top
Flexibel: Mit den Funktionsblöcken "Combine" von Piero Lissoni für Boffi lässt sich die Kücheneinrichtung je nach Wunsch im Raum verteilen.

SALONE DEL MOBILE 2018
Vom Ende der Einbauküche

Wie wandeln sich Küchen im digitalen Zeitalter? Schrumpfen sie zu Möbeln oder wachsen sie zu neuen Raumkonzepten? Die Mailänder Showrooms und Messestände bieten visionäre Beispiele und konkrete Konzeptideen.
von Thomas Edelmann | 10.05.2018

Wo und wie wird künftig die Küche sein? Es ist das unausgesprochene Leitthema der Eurocucina in Mailand und der über die Stadt verstreuten Präsentationen des Fuori Salone. Eine Tendenz seit Langem: Durch offene Grundrisse verlieren Vor- und Zubereitung des Essens ihren angestammten Raum mit Rand- und Wanddasein innerhalb der Wohnung und rücken ins Zentrum. Entsprechend möbelfein muss die Küche sein, mit der übrigen Einrichtung und ihren stilistischen Optionen und Kombinationen mindestens mithalten, besser noch diese übertreffen. Längst ist das Wettrennen der besten Hersteller voll entbrannt. Sie arbeiten daran, möglichst erhabene Küchen-Altäre zu schaffen, anbetungsreif in jedem Fall, aber nicht unbedingt zum Putzen von Gemüse, zum Schneiden von Fleisch oder zum Anbraten, Reduzieren von Soßen sowie Garen ganzer Speisenfolgen gedacht.

Suchbild: In diesem Wohnraum ist eine Küche versteckt, um genau zu sein "+Venovo" von Sören Jungclaus und Mathias Knigge für Poggenpohl.

Was allemal auf einer Messe zählt, ist der visuelle und haptische Eindruck. Dabei gilt es, die Qualität auf allen Ebenen zu steigern, Oberflächen zu verfeinern und Beschläge immer besser zu verstecken. "Combine" heißt etwa eine neue Ansammlung architektonischer Bausteine, die Piero Lissoni für Boffi entworfen hat. Während die einzelnen Funktionsblöcke sich über den Raum verteilen lassen und – vor allem mit der schichtartigen Steinfront Lithoverde – an eine geschrumpfte Variante selbstbewusster italienischer Palazzi erinnern, lassen sich die zugehörigen Tische dank kleiner Rollen jeweils dort andocken, wo sie gerade gebraucht werden. Sie dienen mal als Arbeits- oder Abstellfläche, dann wieder gruppieren sich darum Sitzplätze für einen kurzen Snack. Erhabenes und Ephemeres, Improvisiertes und Dauerhaftes vermischen sich. Lithoverde übrigens ist eine Oberfläche, die aus schmalen und breiten Marmorstücken gefertigt wird, die sonst beim Zuschneiden ungenutzter Abfall blieben. Auch an anderer Stelle war Lissoni aktiv. Für Kartell entwarf er den "I-table", keine vollwertige Küche, aber doch ein Tisch mit Steckdosenanschluss und integrierten Induktionskochfeldern. Während der Designer für Boffi Funktionen über viele Möbel verteilt und detailliert ausarbeitet, komprimiert er sie im "I-table" auf engstem Raum. Ein wenig erinnert sein Ansatz an "Smartslab" von Reed Kram und Clemens Weisshaar, einen High-Tech-Tisch zum Kühlen und Erwärmen, der vor zwei Jahren in Mailand als Studie für die Iris Ceramica Group zu sehen war. Auch Licht wird in die neuesten Küchenmodelle integriert, strahlend aber nicht blendend.

Schmuckstück: Die "Concept"-Küche der "Pure"-Stilwelt von Siematic lässt aus bronzierten Griffmulden Licht erstrahlen.

Die "Concept"-Küche der "Pure"-Stilwelt von Siematic verbindet traditionelle Werte der Marke mit ingeniöser Präzision. So gilt das ostwestfälische Unternehmen mit neuerdings chinesischem Mehrheitseigner als Vorreiter der grifflosen Küche, deren erstes Modell 1960 vorgestellt wurde. Das neueste Modell soll etwa bis zum Herbst serienreif sein. In Mailand wurde es in einer hellen und einer dunklen Variante gezeigt. Die Schattenfuge der horizontalen und vertikalen Griffmulden nimmt eine blendfrei angebrachte steuerbare LED-Beleuchtung auf. Das kommende Modell, das im flächenmäßig verdoppelten Siematic-Flagshipstore Monte Santo gezeigt wurde, scheint zum Kochen fast zu schade. Die metallische glänzende Oberfläche der Griffmulden könnte man sich ebenso wie die Vitrinentüren mit getöntem Glas bei der Einrichtung eines vornehmen Juweliers vorstellen. Ebenfalls nur in der Stadt und nicht auf der Messe zeigt Poggenpohl mit "+Venovo" ein neues Küchenmodell, das mitten im Wohnraum Platz findet, ohne dabei als monolithischer Fremdkörper zu wirken. Modular aufgebaut, nimmt es in einem drei Meter langen Element sämtliche Funktionen auf. Es ruht auf U-förmigen verchromten Kufen und scheint daher trotz seines Gewichts zu schweben. Gestaltet von den Hamburger Designern Sören Jungclaus und Mathias Knigge, wendet sich "+Venovo" an Stadtbewohner, die sich für die Küchenmöbel keinen Sonderstatus mehr wünschen, sondern sie bruchlos in die meist knappe Fläche ihrer Wohnung integrieren möchten. Ein Sideboard und Hochschränke ergänzen das Programm.

Unprätentiös: Dunstabzug "Clip" von Giulio Iacchetti für Falmec.
Neu inszeniert: Küche "Convivium" von Antonio Citterio im eleganten Showroom von Arclinea.

Seit 2016 gehört Arclinea zu B&B Italia. Man folgt damit Boffi und de Padova sowie Driade und Valcucine, die diese Art Marken-Netzwerke zwischen Möbel- und Küchenmöbelherstellern begründeten. Arclinea bewarb den neuen Showroom in der Via Durini 7 direkt gegenüber von B&B sogar in der Mailänder Metro und legte die Eröffnung auf den Beginn der Mailänder Designwoche. Sechs Küchen sind dort auf 450 Quadratmetern zu sehen. Es gibt einen speziellen Besprechungsraum, wo Kunden, Architekten und Planer Materialien und Oberflächen vergleichen können. Hier wird eindrucksvoll vor Augen geführt, dass es Marken zunehmend darum geht, eine jeweils eigene Welt zu errichten, die Regeln gegenüber der Umgebung zugleich definiert und verkörpert. Die Küchen wurden von Antonio Citterio mit einer abgestimmten Mischung aus Edelstahl, schwarz eloxiertem Aluminium, Marmor und wohnlichen Hölzern nochmals verfeinert. Die Architektur des Showrooms, gestaltet von Gianluca Tronconi, nimmt sich zurück und setzt Akzente, etwa im langen seitlichen Flur mit einer charakteristischen Steinwand, die von Oberlichtern natürlich beleuchtet wird. Oder mit einer abgehängten Decke, deren Abschluss wie in einst in den Seventies lackierte Rundhölzer bilden. Während sich Arclinea in den letzten Jahren stets mit dekorativen Kräutern als grüne Marke präsentierte, bei der es stets um Verfügbarkeit bester Zutaten geht, wurde die Dekoration im neuen Showroom deutlich zurückhaltender und stringenter. Hier herrscht fast klösterliche Strenge. Großformatige Fotografien zeigen Glasobjekte und Küchenutensilien – nicht im Gebrauch dargestellt, sondern zu ästhetischer Zeichenhaftigkeit verfremdet.

Gekühlt oder erwärmt: Die Zubereitung von Speisen wird am multifunktionalen Tisch "b.architecture" von Bulthaup zum kommunikatives Erlebnis .

Zum zweiten Mal präsentierte sich Bulthaup mit einem temporären Showroom in der bereits im 19. Jahrhundert entwidmeten Kirche San Carpoforo in Brera. Die Basilika-Konstruktion ist ideal für die Nutzung durch die Kunstakademie Brera und für gelegentliche Events. Im Küchenjahr 2018 fand hier eine der inspirierendsten Veranstaltungen statt. Wie alle Hersteller in diesem Segment, versucht auch Bulthaup sich, leicht irritiert, einen Reim auf Gegenwart und Zukunft zu machen. Geschäftsführer Marc O. Eckert spricht zunächst über den Wandel des Einzelhandels, um zu eigenen Antworten zu finden, die in künftigen Produktideen münden. So hat der US-Handelsriese Amazon nicht nur große Biohandelsketten erworben und bereitet den Einstieg in den französischen Lebensmittelhandel mit Monoprix als Partner vor. Denkbar, vielleicht sogar wahrscheinlich ist, dass an die Stelle herkömmlicher Supermärkte künftig immer mehr Lieferdienste treten, deren Angebote online eingekauft werden. Schon heute sammelten Unternehmen wie Amazon Informationen über unsere Gewohnheiten und Vorlieben. Womöglich, entwirft Eckert eine nahe Science Fiction-Vision, werden wir künftig mittwochs von unserem intelligenten persönlicher Assistenten ("Echo", "Siri" und Co) erinnert, "Du isst doch mittwochs gern ein Wiener Schnitzel, soll ich dir eines bestellen?" Und schon kurz darauf kommt die Drohne und liefert jenes Lieblings-Schnitzel. Laut Eckert ist zu erwarten, dass die Vorgänge des Einkaufens sich für den Kunden künftig extrem vereinfachen und zeitlich reduzieren. Was Hausgerätehersteller oder die Computer-Branche seit Langem verheißen, gelte künftig fürs Kochen und den Haushalt insgesamt. "Was tun mit der gewonnen Zeit?" ist Eckerts Leitfrage. Für ihn strukturieren sich in der Folge Prozesse im Haus um. Er zeichnet ein größeres Bild als die Wettbewerber, die darüber nachdenken, der Küche das Küchenhafte auszutreiben. Eckerts Antwort heißt "b.architecture" und ist in San Carpoforo als Konzept im Einsatz.

Elektrik-Trick: Mit dem "I-table" entwirft Piero Lissoni für Kartell ein Objekt, das eben noch dezenter Tisch, bald schon Kochgelegenheit ist.

Das Zubereiten selbst wird – unter veränderten Zeitvorgaben – zum neuen kommunikativen Erlebnis für Freunde und Familie. Nicht mehr der Chefkoch in seiner Edelstahl-Profiküche ist der Maßstab für den ambitionierten Koch, sondern die Großmutter, die beim Kartoffelschälen auf einer Bank sitzt und erzählt. Oder doch nicht ganz. Denn statt der Küchenbank von einst gibt es eine Bulthaup-Bank, angereichert mit Ledersitzen und Rückenlehnen. Im Zentrum steht der technologisch aufgerüstete, minimalistisch gestaltete Tisch – und das erinnert wieder ein wenig an Kram/Weisshaar von 2016. Er ist mittels diverser Einbauten, bei Bulthaup spricht man von Apps, in der Lage, per Wasser Zutaten oder Weinflaschen zu kühlen oder Warmes warmzuhalten. Wie das im Einzelnen funktionieren soll, wird noch nicht verraten. Auch wenn zum Konzept neue Induktionskochfelder mit intuitiver Wärmeregelung nach dem Vorbild historischer Holzöfen gehören, sei die Wasserstelle weit wichtiger als die Feuerstelle. Das liegt auch an der Partnerschaft mit dem Münchner Spitzenkoch Tohru Nakamura aus Geisels Werneckhof, der an Entwicklung beteiligt war und der sagt, er könne in der Küche sechs Stunden lang ohne Strom oder Feuer auskommen, aber keine 10 Minuten ohne Wasser.

Nakamura erprobt vor Ort mit seinem Team die neuen Möbel und lässt Besucher an der Entstehung einfacher Speisen teilhaben. Denn, so wiederum Marc O. Eckert, "Wasser ist das Moment der Entschleunigung. In seinen verschiedenen physikalischen Zustandsformen sorgt es für menschliche Resonanz." Und die Möbel von Bulthaup sollen diesen Prozess verstärken. Das Konzept "b.architecture" will mittels großer Blenden, die zugleich Licht liefern, Räume definieren. Bewegliche Flügel mit Japanpapier-Bespannung, hinter denen die Küche kurzzeitig verschwindet oder sich wieder öffnet gehören ebenso zum Konzept wie verschiedene Wasserstellen auf unterschiedlichen vertikalen Ebenen. Die Feier des Lebensmittels und des Lebens selbst spielt hier eine gewisse Rolle, auch wenn es am Ende darum gehen wird, plausible Entwürfe für eine künftige Küche zu bieten. Die Szenerie in der Kirche ist belebt, die Stimmung gut. Im Jubiläumsjahr 2019 – Bulthaup besteht dann seit 70 Jahren – wird man sehen, wie sich die dreidimensionale Produktskizze in ein reales Produkt verwandelt, wie die Details aussehen, wie die Technik funktioniert. Vorerst sind die Ästheten aus Aich für ihren Mut zu loben, einen anderen Ansatz zu suchen, als die Dinge einfach nur immer feiner und minimalistischer zu machen.

Expressiv oder minimalistisch: Sanwa aus Japan arbeitet mit italienischen Designern zusammen. Alessandro Mendini schuf die Schrankküche "AM 01".

Produkte