Der Pavillon der Serpentine Gallery im Londoner Hyde Park konnte in den letzten Jahren stets als Gradmesser für Innovationsfreudigkeit und Kreativität in der englischen Hauptstadt herangezogen werden. Jedes Jahr wird hier ein bekannter Architekt oder eine Architektin mit dem Bau einer temporären Struktur beauftragt. Einzige Voraussetzung: Er oder sie darf noch nicht auf den britischen Inseln gebaut haben. So gab es in den letzten Jahren Spannendes und Überraschendes von Daniel Libeskind, Oscar Niemeyer, Toyo Ito, Zaha Hadid, Rem Koolhaas, Olafur Eliasson etc. zu sehen. Undf in diesem Jahr? Kein Geringerer als Frank O. Gehry, den man ja fast schon als Altmeister des Dekonstruktivismus bezeichnen darf. Eine recht willen- und kraftlose Struktur aus Holz und Glas, eher Baldachin als Pavillon, ist dort entstanden. Es ist nicht nur Gehrys erstes Projekt auf englischem Boden, sondern auch die erste Zusammenarbeit mit seinem Sohn Samuel Gehry. Dennoch, der Serpentine Pavillon ist kein Gehry, den man im Gedächtnis behalten wird. Solide, etabliert, aber eben nicht mehr.
So ähnlich verhält es sich auch mit der Designmesse 100% Design, immerhin die mit Abstand wichtigste auf den Inseln. Traditionell pilgern viele Architekten und Innenarchitekten in die inzwischen etwas maroden Messehallen am Earl`s Court, in den letzten Jahren war durchaus auch die ein oder andere Neuigkeit und Innovation, gerade auch von kleineren Firmen, zu entdecken. Nicht so in diesem Jahr. Solides Mittelmaß überall, wenige führende Designmarken, kaum italienische Firmen, unbekannte Accessoire-Hersteller neben uninspirierten Gemeinschaftsauftritten. Die 100% Materials, die man in den letzten Jahren mit viel Mühe aufgebaut hatte, war diesmal deutlich unterrepräsentiert und ging in der 100% Detail auf, die eher ein Sammelbecken all derer war, die nicht in der Haupthalle ausstellen durften. Dazwischen plötzlich Tom Dixon mit einem bühnenreifen Auftritt, bei dem die Show die Produkte klar in den Hintergrund drängte. Dixon ist als Art Director der 100% Design auch für die Auswahl der Hersteller und die Gesamtdramaturgie zuständig - die Zeit dafür scheint sehr knapp gewesen zu sein.
Und dennoch: Mit wem man auch spricht, die Stimmung ist gut, gleich am ersten Tag sind viele Architekten, Einrichter und Pressevertreter in der Halle, überall zufriedene Gesichter. „Nein, um Verkaufen geht es hier nicht", berichtet uns der Chef eines Schweizer Herstellers, „eher ums Dabei sein und Kontakte knüpfen".
Parallel zur Messe läuft in der ganzen Stadt das London Design Festival, an dem sich eine Vielzahl von Institutionen wie Museen und Galerien beteiligen. Zeitgleich findet auch die für London so wichtige Fashion Week statt. Hauptort des Design Festivals ist die ehemalige Truman Brewery im Londoner Osten. Hier fand in diesem Jahr wieder die Veranstaltung Tent London statt, die eine Vielzahl von Events und Ausstellungen bündelte und die Nachfolgerin der 100% East aus den letzten Jahren ist.
Organisator der Tent London ist eine Art Event-Beratung, die von Ian Rudge, Urheber der 100% Design und von Jimmy MacDonald, Initiator der 100% East, gegründet wurde. Rudge führte die 100% Design von ihren Ursprüngen in einem Zelt an der Kings Road zu einer international renommierten Messe, mit Ablegern in Tokio und Moskau. Sein Konterpart MacDonald machte die 100% East einst zu einem der Highlights der London Design Week 2006. Gemeinsam haben sie nun mit Tent eine Plattform geschaffen, die jungen Designern die Chance zum internationalen Durchbruch ermöglicht.
Entstanden ist ein Sammelsurium aus Jungdesignern der unterschiedlichsten gestalterischer Richtungen. Kunst, Architektur, Grafik, Produktdesign - hier vermischen sich die Disziplinen. Das ist vielleicht auch der größte Verdienst von Tent: Interdisziplinarität zu fördern und den jungen Designern so einen Weg jenseits des reinen Industriedesigns aufzuzeigen. Wenngleich es auch hier wenig wirklich Spannendes und Neues zu entdecken gab, waren zumindest einige Arbeiten darunter, die interessant waren und mit erfrischenden Ideen daher kamen, beispielsweise der Glasfaserstuhl „Zilla", mit Fußbank, von Diplomat, die Tisch- und Stuhl-Kollektion „Balloon Furniture" von Niels Schuurmans, die wie die geknoteten Objekte eines Luftballonkünstlers aussehen oder Tom Prices Stuhlentwürfe „Meltdown", bei denen er eine immer gleiche, erhitzte Form in unterschiedliche Materialballen gepresst hat, so dass sich durch das Schmelzen und spätere Erkalten eine Sitzschale herausbildet. Price erzeugt durch dieses technische Verfahren eine interessante Spannung zwischen den eingebrannten Sitzflächen und der Materialität der jeweiligen Werkstoffe.
Ebenfalls Teil des Design Festivals ist der Designersblock, der diesmal in Covent Garden, mitten im Herzen Londons, stattfand. Auf gut neunhundert Quadratmetern präsentierten sechzig britische und internationale Designer auf vier Etagen ihre Arbeiten. Zu den interessantesten Projekten gehörten die neuen Produkte von Taschide, zwei jungen deutschen Designern, die unter anderem Sitzkissen aus unterschiedlichen Füllstoffen mit wunderbaren Strickbezügen zeigten, die in ihrer Form und Struktur an Seeigel erinnern.
Auf die Frage, wie man die gebrochenen Sitzflächen von sechs Thonet Bugholzstühlen ersetzen könnte, antworteten sechs Designern mit ganz unterschiedlichen Lösungsansätzen: Amos Field Reid, Steve Clutton, Jess Corteen, Markus Kayser, Rentaro Nishimura und William Warren entwarfen Sitzflächen aus Leder, Keramik, einer gearbeiteten Schichtholzplatte, einer polierten, spiegelnden Nickeloberfläche, einer dreidimensionalen Papierfaltung und einem Sitzpolster - alle Entwürfe nahmen Bezug auf die Geschichte der Firma Thonet und gaben dem Klassiker zugleich eine neue, mal ernsthafte, mal ironische Anmutung.
Und zwischen all den Design-Projekten in Covent Garden steht plötzlich ein junger Koreaner und lädt mit gruseligen Aufklebern zu einer Horror Party in Seoul ein. Korea tat in London alles, um die Aufmerksamkeit der internationalen Design Community gen Osten zu richten: Mit zahlreichen Designplattformen und Ausstellungen meldete es sich zu Wort, denn immerhin ist Seoul 2010 als Welthauptstadt des Designs auserwählt. Auf der Messe selbst, im Bereich der 100% Future, im Designersblock oder bei Tent - koreanisches Design war in diesen Tagen in London überall vertreten.
Zu den netten, kleinen Überraschungen während des Design Festivals zählte die Eröffnung der Gruppenausstellung Materialism in der Gallery Fumi im Osten Londons, bei der alte und neue Arbeiten unter anderem von Max Lamb, Paul Kelley, Marcus Tremonto, Paul Cocksedge, Philippe Malouin und Stephen Johnson präsentiert wurden. Bemerkenswert war wieder einmal der neuste Entwurf von Paul Kelley, dessen wunderbar handwerkliche Möbelstücke, die sich auf dem schmalen Grad zwischen Kunst und Design bewegen, schon bei The Design Annual 2008 in Frankfurt zu bewundern waren. Sein aktueller Entwurf ist eine neue Ausführung des „Rosewood Table and Bench"-Modells: Ein Tisch mit längeren Sitzbänken an den Längsseiten und kürzeren an den Stirnseiten, in dieser Version aus eloxiertem Aluminiumblech gefertigt, mit einer Sitzbeschichtung aus orangefarbenem Filz. Wie eine Hebebühne scheint die Tischplatte aus dem Sockel aufzuragen.
Den Gesamteindruck einer sehr soliden, unaufgeregten Festival-Atmosphäre bestätigte auch das britische Design-Label Established & Sons mit seinem Umzug in ein über fünfhundert Quadratmeter großes Studio in der Wenlock Road, das nun zugleich der Showroom des Unternehmens ist. Die einstige Speerspitze der Avantgarde, die nach Jahren von spektakulären, temporären Ausstellungen sich nun in festen und schicken, fast etwas clean wirkenden Räumlichkeiten präsentiert. Wir werden eben alle erwachsen.