JUNGE TALENTE
Die Macht der Wahl
Anna Moldenhauer: Ihr seid beide in Brasília geboren, Mariana du hast dort Produktdesign studiert, Ricardo entschied sich für Architektur. 2015 habt ihr euer Studio in São Paulo gegründet – wie beeinflusst das Leben und die Ausbildung in diesen Städten eure Arbeit?
Mariana Ramos: Brasília ist eine sehr junge Stadt, sie wurde in den 1960er-Jahren erbaut. Sie ist eine der wenigen Städte, die bei Null angefangen haben, sie hat eine andere urbane Konfiguration. Alle Gebäude sind von Natur umgeben und die Aussicht ist außergewöhnlich. Alles ist sehr monumental und skulptural.
Ricardo Innecco: Die Formen, die Monumentalität, der Raum und die Atmosphäre haben unsere Arbeit sehr beeinflusst. Im Architekturstudium kommt man immer wieder auf diese Themen zurück und achtet daher besonders auf die Besonderheiten in der Umgebung.
Ihr gestaltet zudem Prozesse, forscht an Materialien und entwickelt Installationen wie Szenografien. Was reizt euch an dieser interdisziplinären Arbeitsweise?
Mariana Ramos: Wir sind sehr offen für Prozesse. Alles, was uns in einem Projekt herausfordert, ist für uns ein guter Ansatzpunkt. So wie die Arbeit mit Materialien viel Zeit in Anspruch nimmt. Sowohl Fehler als auch Ziele fließen in den Weg mit ein und helfen dabei, die jeweilige Story zu erzählen und die Endprodukte zu konstruieren. Auch der Raum, und sei er zuerst nur imaginär, ist für uns sehr wichtig. Vor allem wenn wir eine Szenografie schaffen.
Ricardo Innecco: Wir haben eine Faszination für das Schaffen. Es ist beeindruckend, wie die gleichzeitige Arbeit an verschiedenen Projekten wie ein Puzzle ist, bei dem die Teile Tag für Tag zusammengesetzt werden. Manchmal wird die Untersuchung der Produktionsprozesse für die Herstellung unserer Produkte zum Ausgangspunkt für andere Projekte (wie Szenografie, Installationen oder Auftragsarbeiten) und andersherum. Es gibt auch diese Atmosphäre, die wir im Sinn haben und die in allem, was wir tun, zu sehen ist. In gewisser Weise versuchen wir, die stille Atmosphäre von Brasília, unserer Heimatstadt, nachzubilden, wo es immer Raum gibt, die Dinge zu betrachten.
Mariana Ramos: Im Laufe der Jahre hat das Studio eine eigene Sprache entwickelt, in der formale Einfachheit und konstruktive Genauigkeit Erzählungen hervorbringen, die, auch wenn sie komplex sind, eine Leichtigkeit in ihrer Synthese haben. Wir glauben, dass dies auch die verschiedenen Projekte, die wir durchführen, miteinander verbindet.
Ricardo Innecco: Die Tatsache, dass unsere Arbeit interdisziplinär ist, hängt damit zusammen, dass Brasilien die Industrialisierung erst spät in seiner Geschichte durchlaufen hat. Brasilianische Designer arbeiten hauptsächlich mit Dingen, die sie selbst hergestellt haben, denn vor zehn Jahren war unsere Industrie noch nicht bereit für die Idee, lokale Designer in die eigentlichen Prozesse einzubeziehen. Wenn wir unsere Entwürfe verwirklichen wollten, war unsere einzige Möglichkeit, mit lokalen Herstellern oder kleinen Unternehmen zusammenzuarbeiten. Im Grunde genommen entwerfen wir die Produkte, stellen sie her, lagern sie ein und verkaufen sie dann an die Endverbraucher. Vor ein paar Jahren wurde der brasilianische Markt – oder besser gesagt die Industrie – aufgeschlossener und begann, die Designer in Brasilien wahrzunehmen und Projekte mit ihnen zu entwickeln. Das hat unsere Arbeit verändert. Das sonnige Wetter und die lockere Kultur Brasiliens (obwohl es sich um ein komplexes Land handelt, das mit ernsten Problemen zu kämpfen hat) spielen ebenfalls eine wichtige Rolle in unserer Arbeitsweise. Wir haben einen Sinn für Humor, der sich in unseren Arbeiten bemerkbar macht.
Wann ist ein Projekt von extern für euch spannend?
Ricardo Innecco: Manchmal geht es dabei um die Möglichkeit, mit einem bestimmten Material oder Verfahren zu arbeiten. Etwas, das wir noch nie gemacht haben oder von dem wir glauben, dass wir es gerne ausprobieren würden. Wir sprechen von der Möglichkeit, etwas Neues zu testen. Allerdings lehnen wir auch viele Anfragen von Dritten ab, wenn sie nicht zu unserer Arbeitsweise passen.
Mariana Ramos: Es geht um Kreation, die Freiheit etwas zu erforschen, und in Kooperation Materialien oder Techniken zu entwickeln. Ich denke, das ist der Zeitpunkt, an dem wir "Ja" zu einer Anfrage sagen. Bei Architekturbüros interessiert es uns zudem, die kreativen Sprachen miteinander zu verbinden, das macht die Zusammenarbeit spannend.
Eine eurer Arbeiten ist die Leuchtenkollektion Rícino aus pflanzlichem Rizinusölharz. Wie entwickelt ihr diese Materialalternative aktuell weiter?
Ricardo Innecco: Als wir mit Kunstharzen arbeiteten, entdeckten wir, wie schädlich das Material für die Menschen und unsere Umwelt ist, und begannen daher, nach natürlichen Harzen und ihren positiven Eigenschaften zu forschen, um neue Ansätze zu finden. Glücklicherweise haben wir in Brasilien viele natürliche Quellen. Wir planen nun die Entwicklung neuer Projekte unter Verwendung desselben Materials. Außerdem ist es uns gelungen, Luft in das Material einzubringen - das Ergebnis ist eine zweite Kollektion aus einem Netz, das als Diffusor dienen soll, genannt Ricino F (Schaum).
In eurer Arbeit verknüpft ihr für die Produktion traditionelles Handwerk mit moderner Technologie. Könnt ihr ein Beispiel aus eurer Forschung nennen?
Ricardo Innecco: Die Leuchten aus pflanzlichem Rizinusharz haben ein fast nicht greifbares Aussehen und sind das Ergebnis eines digitalen Prozesses, von der Masse des Volumens über die Formen bis hin zur Festlegung des Lichteffekts. Für die Kollektion Solida haben wir die Technologie genutzt, um die Tische digital zu entwerfen und zu produzieren. Schließlich ist der Mensch für die Endbearbeitung zuständig. Es handelt sich um eine Kombination aus traditioneller Holzverarbeitung und der Leistung von Maschinen mit digitaler Technologie.
Arbeitet ihr mit künstlicher Intelligenz?
Mariana Ramos: Bisher nicht.
Eure Arbeiten haben oft eine starke skulpturale Präsenz und wirken auf mich wie eine grafische Erkundung des Raums. Eure Objekte schaffen Atmosphäre. Was ist euch über die Gestaltung wichtig zu vermitteln?
Ricardo Innecco: Wir stellen uns die Objekte immer allein in einem Raum vor. Sie haben die Macht, einen Ort zu verändern, durch ihre Form, ihren Umriss, ihre Wirkung. Vor allem, wenn es sich um Leuchten handelt. Leuchten sind für uns interessante Objekte, weil sie tagsüber meist ausgeschaltet sind und sich nicht nur ihre Präsenz und die Atmosphäre im Raum, sondern auch die Wirkung der Architektur völlig verändert, wenn sie abends eingeschaltet werden. Tagsüber sind sie Skulpturen, abends werden sie lebendig und sind in der Lage, die Architektur zu verändern und zu enthüllen.
Mariana Ramos: Unsere Objekte sind klar aufgebaut, sowohl in der Form wie im Material. Wir möchten das Material auf das Minimum reduzieren, das das Objekt braucht, um seinen Zweck zu erfüllen. Parallel arbeiten wir jeweils daran das Maximum aus dem Material herauszuholen, seine Eigenschaften bis an die Grenzen auszuloten.
Woran arbeitet ihr gerade?
Ricardo Innecco: Wir arbeiten normalerweise an vielen Projekten gleichzeitig. Neben der Forschung an natürlichen Materialien kooperieren wir auch mit einigen Marken und in diesem Jahr werden wir die Ergebnisse vorstellen können. 2024 wird für uns ein Jahr des Experiments und der Produktion werden. Zudem feiern wir unser zehnjähriges Bestehen.
Was möchtet ihr der folgenden Generation, die aktuell noch im Studium steht, mit eurer Arbeit vermitteln?
Mariana Ramos: Dass wir alle bewusster in der Materialwahl für unsere Projekte und Produkte werden.