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Es Devlin

PREVIEW – SALONE DEL MOBILE 2025
Kompass für den Geist

Die kinetische Installation "Library of Light" von Es Devlin ist ein Salone Projekt mit der Pinacoteca di Brera und dem Verlag Feltrinelli: Eine rotierende Skulptur, die aus beleuchteten Regalen mit über 2.000 Büchern besteht. Die beeindruckende Szenerie wird von den Schriften wegweisender AkademikerInnen und klassischer Musik untermalt. Im Interview gibt die Künstlerin und Bühnenbildnerin Einblick in ihre Arbeit.
03.04.2025

Anna Moldenhauer: Sie recherchieren für Ihr Werk im Vorfeld viel – die "Bibliothek des Lichts" ist somit eine Metapher für das Wissen auf mehreren Ebenen. Zudem wird sie an einem historisch bedeutsamen Ort entstehen. Wie filtern Sie, welche Informationen in das Ergebnis einfließen?

Es Devlin: Wann endet die Forschung? Ich denke, die kurze Antwort lautet: nie. Jedes Projekt ist fortlaufend. Gleichzeitig muss sie irgendwann in etwas geformt werden, das sowohl bei denjenigen, die die Pinacoteca zum ersten Mal besuchen, als auch bei den Personen, die hier täglich studieren und arbeiten, Anklang findet. Die drehbare Bibliothek "liest" Texte vor, mit meiner Stimme und der des britischen Schauspielers Benedict Cumberbatch. Wie Jorge Luis Borges sagte: "Ich bin mir nicht sicher, ob ich tatsächlich existiere, ich bin alle SchriftstellerInnen, die ich je gelesen habe", und meine Auswahl der Texte ist sehr persönlich: Sie sind die Linsen, durch die ich die Welt betrachte. Benedict Cumberbatch liest "The Order of Time" des Physikers und Dichters Carlo Rovelli. Ich lese aus einer Reihe von AutorInnen, darunter Adrienne Rich, James Baldwin, Audre Lorde, David Abram, Toni Morrison, Ralph Ellison, Octavia E Butler, Iain McGilchrist, Amitav Ghosh, Lewis Hyde, Jorge Luis Borges, Umberto Eco, Maya Angelou, Marcus Tulles Cicero, Margaret Atwood sowie der Mathematikerin und Mystikerin Maria Gaetana Agnesi aus dem 18. Jahrhundert, deren Statue ich im Cortile d'Honore entdeckte: die einzige anwesende Gelehrte. Diese werden von einer Komposition des britischen Duos Polyphonia begleitet, die auf Beethovens Violinkonzert op. 61 basiert. Die Skulptur wird sich um die dominante zentrale Statue von Antonio Canova von Napoleon in Form eines "friedlichen" Kriegsgottes Mars herum bewegen. Sie umkreist die Statue exzentrisch.

Warum haben Sie Auszüge aus den Werken von Maria Gaetana Agnesi und Carlo Rovelli gewählt?

Es Devlin: Mich interessiert, wie Agnesi und Rovelli das Rationale und das Mystische im Gleichgewicht halten. Carlo Rovelli ist ein theoretischer Physiker, der in der Lage ist, Quantenphysik in zugängliche und emotional bewegende Poesie zu übersetzen. Maria Gaetana Agnesi schrieb sowohl das führende Lehrbuch ihres Jahrhunderts über Analysis als auch einen mystischen spirituellen Ratgeber, Il Cielo Mistico. Ich habe zudem Auszüge aus dem Buch "Der Meister und sein Gesandter" des Psychiaters und Neurowissenschaftlers Iain McGilchrist sowie aus seinem nachfolgenden Werk "Die Materie mit den Dingen" aufgenommen. In beiden Büchern vertritt er die Ansicht, dass unsere Spezies und die meisten anderen Lebewesen mit einem Gehirn darauf angewiesen sind, zwei alternative Perspektiven auf die Welt im Gleichgewicht zu halten. Er erklärt, dass Gehirne seit den frühesten prähistorischen Fadenwürmern vor 700 Millionen Jahren immer in zwei Hemisphären unterteilt sind.

Um es ganz einfach auszudrücken: Es ist nicht so, dass die beiden Gehirnhälften unterschiedliche Dinge tun, sondern vielmehr, dass sie die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Ganz allgemein gesagt achtete die linke Gehirnhälfte von Beginn an auf die Details und einzelnen Elemente von Situationen, um nach Nahrung zu suchen. Die rechte Gehirnhälfte behielt das Gesamtbild im Auge, den Horizont, um zu vermeiden, selbst angegriffen und gefressen zu werden. McGilchrist geht davon aus, dass sich das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Arten der Aufmerksamkeit gegenüber der Welt im Laufe der Jahrtausende verschoben hat. Das sie während des sogenannten Axialzeitalters in einem perfekten Gleichgewicht waren und eventuell mit dem Untergang des Römischen Reiches aus diesem gerieten. Er weist mit großer Dringlichkeit darauf hin, dass die Balance zwischen ihnen nun einen Punkt erreicht hat, an dem es zu einem potenziell katastrophalen Ungleichgewicht kommen könnte.

Es Devlin. Library of Light, Pinacoteca di Brera – Cortile d’Onore Salone del Mobile.Milano 2025

Während der zwei Wochen Laufzeit erwacht die Bibliothek zum Leben, Maria Gaetana Agnesi und Carlo Rovelli "sprechen" mit den BesucherInnen, während die Gäste selbst Bücher zur Ausstellung hinzufügen können. Warum ist Ihnen die Interaktion mit den BesucherInnen wichtig?

Es Devlin: Die BesucherInnen können selbst entscheiden, welche Form der Interaktion sie wählen: Die Skulptur kann man auf dem Weg zur Bibliothek oder zum Kunstmuseum wahrnehmen, sie funktioniert auch als "Fahrgeschäft", wie ein Karussell auf einem Jahrmarkt. Oder als nächtliche Show, die ein Publikum um sich herum versammelt, dass einer Geschichte lauscht, wie wir es alle als Kinder gerne getan haben. Jedes Buch ist ein Portal für die BesucherInnen in das Gesamtwerk und die Ideen jeder Autorin und jedes Autors. Das Werk fungiert auch als Pavillon, als Treffpunkt. Man könnte es als Observatorium betrachten, als einen Ort, an dem man die umgebende Architektur des Cortile d'Honore und seine Statuen und Schatten beobachten kann, während man sich langsam dreht. Jede dieser Interaktionsmöglichkeiten verleiht dem Werk Leben. Ich denke wirklich, dass alle Kunstwerke als partizipativ und "immersiv" bezeichnet werden können: Wenn man ein Musikstück hört, ein Gemälde betrachtet oder ein Buch liest, taucht man als TeilnehmerIn in das Leben dieses Kunstwerks ein.

Die Kernelemente dieser Arbeit sind Licht, Schatten und Bewegung. Sie kommunizieren mit dem Raum, erkunden ihn neu, reflektieren das Sonnenlicht mit Spiegelflächen und erhellen ihn bei Nacht. Die Installation dient also auch dem Raum, statt ihn nur zu dominieren. Warum ist Ihnen das wichtig?

Es Devlin: Schon als junger Mensch hatte ich das Gefühl, dass Räume lebendig sind. Das mag etwas seltsam klingen, aber ich reagiere stark auf Orte und habe meine Praxis daher auf sie ausgerichtet. In den letzten Jahren habe ich Installationen und Performances geschaffen, bei denen der Raum oft zum Protagonisten wird. Meine Arbeit ist dann ein Tanz mit dem Ort. Gleichzeitig habe ich jetzt damit begonnen, Werke in einem kleineren, tragbaren Maßstab zu schaffen, die in privaten Sammlungen ausgestellt werden können, was für mich neu ist. Ich habe das Gefühl, dass der Dialog mit einem ganz bestimmten Ort in den 30 Jahren meiner Tätigkeit immer wertvoller geworden ist, da die digitale Technologie uns immer mehr in die Lage versetzt, überall und nirgendwo zugleich zu sein. Die Möglichkeiten, sich ohne physische Anwesenheit mit anderen zu verbinden, sind berauschend und machen uns immer anfälliger für die Trennung zwischen unseren Füßen und unserem Geist. Ich begegne einem neuen Ort so, wie ich einer neuen Person begegnen würde, und beginne eine ortsbezogene Arbeit, als würde ich einen Tanz mit einem neuen Partner beginnen.

Die Installation zeigt 2000 Bücher, die vom Verlag Feltrinelli gespendet wurden und dabei helfen können, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten – in unserer hektischen, digitalisierten Welt ist ein Kompass gerade jetzt sehr gefragt. Sobald die Installation abgeschlossen ist, werden die Bücher auch Teil des städtischen Bibliothekssystems. Ist Ihre Arbeit in diesem Sinne ein Hinweis auf den Wert der Wurzeln unseres Wissens?

Es Devlin: Ich schätze die Worte von Umberto Eco: "Bücher sind der Kompass des Geistes, sie weisen auf unzählige Welten hin, die noch erforscht werden müssen." Für mich ist Lesen wie das Anprobieren einer neuen Brille. Tatsächlich ist es wie beim Optiker, wenn er eine Reihe von Gläsern auf jedes Ihrer Augen aufsetzt und Sie fragt: "Wie sieht die Welt durch diese Linse aus, und wie sieht sie durch diese Linse aus, und wie sieht sie durch eine Kombination dieser Linsen aus?" Meine Definition eines Textes ist weit gefasst: Es kann sich um einen Liedtext, einen Satz in einem Film- oder Fernsehskript, ein Graffiti oder ein Haiku handeln. Man muss keine Wälzer lesen, um davon zu profitieren, das Leben durch die Linse eines neuen Textes zu betrachten. In der heutigen Zeit, in der wir algorithmisch mit mehr von dem gefüttert werden, was wir bereits wissen, und dazu angehalten werden, die Welt durch immer verfeinertere Versionen unseres eigenen Standpunkts zu betrachten, glaube ich, dass Bibliotheken lebenswichtige Dienste darstellen: Ein Tag, an dem man eine Reihe von Standpunkten liest, könnte als Notfallversorgung für unsere angeschlagene Fähigkeit beschrieben werden, mit den Augen anderer zu sehen. Ohne diese Fähigkeit glaube ich, dass unsere Gesellschaften und unsere Spezies anfälliger werden und letztlich eher vom Aussterben bedroht sind.

Ihre Werke sind interdisziplinär – eine Schnittmenge ist, dass sie eine tiefere Ebene haben, die spirituell ist. Sie schaffen neue Perspektiven, vermitteln Wissen und erreichen ein großes Publikum, wie beim Salone del Mobile. Welche Elemente sind für Sie wesentlich?

Es Devlin: Ich denke, dass nonverbale Kommunikation wichtig ist: Obwohl diese Arbeit aus Büchern und Worten besteht, wird ihr Erfolg davon abhängen, wie sie die Menschen fühlen lässt. Kombinationen aus Musik, Mathematik und Zeit können emotional bewegend sein. In diesem Fall verschmelzen wir die mathematischen Strukturen, die wir unbewusst als Grundlage von Beethovens Akkordfolgen wahrnehmen, mit der geometrischen Auferlegung eines zeitgenössischen kinetischen Kreises über einem rechteckigen Innenhof aus dem 18. Jahrhundert. Wir arbeiten hier mit Elementen, die bereits im kollektiven Gedächtnis der BetrachterInnen existieren: Viele Menschen werden diese Musik erkennen, auch wenn sie nur unterbewusst bemerken, dass sie sie wahrscheinlich schon einmal irgendwo gehört haben, und jeder hat Schichten von Kreisen und Rechtecken in seiner Erfahrung überlagert. Die Stimme von Benedict Cumberbatch ist wahrscheinlich vielen bekannt, und Bücherregale sind ein Anblick, den die meisten Menschen mit Bibliotheken oder Buchläden in Verbindung bringen. Keines dieser Elemente ist neu oder seltsam: Das Neue ist die Kombination und Assoziation dieser Elemente in dieser besonderen Anordnung, an diesem Ort und zu dieser Zeit. Und weil es sich um vertraute Dinge handelt, finden sie einen Anknüpfungspunkt in der Vorstellungskraft der Menschen und beginnen, neue Assoziationen mit Erinnerungen zu verknüpfen, die bereits vorhanden waren. Durch diese werden neue Verbindungen geschmiedet, in jedem von uns und zwischen den Köpfen von uns allen, die wir hier versammelt sind. Tatsächlich knüpfen wir auch Verbindungen zu denen, die vor uns kamen und nach uns kommen werden. Wenn wir Beethovens Violinkonzert hören, werden wir zu Zeitmaschinen, wir sind durch einen Faden mit all denen verbunden, die es jemals gehört haben, bis hin zu dem Moment, als der Komponist die Noten in seinem Kopf hörte und die Notenlinien und Punkte mit Tinte auf Papier markierte. Und sogar noch weiter zurück durch all die Musik und Klänge, die Beethoven hörte und die die Musik, die er in seinem Kopf hörte, beeinflussten.

Wenn wir uns Kreise, Rechtecke und Quadrate ansehen, nähen wir uns und unsere Zeit gewissermaßen in den langen Wandteppich der Instanzen dieser geometrischen Formen ein, seit Menschen sie zum ersten Mal formen oder wahrnehmen konnten. Auf einer bestimmten Ebene erinnert uns ein sich drehender Kreis an unseren rotierenden Planeten, während die umgebende geradlinige Form uns vielleicht an all die architektonischen Strukturen und Texte erinnert, die westliche Menschen um ihn herum überlagert haben. Die Texte sind alle auf Englisch verfasst. Einige Menschen werden sie verstehen, andere werden sie als gesprochene Musik der Stimme wahrnehmen. Ich denke, beides hat seinen Wert. Ich arbeite viel mit Texten, die ich nicht verstehe. Bei der Installation "Congregation", die wir letztes Jahr in London geschaffen haben, haben wir Chöre zusammengebracht, die auf Latein, Zulu, Xhosa, Swahili und drei bulgarischen Dialekten gesungen haben. Viele der ZuhörerInnen verstanden die Worte nicht: Sie nahmen sie als musikalische Textur wahr und wurden so auf einer nonverbalen Ebene angesprochen. Das Wichtigste ist, dass die Arbeit das Publikum auf irgendeine Weise bewegt. Dann hat sie sich gelohnt.

Welche Welten möchten Sie noch erforschen?

Es Devlin: Ich interessiere mich sehr für partizipatorische Arbeit, die Schulen und andere Bildungsstätten erreichen könnte. In England liegt der Schwerpunkt an Schulen überwiegend auf Naturwissenschaften, Technik, Ingenieurwesen und Mathematik. Dies sind eindeutig sehr wichtige Fächer, aber in den letzten zehn Jahren hat unsere kulturelle Bildung abgenommen, und ich bin besorgt, dass die Folgen spürbar werden, wenn diese Kinder erwachsen werden. Ich interessiere mich sehr für die alltäglichen Praktiken in der Schule: eine Aktivität, die Kinder jeden Tag für ein paar Minuten mit dem Spirituellen verbindet, die tägliche Teilnahme an einer Sprache, die über das Transaktionale hinausgeht. Genau damit haben wir dieses Gespräch begonnen: die Begegnung von Mystik und Mathematik, die Begegnung von Poesie und Physik. Es gibt bereits Schulen, die Mathematik und Musik kombinieren, weil sie verstanden haben, dass diese Kombination von Aufmerksamkeitsmodi für das Lernen hilfreich ist. Ein Lehrplan, der die verschiedenen Aspekte der Aufmerksamkeit ständig miteinander verwebt – ich würde diese Idee gerne mit Entscheidungsträgern aus der Bildungspolitik weiterentwickeln. Ich denke, das könnte ein nächster Schritt sein.

Pinacoteca di Brera / Cortile d'Onore
Via Brera, 28, 20121 Mailand
7. bis 21 April 2025
9 Uhr bis 21 Uhr

Talk:
Es Devlin im Gespräch mit Sarah Douglas, Consultant, Advisor und Design Agent
Drafting Futures. Conversations about Next Perspectives
Kuratiert von Annalisa Rosso
Arena Drafting Futures by Formafantasma
8. April 2025, 14:30 Uhr bis 15:30 Uhr
Fiera Milano, Rho – Pavilion 14