Mit den Schweizer Alpen verbindet sich unweigerlich die Vorstellung wilder, unbezähmbarer Natur, majestätischer Berge und Gletscher, wilder Bergbäche und einsamer Gehöfte. Wie sehr diese Berge schon von Alters her von menschlicher Mobilität geprägt und verändert wurde, aber auch, wie sehr hier Natur und Technik faszinierende Symbiosen eingegangen sind und so manche Naturlandschaft allererst für den Menschen erschlossen wurde, war bislang nur wenigen Kennern und Fachleuten bekannt. Das Bild, das etwa Goethe und die romantischen Maler von der Via Mala als wildem Ursprung des Rheins zeichneten, dominiert anscheinend noch immer unseren Blick. Doch gerade die Berghänge der Via Mala verraten dem geschulten Auge, wie hier seit der Zeit der Kelten und Römer Jahrhundert um Jahrhundert, seit 1800 Generation um Generation Wege und Straßen durch die Natur geschaffen wurden - auf verschiedenen Seiten und Höhen der Schlucht mit unterschiedlichen Tunneln und Serpentinen.
Die Via Mala, genauer die Modelle zweier Fußgängerbrücken über die Via Mala, stehen auch am Beginn der Ausstellung „Landschaft und Kunstbauten" des renommierten Churer Ingenieurs Jürg Conzett im Schweizer Pavillon der Biennale. Am deutschsprachigen (germanischen) und rätoromanischen Ende der Via Mala schuf er vor einigen Jahren jeweils eine Brücke, eine ungewöhnliche aus Holz und eine noch ungewöhnlichere Hängebrücke mit steinernen Planken, die ihren Ort, aber auch die kulturell unterschiedlichen Traditionen des Hausbaus diesseits und jenseits des Alpenkamms zum Ausdruck bringen. Conzetts erste Holzbrücke wurde schon bald Opfer eines Steinschlags, was einen nicht weniger gelungenen Wiederaufbau in anderer Gestalt erforderlich machte.
Diese Brücken sind ein gutes Beispiel für das Wechselspiel von Natur und Technik und zugleich ein guter Auftakt für eine Ausstellung, mit der die Schweiz einmal mehr ihren eigenen Weg geht - unabhängig vom Biennale-Oberthema. Das Thema und die Art und Weise seiner Umsetzung in Form einer recht edukativen Ausstellung unterscheiden sich sehr von anderen Länderbeiträgen. So mancher Architekt zeigte sich an den Eröffnungstagen etwas verschnupft und erstaunt darüber, dass hier ein Bauingenieur - und nicht, wie gewohnt ein Architekt - als Kurator gewirkt hat. Kein visuelles Feuerwerk von hinterleuchteten Perspektiven oder raumgreifenden Installationen empfängt den Besucher des Pavillons in 23 unscheinbar grauen Kammern, sondern eine durch und durch ruhige Abfolge beeindruckender Schwarz-Weiß-Fotografien, ergänzt durch viele Texte und wenige Modelle.
Gemeinsam mit dem Fotografen Martin Linsi wählte Jürg Conzett mehr als vierzig technische Bauten in der Schweizer Landschaft aus, vornehmlich Brücken, aber auch Stützmauern und Flussstufen, wie sie vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart in beachtlicher Qualität in der Schweiz entstanden sind. Strikt chronologisch, nach der Erbauungszeit, aber zugleich auch im Verlauf eines halben Jahres ist ihre Ausstellung organisiert, die im winterlichen Sittertobel zwischen St. Gallen und Herisau beginnt und im Frühsommer auf dem Sustenpass sowie dem neu konzipierten Wanderwegs „Trutg dil Flem" bei Flims endet. Ein im besten Sinne des Wortes monumentales Bild der Schweizer Landschaften und ihrer technischen Bauten entstand daraus, eine Art von Liebeserklärung an die Heimat und die kreativen Möglichkeiten der Technik.
Wenngleich das 20. Jahrhundert dominiert, so erfährt man hier auch viel über den Wandel des Brückenbaus und seiner Schöpfer, über die Vorstellungen und Ziele von Pionieren wie Johann Ulrich Haltliner, Alexandre Sarrasin, Robert Moser oder Robert Maillart. Immer wieder eröffnen sich Blicke auf höchst elegante und grazile Brücken über tiefe Bergschluchten, breiten sich majestätische Panoramen aus und erkennt man sich wie Organe durch die Landschaft windende Serpentinen. Heroisch muten manche Aufnahmen und Bauwerke an, während andere die vermeintliche Leichtigkeit ihrer Wegeführung fast verspielt inszenieren. Neben massiven Brücken finden sich grazile Hängebrücken oder weit gespannte Konstruktionen, die mit der Landschaft zu verschmelzen scheinen, wieder andere scheinen als friendly aliens in die Natur implantiert zu sein.
Angesichts mancher deutscher Autobahn- oder Bahnbrücke aus den letzten Jahrzehnten ist zumindest jeder deutsche Besucher zutiefst davon beeindruckt, mit welcher Qualität und Kontinuität die Schweiz ihre Verkehrwege pflegt und weiterhin ausbaut. Ein ruhiges, ja fast stilles Plädoyer für eine besser gebaute Umwelt und eine große Verantwortung gegenüber Natur und Ressourcen - das ist es, was die Ausstellung darstellt. Klug enthält sie sich jeder Wertung und möchte zuallererst eine Schule des Sehens sein. Wer Zeit und Interesse mitbringt, nicht nur die einnehmend schönen Landschaftsfotografien zu genießen, sondern auch die vielen Texte zu lesen, der wird mit einer Einführung in die komplexe Welt kreativer Ingenieurbaukunst belohnt. Man erfährt ebenso etwas über den Wandel der Bautechnik wie über die Versuche der Ingenieure, nüchtern-funktionale Bauten in die jeweilige Landschaft und Kultur zu integrieren. Mögen Brücken auch zur Verkürzung langer Wege und damit auch zur Beschleunigung beitragen - diese Ausstellung entschleunigt den Besucher und erinnert ihn in Wort und Bild an seine Verantwortung für die Umwelt.
Landschaft und Kunstbauten
Ein persönliches Inventar von Jürg Conzett, fotografiert von Martin Linsi
272 Seiten, Text Deutsch und Englisch
Scheidegger & Spies, Zürich, 2010
€ 39.25
www.scheidegger-spiess.ch
http://labiennale.org
In unserer Serie zur Architekturbiennale sind bislang erschienen:
› Oliver Elser über die zentrale Ausstellung der Biennale-Leiterin Kazuyo Sejima
› Dirk Meyhöfer über „Sehnsucht" im deutschen Pavillon
› Sandra Hofmeister über urbane Freiräume und Leerstand in den Pavillons von Frankreich und den Niederlanden
› Annette Tietenberg über den britischen Pavillon, in den eine Schule des Sehens Einzug gehalten hat
› Carsten Krohn über das Ende der "signature architecture" und den Beginn einer Atmosphärenproduktion
› Dirk Meyhöfer über die Gefühlslagen auf dem Weg zur Reanimierung der russischen Industriestadt Vyshny Volochok
› Claus Käpplinger über die Länderpavillons außerhalb der Giardini und der Arsenale
› Axel Simon über den japanischen Pavillon und Tokio als metabolistische Stadt voller Puppenhäuser
› Annette Tietenberg über den Pavillon Bahrains, der mit einem Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag ausgezeichnet wurde
› Axel Simon über die Inszenierung von Zukunftsvisionen