrhunderts chinesisches Porzellan in großen Mengen nach Europa importierte. Nun begann man in verschiedenen Städten Hollands damit, die fernöstlichen Vorbilder zu imitieren und die heimischen Fayencen mit Motiven des importierten blau-weißen Porzellans zu bemalen. Bald fand sich kaum noch ein Teller, Krug oder Spucknapf, kaum eine Vase oder Schüssel, die nicht mit Drachen, Pfauen oder exotischen Blattranken bemalt war.
Allzu lange hielt diese Mode freilich nicht, und so kamen die holländischen Manufakturen auf die schlaue Idee, heimische Motive zu verwenden: von Grachten durchzogene Landschaften, aber auch neueste technische Errungenschaften wie Segelschiffe und Windmühlen als stolze Zeichen der eigenen Überlegenheit. Umgekehrt passten sich die chinesischen und japanischen Hersteller den holländischen Kunden an und kopierten und malten ihrerseits fortan im Delfter Stil entsprechende Motive.
Wenn heute Mia Grau und Andree Weissert in ihrem Atomteller-Projekt sämtliche 19 deutschen Atomkraftwerke von einer Porzellanmalerin in Delfter Blau getaucht auf Wandteller malen lassen, so setzen sie den historischen Transfer von Motiven ebenso fort wie die Gewohnheit, immer das zu verklären, was gerade von neuerer Technik überholt wird. Was Windmühlen früher waren, sind heute AKWs. „Als Kathedralen einer technologischen Weltanschauung“, so heißt es in dem Prospekt zur Serie, „versprachen sie Unabhängigkeit und unendliches Wachstum. Sie sind Zeugnisse einer Epoche, Relikte des Fortschritts und Zeichen einer Zeitenwende.“ Während die Windmühlen dereinst Kraftwerken und Fabriken weichen mussten, kehren heute Windräder in die Landschaft zurück.
Wäre nicht nur hierzulande der Ausstieg aus der nuklearen Energiegewinnung beschlossen, der nostalgische Grundton der Atomteller könnte als ein ermutigendes Zeichen verstanden werden. Wie also wäre es mit einer internationalen Serie? Zwischen Three Mile Island, dem 1979 havarierten Reaktor bei Harrisburg in Pennsylvania, und dem Sarkophag des 1986 explodierten Meilers im ukrainischen Tschernobyl bieten sich noch sehr viele reizvolle Motive an.