Liebe versetzt Berge. In Philippe Bestenheiders Fall war es die Liebe zu „Lowseat", einem Sessel von Patricia Urquiola für Moroso. Der Schweizer und Absolvent der Mailänder Domus Akademie rief bei Urquiola an, um ihr seine Bewunderung zu gestehen, und legte mit einem Job in der Tasche wieder auf. Von 2001 bis 2006 arbeitete er im Büro der Spanierin und entwarf dabei für Firmen wie Agape, Alessi und Molteni. Sie habe ihn gelehrt, auf sein Bauchgefühl zu hören, sagt er über Urquiola, und genau das tat er dann auch, als er sich 2006 selbstständig machte. Sein erstes Produkt hat er für Moroso entworfen, sein Aktuelles auch: „Beth" ist gemütlich und unkompliziert - ein informeller Sessel, ähnlich wie der „Sacco" von Piero Gatti, Cesare Paolini und Franco Teodoro, allerdings mit Armlehnen und aus nachhaltigeren Materialen entwickelt. Insbesondere aufgrund seiner Recyclingfähigkeit sorgt der neue Entwurf von Philippe Bestenheider derzeit für Furore. Und sein etwas älterer Stuhl „Nanook" hat soeben den diesjährigen „Premio dei Premi", den Förderungspreis für Innovation von der italienischen Regierung, bekommen. Amelie Znidaric: Umweltbewusstsein, so scheint es, war bisher eher eine Stärke von Herstellern und Designern aus dem Norden Europas. Die Italiener waren weniger bekannt dafür. Teilen Sie diese Meinung? Philippe Bestenheider: Das kann sein, aber im Fall von „Beth" hat Moroso mir dieses Material von sich aus angeboten. Es handelt sich um digital bedrucktes Recyclinggummi aus alten Autoreifen. Auch das Füllmaterial wurde recycelt. Normalerweise ist Gummi ja nicht wieder verwertbar, aber eine Firma bei Udine hat dazu ein neues Verfahren entwickelt, sowohl für das Recycling als auch für den Druck. Ein Großteil Ihrer Arbeiten hat einen klaren Bezug zu urtümlichen Kulturen, etwa aus Afrika oder vom nördlichen Polarkreis. Von Morosos Afrika-Schwerpunkt im letzten Jahr abgesehen, haben Sie ein spezielles Interesse an Urvölkern? Der Stuhl, der aussieht wie eine Schneeflocke? Bestenheider: Eigentlich ist er die Weiterentwicklung eines anderen Projektes, das ich 2007 für den Designwettbewerb der Stuhlmesse Promosedia entwickelt habe. Ich habe dabei mit dreiblättrigen Elementen gearbeitet, die ich an ihren Außenpunkten aneinanderfügte - so ergab sich die Struktur für den Stuhl. Das war ein geometrisches Spiel, aus dem sich schließlich Linien entwickelt haben. Zuletzt habe ich noch Ränder um die Struktur gezogen, irgendwie hat sich das ganz selbstverständlich zusammengefügt. Auf der Suche nach einem Namen für den Stuhl habe ich begonnen, mich mit den Inuit, den Ureinwohnern der Arktis, zu beschäftigen. Dabei habe ich entdeckt, dass ihre typische Kleidung auch solche Ränder hat. Auf einmal hat alles zusammengepasst. Ich habe den Stuhl dann „Nanook" getauft, nach dem Inuit-Wort für Bär. Als wäre das etwas ganz Archaisches, das in uns schlummert und sich bisweilen zu Wort meldet? Bestenheider: Ja, das stimmt. Ich gehe gerne zurück zum Ursprung, die sogenannte primitive Kunst interessiert mich. Das Schöne an der Ausdrucksform von Naturvölkern liegt darin, dass sie so direkt ist, das ist die eigentliche Stärke dieser Kulturen. Sie ist nicht übermäßig raffiniert, dafür aber nah an der Natur und ihren Gegebenheiten - das fasziniert mich. Sie verwenden gerne kräftige Farben. Welchen Wert hat Farbe für das Design? Bestenheider: Sie macht einfach Freude! Farbe lebt vor allem vom Kontrast. Die afrikanischen Stoffe bei den „Binta"-Sesseln zum Beispiel werden erst interessant, wenn man kombiniert und mischt, dann fangen sie an zu vibrieren. Das sieht man auch bei afrikanischen Frauen, die tragen nicht nur einen Stoff, sondern mischen, so dass ein spannender Dialog entsteht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass „Binta" auch funktionieren würde, wenn der Sessel nur mit einem einzigen Stoff bezogen wäre. Das Patchwork unterstützt natürlich auch die dreidimensionale Form. Im Zusammenhang mit „Nanook" und seiner kristallinen - manche sagen auch molekularen - Form habe ich gelesen, dass Sie Physik mögen. Interessieren Sie sich generell für Naturwissenschaften? Bestenheider: Ich spiele gerne mit geometrischen Formen, das sieht man auch bei meinen neuen Entwürfen für de Sede. Physik interessiert mich schon, aber nicht exklusiv. Die Ähnlichkeit des Entwurfs zu Molekülen ist mir - so wie jene zu den Inuit - erst nachträglich aufgefallen. Was wollten Sie eigentlich werden, als Sie ein Kind waren? Bestenheider: Erst Tierarzt und dann Erfinder. Und was hat Sie dann dazu bewegt, Designer zu werden?
Bestenheider: Nein, das hat sich eher zufällig so entwickelt. Obwohl es letztlich gut passte, war ich etwa bei „Binta", dem Sessel, den ich letztes Jahr präsentiert habe, viel mehr an der Form interessiert als am Muster. Die afrikanischen Stoffe waren von Moroso vorgegeben, aber eher hat mich beschäftigt, wie die Flächen aufeinander treffen. Die Basis des Sessels besteht aus vier Kegeln, die einander schneiden, und von dieser Geometrie bin ich ausgegangen. Mit dem italienischen Hersteller Varaschin habe ich ein Projekt gemacht, das ganz ähnlich verlaufen ist. Ich habe es „Kente" genannt, weil es in Ghana einen Stoff gibt, der so aussieht. Auch hier bin ich aber nicht vom Stoff ausgegangen, sondern vom Aufbau des Stuhls. Er ist geflochten, und um das besser sichtbar zu machen, habe ich für die Bänder kräftige Farben ausgewählt. Als ich nach einem Namen für den Stuhl suchte, fielen mir die Stoffe aus Ghana ein. Über Google stieß ich dann auf „Kente", das ich zuvor nicht kannte. Auch bei „Nanook" lief der Prozess vergleichbar ab.
Bestenheider: Wenn man darüber nachdenkt, ist es vom Erfinder zum Designer doch gar nicht so weit. Design ist Tüfteln mit Formen und Materialien.
Ethnologe wider Willen
25.11.2010
Philippe Bestenheider
Philippe Bestenheider