Nachhaltigkeit
Revolution auf dem Klo
Es gibt eine Todeszone. Mitten in Europa. Sie ist doppelt so groß wie die Schweiz und liegt zwischen Schweden und dem Baltikum, rund um die Insel Gotland. Dort ist die Ostsee tot. Es gibt praktisch keinen Sauerstoff mehr im Wasser. Kaum ein Lebewesen kann dort dauerhaft existieren. Auch diese Umweltkatastrophe ist menschengemacht. Denn seit Jahrzehnten gelangen viel zu viel Stickstoff und Phosphor in die Flüsse und damit ins Meer. Die Ostsee, die ja beinahe ein Binnenmeer ist, trifft diese "Überdüngung" wegen des geringen Wasseraustausches und der hochindustrialisierten Anrainerstaaten besonders. Doch das Problem greift längst weltweit um sich. Gab es nach Angaben des Umweltbundesamtes 1960 etwa zehn tote Zonen in den Ozeanen so waren es 2008 bereits 405, Tendenz weiter steigend. Küstengebiete und Flussmündungen sind besonders betroffen. Umweltschützer bezeichnen dieses Meeressterben als eines der gravierendsten und gefährlichsten ökologischen Probleme überhaupt – ähnlich dramatisch wie der Klimawandel, doch von der Weltöffentlichkeit bislang weit weniger wahrgenommen.
Die Ursachen liegen zum einen in der übermäßigen Düngerverwendung der Landwirtschaft. Diese Tatsache ist seit Langem bekannt und wird – zumindest in Europa – allmählich mittels strengerer Gesetze einzudämmen versucht. Zum anderen entsteht die Überdüngung oder Eutrophierung, wie es fachlich korrekt heißt, durch den Menschen selbst. Menschlicher Urin enthält große Mengen Stickstoff und Phosphor und trägt so, wenn er ungeklärt in unser Ökosystem gelangt, zum Gewässersterben bei. Auch Hormone und Medikamentenrückstände gelangen über den Urin in großem Maßstab ins Abwasser. In den hochentwickelten Industrieländern hilft moderne Klärtechnik, das Problem im Griff zu behalten. Doch der Aufwand ist immens. Eineinhalb Liter Urin verunreinigen 180 Liter Wasser. Das Mündungsgebiet der Seine etwa ist trotz aller Klärtechnik inzwischen massiv gefährdet. In den Entwicklungs- und Schwellenländern gelangen riesige Mengen von Fäkalien ungeklärt in die Flüsse und Meere.
Seit über zwei Jahrzehnten forscht Tove Larsen an der Eawag, dem Schweizer Institut für Wasserforschung in Dübendorf bei Zürich, an Lösungen, die Gewässerüberdüngung durch Urin zu verhindern. Und der Ausweg, das war ihr früh klar, ist scheinbar banal. Man muss lediglich verhindern, dass sich Urin und Spülwasser in der Toilette vermischen. Denn einmal vermengt ist es praktisch unmöglich, beide Flüssigkeiten wieder zu trennen. Separiert und chemisch umgewandelt kann Urin jedoch sogar eine wertvolle Ressource sein. Doch wie soll man die zwei Substanzen in der Toilette auseinanderhalten? Jeder Versuch, der dazu unternommen wurde, hatte sich als viel zu aufwendig und für die Großserienproduktion ungeeignet erwiesen.
An dieser Stelle der Geschichte tritt Harald Gründl auf. Gründl hat vor 24 Jahren mit seinen Partnern Gernot Bohmann und Martin Bergmann das Designstudio EOOS in Wien gegründet – heute das international erfolgreichste und bekannteste in Österreich. Als 2008 die Wirtschaftskrise ausbrach, begannen sich die EOOS-Gründer zu fragen, welche gesellschaftliche Rolle ihre Entwürfe zukünftig spielen sollten. "Wollen wir nur wieder eine weitere Badewanne entwerfen – ohne uns zu fragen, wo das Wasser herkommt und wo es hingeht?", beschreibt Gründl seine damaligen Zweifel. Das konnte es doch nicht sein. Und als er zufällig bei seiner Beschäftigung mit der Ressource Wasser auf die Grundlagenforscherin Larsen traf, fragte er sie kurzerhand, ob sie nicht einen Designer gebrauchen könne. "Ich hatte eine eher abstrakte Aufgabestellung von ihr erwartet", erinnert sich Harald Gründl. "Doch sie hatte ein glasklares Produktbriefing für uns: "Entwerft mir eine Urinseparationstoilette, die funktioniert! Die existierenden sind zu schlecht." EOOS machte sich ans Werk, zunächst mit äußerst beschränkten Mitteln. Das änderte sich schlagartig im Jahr 2011, wie Gründl berichtet: "Tove rief mich an und sagte mir, dass die Bill & Melinda Gates Foundation uns eingeladen hatte, an ihrer "Reinvent the Toilet Chellange" teilzunehmen und dass die Stiftung dafür Forschungsgelder zur Verfügung stellen würde."
Eine Hightech-Toilette für Alle
Dieser Artikel hätte auch so anfangen können: Rund 1,8 Millionen Menschen sterben jährlich an Durchfallerkrankungen, darunter eine halbe Millionen Kinder unter fünf Jahren. Der Hauptgrund: Weltweit haben mehr als 2,5 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sicheren und bezahlbaren Sanitäreinrichtungen. Dieses Problem wird immer dramatischer: durch die weltweite Verstädterung; durch die Megacitys, die besonders auf der südlichen Welthalbkugel entstehen; durch die immer weiter wachsenden Slums ohne Anschluss an das Wasser- und Stromnetz. In Kampala, der Hauptstadt Ugandas, besitzen nur 16% der armen Haushalte eine private Toilette. Die große Mehrheit ist auf öffentliche Toiletten angewiesen. Und diese sind oft hygienisch in einem verheerenden Zustand. Um das zu ändern beauftragte die Gates Foundation im Jahr 2011 acht Universitäten und Institutionen damit, Toilettensysteme zu entwickeln, die auch ohne Infrastruktur funktionieren. Die Forderungen der Stiftung: Die Toiletten sollten keinen Wasser- und Stromanschluss benötigen, weniger als 0,5 US-Cents pro Benutzer pro Tag kosten, Keime in den Fäkalien abtöten können und in der Lage sein, wertvolle Ressourcen wie Wasser und Nährstoffe zurückzugewinnen.
Anders als die meisten übrigen Projekte, die von der Gates Foundation gefördert wurden, wählte das Team aus EOOS und Eawag einen Ansatz, der zunächst nicht speziell auf den Einsatz in der Dritten Welt zugeschnitten war. Sie hatten erkannt, dass die Idee der Separationstoilette geradezu ideale Voraussetzungen für die Nutzung in Gebieten ohne Infrastruktur bot. "Auch Handys wurden natürlich nicht für Slums entworfen, aber sie sind dort die idealen Kommunikationsmittel" sagt Harald Gründl. "Es ging uns um eine Hightech-Toilette, die überall funktionieren sollte."
Doch wie sollte die Urinseparation funktionieren? Zunächst dachten Gründl und seine Mitarbeiter an einen Sensor, der zwischen Wasser und Urin unterscheiden kann. Tatsächlich gab es ein entsprechendes Produkt auf dem Markt. Doch der Sensorhersteller und die Gates Foundation konnten sich nicht auf eine Zusammenarbeit einigen. "So standen wir plötzlich mit den Forschungsgeldern da, hatten aber keine Idee, wie wir das Problem lösen sollten", erinnert sich Gründl. Um wenigstens nicht völlig untätig zu sein, begannen er und sein Team Ergonomiestudien durchzuführen. Denn zu Überraschung der EOOS-Designer gab es kaum wissenschaftliche Untersuchungen über das menschliche Verhalten bei der Toilettenbenutzung. Also fingen die EOOS-Mitarbeiter an, sich mit Wärmebildkameras auf der Toilette zu beobachten. Sie forschten über Winkel, Auftreffflächen und Geschwindigkeit des Urinstrahls. Schließlich waren sie in der Lage, ein simples mechanisches Gerät zu bauen, mit dem sich das weibliche und männliche Wasserlassen vollständig im Labor imitieren ließ: den "Urinator".
Mit diesem neuen Werkzeug fingen Gründl und seine Mitarbeiter nun an, nach mechanischen Auffanglösungen zu forschen. Und verfielen schließlich auf den sogenannten "Teekanneneffekt": Wird Tee aus einer vollen Kanne zu langsam ausgeschüttet, so läuft die Flüssigkeit nicht im Bogen in die Tasse, sondern rinnt die Tülle herunter. Gründl und sein Team machten sich diesen Effekt zu Nutze, indem sie die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Flüssigkeiten zu deren Trennung verwendeten. Der langsame Urin wird durch eine speziell geformte Lippe abgeleitet, während das schnelle Spülwasser anschließend einfach über die Lippe hinwegrauscht. Die Wirksamkeit des Verfahrens ist beeindruckend: knapp 80 Prozent des Urins können so separiert werden.
Die Flüssigkeitstrennung im Teekannenprinzip bildete den Durchbruch bei der Weiterentwicklung der "Blue Diversion Toilet", die EOOS und die Eawag für die Gates Foundation entworfen haben. Diese konnte ihre Qualitäten bereits bei Feldversuchen, unter anderem in Uganda und Südafrika, unter Beweis stellen. Während die "Blue Diversion Toilet" das Wasser selbst reinigt und anschließend weiterverwendet, werden die Fäkalien in einem abgeschlossenen Container gesammelt. Der Urin wird anschließend in einem von der Eawag entwickelten neuen Verfahren zu Dünger verarbeitet. Dazu wird er zunächst chemisch "stabilisiert", wobei der typische Uringeruch verschwindet und anschließend die Flüssigkeitsmenge durch Destillation auf knapp 7 Prozent des ursprünglichen Volumens reduziert. Das Destillat enthält dieselbe Nährstoffkonzentration wie kommerzieller Kunstdünger und ist dadurch ein wertvolles und dringend benötigtes Produkt für die Landwirtschaft. Zurzeit arbeiten die Forscher bei Eawag daran, dass diese Umwandlung nicht in einer Fabrik, sondern direkt vor Ort in einem Zusatzmodul an der Toilette erfolgen kann.
Auch an weiteren Nutzungsmöglichkeiten für den Urin wird bereits geforscht. Forscher der Universität Bristol arbeiten seit langem an einer Technologie, bei der durch Urin Energie gewonnen wird: Mithilfe sogenannter mikrobieller Brennstoffzellen, in denen Bakterien den Urin zersetzen, entsteht Strom. Etwa 200 Milliliter Urin reichen etwa, um eine Smartphone zu laden.
Warten auf den Durchbruch
Urintrennung und Urinumwandlung wären natürlich auch in den Ländern der ersten Welt ein ideales Mittel, um der Umweltzerstörung durch Überdüngung Herr zu werden. Harald Gründl glaubt, dass es für den Erfolg der Technologie in Afrika oder Asien unbedingt erforderlich ist, dass auch in den Industrieländern das Problem entschieden angegangen wird: "Denn sonst werden wir bald gefragt werden: Ihr macht so weiter und wir sollen das nicht dürfen?" Was aber noch fehlte war ein Hersteller, der bereit war, die Separationstoilette zu einem Industrieprodukt weiterzuentwickeln. "2017 kontaktierte uns der Sanitärkeramikhersteller Laufen mit der Frage, ob wir ihren neuen Wiener Showroom gestalten könnten", erzählt Gründl. "Ich wusste, dass Laufen immer Technologieführer in seinem Bereich war. Dort wurde das wandhängende WC zum europäischen Standard gemacht und die Saphirkeramik erfunden, die ganz neue Waschtischformen möglich gemacht hat." Kurzentschlossen lud Gründl die Verantwortlichen ins Studio ein und zeigte ihnen den ersten Prototypen des Separations-WCs, der gerade fertig geworden war. Und genauso kurzentschlossen stimmte man bei Laufen zu, eine Separationstoilette aus Keramik zur Serienreife zu entwickeln. Nur wenige Monate später präsentierte das Unternehmen das fertige Produkt auf der Sanitärmesse ISH 2019 erstmals der Öffentlichkeit. Das "save!" getaufte WC sieht nicht nur aus wie eine normale Toilette, es lässt sich auch genauso benutzen. Die einzige Einschränkung: Damit die Trennung funktioniert, muss man sich setzen. Erste Vorserienmodelle von "safe!" sind mittlerweile an verschiedenen Orten der Welt im Testbetrieb, an der ETH Zürich ebenso wie an der Bauhaus Universität Weimar, der Universität im südafrikanischen Durban und am Rich Earth Institute im amerikanischen Brattleboro. Der offizielle Verkaufsstart ist für das Frühjahr 2020 geplant. Laufen bringt sich übrigens nicht nur mit einer Toilette für europäische Bedürfnisse in das Projekt ein: Für den Einsatz in den ärmsten Regionen der Welt entwickelt Laufen ein Minimal-WC, das aber trotzdem in der Lage sein wird, den Urin aufzufangen und zu trennen.
„Als vor 150 Jahren das Wasserklosett eingeführt wurde, um die Straßen von Gestank und Fäkalien zu befreien, fragten sich viele, wie denn die Zu- und Ableitungen durch die Häuser gelegt werden sollten. Heute sind wir dankbar, dass diese Herausforderung gemeistert wurde. Die Urinseparation ist eine Technologie von ähnlicher Tragweite. Auch diesmal werden viele bemängeln, dass es nun ein zweites Abwasserrohr braucht. Doch wir können nichts so weit wegtransportieren, als dass es uns nicht wieder vor die Füße fällt. Deshalb müssen wir jetzt unseren eigenen Unrat aufarbeiten und als Ressource wieder in den Kreislauf einspeisen.
Die Gewinnung von Dünger aus menschlichem Urin stellt eine notwendige Lösung dar, um die Kläranlagen und die Umwelt zu entlasten. Wir können nur appellieren, die Urinseparation möglichst schnell einzuführen.“
Zum großen Stolperstein für den Durchbruch des Systems in den Industrieländern könnte die notwendige Infrastruktur werden. Zunächst benötigt jedes Separations-WC natürlich ein zweites Abflussrohr für den Urin, dass zusätzlich verlegt werden muss. Der Urin könnte dann entweder zentral im Haus gesammelt, umgewandelt, konzentriert und dann regelmäßig abgeholt werden. Oder er muss, getrennt vom übrigen Abwasser, durch ein neues Kanalnetz abgeleitet werden. Alternativ könnte man versuchen, die bestehenden Abwasserkanäle für beide Arten von Flüssigkeit zu nutzen. Zum Beispiel, in dem man den Urin tagsüber speichert und nachts durch die Rohre transportiert. Es wird viel politischer Wille erforderlich sein, die Urinseparation flächendeckend einzuführen. Dennoch: Plötzlich scheint das Problem der Überdüngung und des dadurch verursachten Meeressterbens lösbar. Eine Handvoll Menschen haben eine Technologie entwickelt, die der gesamten Menschheit nutzen könnte. Wie sie das geschafft haben? Gründl denkt einen Moment nach und sagt dann: "An etwas Sinnvollem zu arbeiten, befähigt einen zu Höchstleistungen." Und präzisiert: "Zumindest trifft das auf uns zu."