Schlägt man die Zeitung auf, findet sich dort gerade beinahe täglich eine Würdigung anlässlich des 80. Geburtstages von Philosophen, Schriftstellern, Schauspielern, Komponisten, Filmemachern, Kunsthistorikern, mitunter auch von Designern. Gibt es Gemeinsamkeiten des Geburtsjahrgangs 1932? Allein am Alter kann es nicht liegen, dass die Designer, von denen hier die Rede sein wird, jeweils ein umfangreiches, konsistentes Werk geschaffen haben.
Der Jahrgang 1932 steht für kontinuierliches Handeln, Überprüfen und Weiterentwickeln der einmal gefundenen Ideen. Produkte und Vorgehensweisen wurden als langlebig konzipiert. Oft über Jahrzehnte folgten die Designer ihrer Linie. Diese Hartnäckigkeit ist für die Umgebung nicht immer einfach zu ertragen. Leben und Werk des Designerjahrgangs 1932 scheinen dem „langsamen Bohren von harten Brettern“ gewidmet, „mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“, wie es der Soziologe Max Weber noch 1919 vom Beruf des Politikers erwartete.
Äußere Umstände
Wer historisches Geschehen nach dem Kalenderblatt sortiert, für den herrschte 1932 tiefste Normalität. Tatsächlich erreichte in diesem Jahr die weltweite Wirtschaftskrise in Deutschland ihren Höhepunkt. Erstmals erhielten 1932 die Feinde der Demokratie – die NSDAP, aber auch die KPD – mehr Stimmen und Sitze im Parlament als alle demokratischen Parteien zusammen. Eine Randnotiz: 1932 musste das Bauhaus Dessau verlassen. Die profilierteste deutsche Ausbildungsstätte für experimentelle Gestaltung wurde wegen des politischen Rechtsrucks geschlossen und wich nach Berlin aus. Wer in diesem Jahr des Übergangs in Deutschland geboren wurde, erlebte Kindheit und frühe Jugend während der Nazizeit und war bei Kriegsende irgendwo, aber nicht unbedingt zu Hause.
Enzo Mari berichtet, dass er in Mailand als ältester Sohn Geld für die Familie verdienen musste. Ein Schulabschluss ist nicht drin. Er konnte sich an der Kunstakademie Brera einschreiben. Doch egal, ob Malerei, Bildhauerei oder Dekoration, stets fragte Mari zu viel und bekam die falschen Antworten. Ingo Maurer, auf der Insel Mainau als Sohn eines Bodenseefischers geboren, brauchte ans Studium nicht zu denken. Er musste einen Brotberuf ergreifen, wurde Typograf, „da lernt man sehen und wahrnehmen“, erinnert er sich. Verlust eines Elternteils, Umzüge, Flucht: Für die Generation 1932 scheint dies geradezu vorprogrammiert. Das gilt für Rolf Heide, der mit der Familie zunächst in die Gegend von Danzig zieht. Später die Flucht zurück nach Kiel. Aus seinem schlesischen Geburtsort muss Hans (Nick) Roericht fliehen. Das Elternhaus des Finnen Eero Aarnio trifft eine russische Bombe. An den Internatsschulen, die Dieter Rams besuchte, sind paramilitärische Geländespiele wichtiger als etwa das Erlernen fremder Sprachen. Mit heutigen Vorstellungen von Kindheit hat all das nichts zu tun.
Wie die Erwachsenen sich die Welt mit dem Wiederaufbau einrichten, missfiel ihnen. Die alten politischen, sozialen und nicht zuletzt ästhetischen Ordnungsvorstellungen lebten in neuem Gewande fort. Doch ab Mitte der 1950er Jahre meldete eine neue Generation eigene Ansprüche an. „Es ist immer der Sprung vom Bauhaus in die 1960er Jahre. Was dazwischen liegt, das wird verweigert“, sagt Rolf Heide zu den ästhetischen Idealen seines Jahrgangs. Doch wer sind die Protagonisten des Designerjahrgangs 1932?
Kapseln im Raum
Eero Aarnio eröffnete 1962 sein erstes Büro für Industrial und Interior Design. Er spezialisierte sich auf Möbel aus synthetischen Materialien. Seine Entwürfe gelten als visionäres Space-Design, er schafft Kapseln im Raum, die wahlweise auch mit Telefon oder Stereo-Lautsprechern ausgestattet sind. Es sind psychedelische Rückzugsorte, umgeben von einer schützenden Schale wie etwa der 1966 vorgestellte „Ball Chair“ oder der transparente „Bubble Chair“, der 1968 erscheint. Mit „Pastilli“ (1968) und „Tomato“ (1971) entstanden Möbel, die erstmals nicht mehr klar dem Innen- oder Außenraum zugeordnet sind. Tillmann Prüfer schrieb über Aarnio in der „Zeit“, den Designer zeichne „der naive Blick auf den Fortschritt aus“ und „die besondere Gabe, Staunen in Form zu fassen.“ Ein Satz, der beinahe auf die gesamte Gestaltergeneration 1932 zutrifft.
Vielfalt und Einheit
Gäbe es so etwas wie den Weltstar des deutschen Designs, so wäre es heute Dieter Rams. Als Architekt und Innenarchitekt kam er 1955 zu Braun, bekannt wurde er Jahre später für seine Arbeit als Chefdesigner, die von 1961 bis 1995 währte. Bei Braun zeigten Designer wie Einheitlichkeit und Vielfalt zusammen passten. Dieter Rams fasste seine Erkenntnisse zum Designprozess thesenhaft zusammen. Sie gipfelten in dem Satz „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich“. Seine Vision einer vom Gestalter aufgeräumten Welt war nicht immer populär, inzwischen trägt sie utopische Züge. Als Rams längst im Ruhestand war, erklärten die Firma Apple und ihr Chefdesigner Jonathan Ive das frühe Braun-Design unter Rams zum Ur-Meter guter Gestaltung, zum Vorbild. Mit Vitsoe arbeitete er nebenher frei, entwarf Möbelsysteme, die er inzwischen heutigen Gegebenheiten anpasst. Hinzu kam seine Lehrtätigkeit an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Fast schon Personenkult: Sein ehemaliges Studio an der Hochschule wird demnächst als „Period Room“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe installiert.
Anschauung
Rolf Heide absolvierte eine Tischlerlehre in „mittelalterlicher Strenge“, bevor ihm sein Lehrer Eduard Levsen an der Muthesius-Werkschule in Kiel eine neue Welt gestalterischer Möglichkeiten eröffnete. Wie auch Rams’ Lehrer Hans Soeder an der Werkkunstschule Wiesbaden wollte Levsen an die Erfahrungen der Moderne der zwanziger Jahre anknüpfen. Im Mittelpunkt ihrer Lehre standen Begriffe wie „Notwendigkeit“. Die Not zu wenden, pragmatisch aus dem Gegebenen das Beste zu machen und dabei neue Formen und Konstellationen zu erproben, reizte die Designer. Heide arbeitete ab 1959 in Hamburg für Zeitschriften wie „Brigitte“, später für „Schöner Wohnen“ und „Architektur & Wohnen“. Er inszenierte Einrichtungsgegenstände als Bestandteile des Alltags. Als sich Hersteller zu Marken wandelten, half Heide Firmen wie Bulthaup, Duravit, Gaggenau, Interlübke bei der Inszenierung ihrer Werte und Produkte. Was ihm am Markt zu fehlen schien, entwarf Heide selbst. Etwa Leuchten für Anta oder das bis heute populäre Stapelbett, das ursprünglich für die berufstätige „Brigitte“-Leserin konzipiert war. Heides frühe Möbel waren zerlegbar, damit sie an Leser versandt werden konnten. Eine ganze „Wohnbedarf“-Kollektion entstand, für Interlübke entwarf er Möbelsystem wie die „SL-Wand“ oder das vertikal orientierte System „Travo“.
Das Geheimnis des Objekts
Richard Sapper übergab 1958 als junger Mitarbeiter der Abteilung „Stilistik“ bei Daimler-Benz seinem Vorgesetzten ein Konvolut eigener Zeichnungen und Konzepte. Von der Qualität war der Chef begeistert, sagte aber: „Solche Autos werden wir natürlich niemals bauen“. Sapper bemerkte sofort, wie wenig Spielraum ihm in einer „Riesenfirma“ blieb. Die sichere Stelle gab er auf, um nach Mailand zu gehen. Sapper arbeitete für Gio Ponti und war Partner von Marco Zanuso, mit dem er Telefone, Fernseher und neuartige Kunststoff-Möbel entwarf. Sappers Entwürfe haben stets ein kleines Geheimnis, das sie lüften, sobald man sie nutzt: wie bei der Tischleuchte „Tizio“ (1972), die sich selbst ausbalanciert. Das gilt für die Tischuhr „Static“ (1959), die sich zum Betrachter neigt, obwohl sie doch umfallen müsste, für das Radio „TS 502“ (1964), für die Alessi Espressomaschine „9090“ (1978) und auch für IBM-Computer, die Sapper entwarf. IBM und die Nachfolgefirma Lenovo berät er seit 1980, gewissermaßen als externer Designchef mit Beraterstatus. Zu seiner langjährigen Lehrtätigkeit in Stuttgart erklärte er einmal: „Zwei Dinge spielen in der Designausbildung eine Rolle: das Beispiel des Lehrers und die Qualität der Gemeinschaft, die ihrerseits wieder vom Beispiel des Lehrers beeinflusst wird.“ Noch immer kommen neue Produkte von Richard Sapper auf den Markt. Wer mehrere Displays nebeneinander im Blick behalten muss, kommt an den „Sapper Multiple Monitor Beams“ (Knoll, 2011) kaum vorbei, mit denen sich Bildschirme zu einem großen „Arbeits-Altar“ kombinieren lassen.
Birne kann alles
Ingo Maurer strebte vom Bodensee in die Welt. Als Typograf ging er in die Vereinigten, bis heute die zweite Heimat des Wahlmünchners. Die nackte Edison-Glühbirne, die von der Decke herabhängt, wurde zum Ausgangspunkt seines zweiten Berufs als „Lampenmacher“ wie er selber sagt oder „Lichtpoeten“, wie andere ihn nennen. Die Glühbirne beschrieb Maurer einmal so: „Sie hat eine wahnsinnig schöne Form, sie ist stark, man kann sich die Finger daran verbrennen, sie kann zerbrechen – sie hat die Technik und die Poesie.“ Seit 1966 entwirft Maurer Leuchten und lange ist er davon abgekommen, ihnen Schirme überzustülpen, die sie verstecken. Die Glühbirne selbst bekommt bei ihm Flügel, sie verschwindet, wird mal von explodierendem Porzellan umgeben. Maurer inszeniert Räume mit Licht, erprobt neueste Lichttechniken wie LED und OLED, ohne deshalb der Glühbirne die Treue aufzukündigen. Er entwirft im Team Serienleuchten und Einzelstücke, arbeitet an großen Projekten, etwa der Beleuchtung neuer Münchner U-Bahnstationen. Und als einer der wenigen seines Jahrgangs, schreckt er mitunter nicht einmal vor Kitsch zurück, schwelgt dann in glitzernden Materialien, um im nächsten Moment eine technische Leuchte aus der Tasche zu ziehen.
Alles kreist um das Projekt
Enzo Mari gilt als „nachdenklich“. Er sei ein „Provokateur“ heißt es. Mit anderen Worten: Seine Wahrheiten sind noch unbequemer als die anderer Designer. Seinen Gedanken zu folgen, ist anstrengend aber höchst lohnenswert. Ein zentraler Begriff ist für ihn das „Projekt“, bei dem sich Designer, Handwerker und Unternehmen auf ein ethisches Ziel verständigen, aber nicht per Absichtserklärung, sondern als gemeinsamer Forschungsprozess. So kritisiert Mari die Widersprüchlichkeit vieler Unternehmen, die sich aus der Projektentwicklung vollständig zurückziehen und diese allein dem Designer aufbürden. Das wichtigste übergeordnete Projekt ist für ihn, die Menschen von ihrer Konditionierung auf den „Gott der Märkte“ abzubringen. Anders als seine komplexen theoretischen Überlegungen wirken seine Werke unmittelbar und emotional. Dazu gehören Spieleelemente für Kinder, etwa ein Zoo aus sechszehn ineinander passenden Tieren aus Holz (Danese, 1957), aber auch Möbel wie der zerlegbare, transportable „Box Chair“ (Castelli, 1971), der elegante „Tonietta“-Stuhl (Zanotta 1980/85), das Porzellanservice „Berlin“ (KPM, 1995). Mari, der in Italien lehrt, ist Ehrenprofessor der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Seine „kritische Designübung“ von 1973 wurde jüngst als „Autoprogettazione 2.0“ für junge Designer aufgegriffen und im Rahmen der Ausstellung „The Future of the Making“ in Mailand präsentiert.
Verstehen im Netz
Hans (Nick) Roericht studierte ab 1955 an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und lehrte später dort und 1966/67 an amerikanischen Hochschulen. In Ulm gründete er sein eigenes Büro. Roericht gelang 1959, wovon Studenten meist träumen: Mit der Diplomarbeit ein begehrtes Serienprodukt zu schaffen. Das Hotelporzellan-Stapelgeschirr „TC 100“ entspricht bis heute Ansprüchen vieler Hoteliers. Roericht lehrte von 1973 bis 2002 an der Hochschule der Künste Berlin, der heutigen Universität der Künste. Die Liste seiner Studenten ist lang und eindrucksvoll. Egon Chemaitis, Inge Sommer, Werner Aisslinger, Oliver Vogt, Herrmann August Weizenegger und Judith Seng sind nur einige wenige. In der Entwicklungsgruppe 5 von Otl Aicher arbeitete Roericht am Erscheinungsbild der Lufthansa und der Olympischen Spiele mit. Was „ins Netz stellen“ bedeuten könnte, zeigt er exemplarisch mit seiner Website. Die von ihm gegründete Nick-Roericht-Stiftung macht Studien, Lehrkonzepte, Interviews, Produktplakate, beispielhafte Projekte, Work-Ends und Möglichkeitsstudien, Diplomarbeiten seiner Studenten für alle zugänglich: Alles was Hans (Nick) Roericht gesammelt hat, lässt sich hier anschauen oder nachlesen. Einige seiner Büromöbel sind bei Wilkhahn noch im Programm. Und auch das Porzellan, nun made in China, ist wieder lieferbar.
Womöglich haben wir es vor lauter Geburtstags-Feiern übersehen. Ja, es gibt den Jahrgang 1932, es verbindet ihn ein humanistischer Impetus, und er bereichert unser Leben und Denken mit einer nach wie vor neuen Art von Gestaltung.