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Installation von V-ZUG in der Pinacoteca di Brera

REVIEW – EUROCUCINA & MILAN DESIGN WEEK 2024
Maximale Wertschöpfung

Von Krise nichts zu spüren: Die Küche inszeniert sich auf der diesjährigen EuroCucina in bildgewaltiger Materialität. Maximalismus wird zur Maxime – und selbst das Luxussegment darf sich endlich schmutzig machen.
von Susanne Maerzke | 25.04.2024

Die Küche als selbstbewusstes Statement: Lange galt das als Selbstverständlichkeit. Dann kam die Krise. Und aus der wuchtet sich, das war nun auf dem Salone del Mobile in Mailand ganz deutlich zu spüren, gerade die gesamte Branche heraus. "Mehr ist mehr" schien das unausgesprochene Motto der diesjährigen Küchen- und Möbelmesse zu sein. Das gilt vor allem für die italienischen Unternehmen, die sich mit bühnenreifen Arrangements Gehör in ihrer eigenen Stadt verschaffen. Opulente Kücheninseln, wogende Rundungen und Rillen, zentimeterstarke Steine und ein geradezu unrhythmischer Farb- und Stilmix aus Gold, Pfirsich, Glas, Leder, Stoff und Stahl erzeugen Küchenräume der Superlative, kurzum: Der Maximalismus ist zurück. Deutsche Küchen- und Gerätehersteller geben sich naturgemäß reduzierter, und doch ist auch bei ihnen der Drang nach Präsenz deutlich spürbar. Gewaltige Edelstahlmodule, dunkel gebeiztes Holzfurnier und transluzente Steine mit LED-Lichteinsatz ziehen entlang der Ausstellungen von Poggenpohl, Leicht und Eggersmann alle Blicke auf sich.

Küchenwerkbank von bulthaup

bulthaup: Wandel um 180 Grad

bulthaup wendet sich gar von seiner minimalistischen Askese ab, für die der Luxusküchenproduzent global noch immer viel Zuspruch erhält: "Reduziert auf das Wesentliche" sind die neuen Küchenmodule, mit denen der Hersteller aus Aich die 180 Grad-Wende seines Erscheinungsbilds vollzieht, wenn auch auf ihre eigene Weise. Die Kochwerkbank aus Edelstahl, kurz "KWB", wirkt jedoch eher wie eine experimentelle Dekonstruktion der gehobenen Küche, um jeglichem Ästhetik-Anspruch zu entfliehen und den Fokus auf maximale Funktionalität auszurichten. Was bulthaup zukünftig ausmachen soll, ist eine gewisse "boldness", eine sehr gegenwärtige Daseinsberechtigung von handfesten Materialien aus Massivholz und Stahl – und einen ausgeprägten Werkstattcharakter. Dazu gehören breite Stangengriffe, Metallraster mit Schürhaken zum Einhängen von Kochutensilien und stämmige Sockelfüße, die die starken Konstruktionen unverhohlen tragen. Allein der skulpturale Wandschrank aus massiver Eiche, der mit sichtbarer Verzinkung und verstecktem Apothekerschrank das bulthaup-Prinzip "hiding and exposing space" verkörpert, wiegt rund 630 Kilogramm. Für die Scharniere, die Messing-Rückwand oder das neue Wandsystem mit "Butterfly"-Technik, an dem sich Schrankmodule höchst flexibel in Breite und Höhe montieren lassen, hat sich bulthaup eine eigene Stahl- und Aluminiummanufaktur aufgebaut. Sogar Induktions- und Gaskochfelder stellt der Luxusproduzent ab sofort selbst her; Arbeitsplatten und Armaturen aus Edelstahl sowieso. Kupferfarbene Töpfe und Pfannen lässt die Marke von der französischen Manufaktur Mauviel produzieren – noch. Langfristig will das Unternehmen alles aus eigener Kraft stemmen. "Damit wollen wir maximale Wertschöpfung betreiben", sagt CEO Marc O. Eckert. "Wir nehmen die Dinge selbst in die Hand."

Die neuen Küchenmodule folgen denn auch einem leicht abgewandelten Designprinzip: Statt "form follows function" müsse es "form follows being" heißen, heißt es aus bulthaup-Kreisen. Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Entwürfe. "bulthaup ist keine Küche. bulthaup ist eine Einstellung fürs Leben." Damit soll künftig auch die Nomenklatur von b1, b2 und b3 entfallen, erklärt Marc O. Eckert. Vielmehr biete man eine Schublade, aus der sich PlanerInnen und KundInnen, wie bei einem Lego-System bedienen könne. "bulthaup-Küchenmöbel folgen immer den gleichen Radien: dem goldenen Schnitt. Daraus kann sich jeder seine eigene Welt zusammenstellen, in der man definiert, was Küche für einen selbst ist."

Neueste Generation der "Vario Kühlgeräte-Serie 400" von Gaggenau

Werkstattcharakter

Ähnlich wie bulthaup, wenngleich weniger radikal, rücken auch andere Küchenhersteller von der unantastbaren Perfektion im Küchenraum ab: An die Stelle filigraner Fugenbilder und softer Mattlackhaptik mit Anti-Fingerprint-Schutz rücken Edelstahl- und Aluminiumprofile, die garantiert nicht kratzfest sind. Spiegelfronten, wie sie bei Nolte Neo schon länger im Sortiment sind, wandern auch bei Abimis, Boffi und Aster Cucine oder beim deutschen Premium-Ableger next125 von Schüller ein. Fingerabdrücke, Gebrauchsspuren, nachgedunkeltes Holz oder eine schwielige Patina von Kupfer- und Messingoberflächen? Ist dann eben so. In der Küche wird schließlich gelebt. Es wirkt wie ein Befreiungsschlag von der durchoptimierten Perfektion, die die Küche in den vergangenen Jahren zum Statussymbol erhoben hat. Luxus ja – aber bitte einer, der sich auch schmutzig machen darf.

"Skywalk® design" von Eggersmann

Polygonale Extravaganz

In Szene gesetzt wird der Raum zum Kochen und Essen natürlich dennoch; das zeigen skulpturenhafte Kochblöcke in polygonaler Form, die alle Blicke auf sich ziehen. Nicht nur Eggersmann, erstmalig auf der EuroCucina vertreten, präsentiert ein solches Schmuckstück in Zusammenarbeit mit dem Designstudio Yabu Pushelberg. Auch Häcker Küchen traut sich diese individuelle Kücheninsel zu, die weniger Stauraum denn Extravaganz zu bieten hat. In Kooperation mit dem Natursteinspezialisten Schwanenkamp will das Unternehmen dadurch auch Luxus auf kleinem Raum konzentrieren. Bemerkenswert: Viele Hersteller strecken sich in diesen schwierigen Zeiten nach oben, um die dort verbliebenen Äpfel am Baum zu ernten. Sie bieten exklusive und von Hand bearbeitete Materialien; mehr Farben, mehr Hölzer, mehr Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen. Materialität, Authentizität und eine gewisse Exzentrik zählen. Nur wenige bücken sich nach unten, um den Absatzzahlen gerecht zu werden. Die italienischen Unternehmen schon gar nicht. Sie kleiden ihre Küche als museales Erlebnis aus, für das sogar der Hochglanzlack zurückkehrt – so gesehen bei Veneta Cucine, Scavolini und Boffi. Überhaupt ähneln sich die italienischen Entwürfe untereinander sehr: Alle jonglieren mit rötlichen Tönen, unter denen sich besonders oft die Farbe des Jahres 2019 – "Living Coral" – und der derzeitige Farbtontrend 2024 – "Peach Fuzz", eine softe Pfirsichnuance – wiederfinden. Auch Bordeaux schimmert hier und da durch; häufiger wird der farbgewordene Eisteetraum jedoch mit einem minzigen Grün kombiniert, der nicht so recht zur exklusiven Materialwelt aus Lack, Stein und Metall passen will.

next125 Küche mit Oberfläche aus Spiegelglas Bronze im Pavillon von Francis Kéré

Outdoor als Erlebnis

Selbst in der funktionalen Ausführung ihrer Küchen gleichen sich führende Produzenten wie Minotti, Aster Cucine, Arclinea oder Schiffini einander an: Viele platzieren stapelbare Multifunktionsaufsätze aus Glas, Lack und Gusseisen inmitten ihrer Kochinsellandschaft, in denen sich Küchenutensilien oder Kräutertöpfe anordnen lassen. Die Seitenwange wird indes als nützlicher Stauraum entdeckt, womit zwar Schubladen zur Front hin entfallen, die Küche wiederum aber wirklich von allen Seiten genutzt werden kann. Auch Outdoor wird endlich als Erlebnis zelebriert: Das Thema rückt vom trostlosen Außenzirkel mitten ins Geschehen des Messegeländes ein – und integriert sich dort mit voluminösen Edelstahlblöcken optisch äußerst integer. Kochzeile und BBQ-Gerät werden zunehmend um voluminös angegliederte Esstische und Bar-Aufsätze erweitert, beispielsweise bei Fogher, Officini Fanesi und Sachi. Dennoch haben modulare Einzelgänger nach wie vor ihre Berechtigung, darunter "Phil" von Ethimo als kongeniale Outdoor-Tonne mit Spül- und Grillfunktion. Mit Scavolini und Poliform wagen sich zudem gleich zwei italienische Schwergewichte erstmals an eigene Outdoor-Modelle, deren Module sich sowohl mit Aluminium- als auch Holzfronten in Teakfurnier bestücken und mit entsprechenden Oberflächen-Finishes wie Titan veredeln lassen. Luxus ist Trumpf – auch im eigenen Garten.

Kücheninsel aus Naturstein von Häcker Küchen

Erlkönig und Passepartouts

Der selbstbewussten "Haute Cuisine" im technischen Sinne verleihen auch die Gerätehersteller mit außergewöhnlicher Innovationsfreude Antrieb. Gaggenau, Hersteller luxuriöser Küchengeräte, bietet seinen Produkten wortwörtlich "eine Bühne". Während das bereits aus Löhne bekannte, unsichtbare Kochfeld der "Essential Induction" in anmutiger Präsenz inmitten des Gartenpavillons der Villa Necchi ins rechte Licht gerückt wird, warten zwei wichtige Nebenspieler im Backstage-Bereich auf ihren Einsatz. Die neue Kühlgeräte-Serie aus dunkel gebürstetem Edelstahl imponiert mit doppelflügeliger French Door und einem intelligenten "Ambient Light"-System, das genau jene Schublade dezent erleuchtet, die gerade in Benutzung ist. Mit 575 Litern Nutzinhalt, einem integrierten Eisbereiter im Gefrierfach, drei Frischkühlschubladen nahe Null Grad Celsius und dezent integrierten Kameras siedelt sich das Gerät nicht nur größentechnisch, sondern auch werteorientiert im High End-Bereich an. Kühlen wird zum Erlebnis. Nicht minder prestigeträchtig platziert sich die neue Backofen-Serie 400 mit einem Passepartout aus 1,5 Millimeter Edelstahl und gefaster Kante, die das 76 Zentimeter breite Gerät in einen optischen Bilderrahmen kleidet. Bislang ist der Backofen ein "Erlkönig", der den Gipfel der neuen Markenästhetik symbolisieren und zum "Next Icon of Gaggenau" aufrücken soll. Fotografieren war im Rahmen der Präsentation leider ausdrücklich verboten – auch Gaggenau beherrscht das Spiel um "hiding and exposing" schließlich perfekt.

"Vita Gessi Caffé"

Luxuriöse Statements

Gleich doppelt bildgewaltig inszenierte sich die Schweizer Premium-Marke V-Zug mit eigenem Showroom und einer außergewöhnlichen Kunstinstallation unter dem Titel "Time and Matter". Die epochal anmutende Dramaturgie aus Stein, Technologie und videografischem Wasserfall inmitten der Pinacoteca di Brera wurde von Elisa Ossino in Zusammenarbeit mit dem Künstler und Kunsthandwerker HENRYTIMI erdacht und entwickelt. Im Mittelpunkt der Ausstellung zog ein monumentaler Kochblock mit sichtbarer Bruchkante und verschiebbarer Steinplatte alle Blicke auf sich. Die filigrane Küchentechnologie der "Excellence Line" und das wuchtige Umgebungsschauspiel vermittelten ein geradezu greifbares Statement aus Materialität und Anspruchsdenken. V-Zug konstatiert, dass damit "der Dualität zwischen humanistischem Design und archaischen Materialien" Rechnung getragen werden sollte. Ausdrücklich ins Gedächtnis ruft sich ebenfalls der italienische Armaturenhersteller Gessi. Die Premium-Manufaktur gab im stadteigenen Showroom erstmalig eine Kostprobe seines neuen Luxusprodukts zum Besten – und zwar wortwörtlich: Die "Vita Gessi Caffé" soll als Armatur künftig nicht nur Wasser spenden, sondern mittels eines simplen Kaffeemoduls auch frischen Espresso aufbrühen. Die dazugehörige Kapsel, beispielsweise von Nespresso, wird in einen Seitenarm der Armatur eingesetzt. Die Kochendwasserfunktion ist im Produkt ohnehin inbegriffen. Ein simpler Schritt mit großem Überraschungsfaktor, der allerdings noch nicht in Serie produziert wird: Wie so viele andere Küchen- und Gerätemodelle auf der diesjährigen EuroCucina ist auch die "Vita Gessi Caffé" bislang ein Prototyp, der in der Öffentlichkeit ausgetestet wird. Die Bühnenreife wurde dem Produkt lautstark attestiert. Mehr ist schließlich mehr.

"Formalia Outdoor" von Scavolini