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"Bar on Gipsstrasse", Idee: Ertl und Zull/ Sam Chermayeff Office, Produktion: Ertl und Zull, 2019

PORTRAIT
Hart, aber herzlich

Tausendfüßig: Ertl und Zull aus Berlin sind Designstudio, Kreativpartner, Produktionsbetrieb und alles dazwischen. Ihre Ästhetik dagegen ist eine ziemlich klare Sache.
von Jasmin Jouhar | 21.05.2021

Kreuzberg, 2. Hinterhof, Backsteinfassaden, Sprossenfenster, Lastenaufzug, alles in Jahrzehnten malerisch heruntergekommen. Berliner Industrienostalgie wie für Instagram gemacht. Mittendrin in der Shabby-Chic-Idylle: Tisch, Bänke und Hocker aus dicken Balken, aalglatt und quietschbunt. Simon Ertl legt Sitzkissen hin, bevor wir Platz nehmen zum covidkonformen Interview unter freiem Himmel. Die Möbel heißen nicht umsonst "Pretending it’s Wood": Was von Weitem an Holz erinnern mag, ist tatsächlich pulverbeschichtetes Aluminium. Ziemlich sitzkalt an diesem frischen Frühlingstag. Und typisch Ertl und Zull: Denn was Simon Ertl, Markus Zull und ein Netzwerk von MitarbeiterInnen und PartnerInnen unter dem Namen Ertl und Zull entwerfen und produzieren, fällt nicht durch besondere Cozyness auf.

"Pretending It's Wood" (Aluminium Outdoor Furniture), Design und Produktion: Ertl und Zull, 2019

Während in den sozialen Medien sanft gerundete Sofas in wolligen Kuschelbezügen und grobe Teppiche aus ungebleichten Jutefasern hoch- und runterjagen, kommen aus der Kreuzberger Hinterhofwerkstatt Möbel und Objekte von ausgesuchter Künstlichkeit und Härte. Barhocker, die auf vier stockdünnen Beinchen balancieren. Tische mit eingebautem Gasbrenner zum Kochen. Metallisch-glänzende Küchenmodule auf Rollen. Gepolsterte Stühle in Schreifarben. Scharfkantige Treppen aus verzinktem Blech. "Unsere Entwürfe sind alles Gegenstände in dem Sinn, dass sie ein Gegenüber sind", sagt Simon Ertl, einer der beiden Gründer von Ertl und Zull. "Dass sie einem im Weg stehen, gegen einen stehen. Sie sind nicht nur gemacht, um uns in ihrer Funktionalität zu gefallen und zu dienen. Sie sind eigene Charaktere, mit denen man eine Beziehung aufbaut." Die ungute Begegnung eines Schienbeins mit einer Metallkante ist übrigens einkalkuliert. Da ist der Designer schmerzfrei: "Das intensiviert doch nur die Beziehung zum Objekt", sagt er lachend.

"Burner Table", Design: Sam Chermayeff Office/ Ertl und Zull, 2020

Ertl und Zull hat als Unternehmen beinahe so viele Standbeine wie der tausendfüßige Tresen, den sie nach Entwürfen der Architektin Johanna Meyer-Grohbrügge für die Kunstsammlung von Julia Stoschek gebaut haben. In ihrer Werkstatt fertigen sie mit fünf MitarbeiterInnen Möbel, Bauelemente und Eventarchitekturen im Auftrag von Unternehmen, Agenturen und Architekturbüros. Auch Galerien und KünstlerInnen gehören zu ihren KundenInnen, sie lassen bei Ertl und Zull Installationen und Skulpturen herstellen. Kernkompetenz ist die Metallverarbeitung, geleitet wird die zweigeschossige Werkstatt von Ertls Gründungspartner Markus Zull. Neben den reinen Auftragsarbeiten gibt es auch eine ganze Reihe von Kooperationen mit anderen Kreativen – dann sind Ertl und Zull mit ihrem Designteam am Entwurfsprozess beteiligt, im Sinne einer gemeinsamen Autorenschaft. Solche Kooperationen gab es beispielsweise schon mit Berliner Architekturbüros wie Atelier Fanelsa oder Sam Chermayeff Office. Wer dann wie viel AutorIn eines Entwurfs ist, kann Simon Ertl oft gar nicht so genau bestimmen. "Die Figur des Einzelkünstler-Genies ist doch sowieso überholt." Der Austausch mit anderen, die Zusammenarbeit im Netzwerk macht es für ihn erst spannend. 2012, noch während seines Bachelorstudiums an der Kunsthochschule Berlin Weißensee, hat er erste Aufträge angenommen. Langsam und organisch erwuchsen daraus Studio und Werkstatt. Weil die Verantwortung auf mehreren Schultern liegt, konnte er als Jungunternehmer sogar weiter studieren. Im Juli wird Ertl sein Studium mit einem Master in freiem Design an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in Basel beenden.

"simple sofa" (modular), Idee: Simon Ertl, Benjamin Brenner, Ayscha Omar/ Produktion: Ertl und Zull, 2020

Nicht zuletzt entwerfen Ertl und Zull unter eigenem Namen Objekte in kleinen Serien. "Diese Projekte schwingen im Hinterkopf mit, während wir an größeren Aufträgen arbeiten", erzählt der Designer. "Wenn es dann wieder Freiraum gibt, setzen wir sie um." Dazu gehören auch die sitzkalten Outdoormöbel, die eigentlich ein Recycling-Projekt sind. Von einem Messebau-Auftrag blieben eine Menge Aluminiumprofile über, die das Team an Holzbalken erinnerten. So wurde die Idee zu "Pretending it’s Wood" geboren. Ein neues Aluminiumschweißgerät in der Werkstatt ermöglichte zudem die wirtschaftliche Fertigung der Tische, Bänke und Hocker. "Maschinen konstituieren die Gestaltung mit", sagt Simon Ertl. Zurzeit entstehen viele Objekte mit runden, voluminösen Körpern – einfach, weil sie das Metall in der Werkstatt dank einer neuen Blechwalzmaschine nun zu Tonnen formen können. Doch welches Werkzeug auch immer zum Einsatz kommt: "Mein persönlicher Anspruch ist es, dass alle Entwürfe gut lesbar sein müssen. Etwa durch eine starke Stilisierung oder den Bezug auf einen Archetyp." Das geht im Ergebnis mal mehr in Richtung dreidimensionale Strichzeichnung oder, wie bei den Outdoormöbeln, mal mehr in Richtung Comic. Denn – so betont es Ertl mehrfach im Gespräch – ihre Designs sollen bei aller Härte und Widerständigkeit vor allem eines machen: Spaß.