Auch wenn so manchem die Retro-Orgien, die Verklärungen der Moderne, die Zitate und Reeditionen auf die Nerven gehen mögen – das Design befasst sich in den letzten Jahren so intensiv wie selten zuvor mit seiner eigenen Vergangenheit und entdeckt in ihr einen kulturellen Fundus, den man zitieren, ironisieren, ausschlachten, als sichere Bank oder als Wert begreifen kann. Unzählige Hersteller sind in jüngster Zeit in ihre Archive gekrochen, haben „Klassiker“ hervorgekramt oder Entwurfszeichnungen entdeckt, für die sich lange keiner interessiert hatte. Auch auf dem diesjährigen Salone und den Begleitveranstaltungen in Mailand waren auffallend viele Präsentationen zu sehen, bei denen die Hersteller ihre eigene Vergangenheit feierten oder frühere Designprozesse darstellten: Der gesamte Messestand von Kartell zeigte Skizzen, Prototypen und Modelle älterer Entwürfe. Auch Flos präsentierte zum fünfzigjährigen Firmenjubiläum in seinem Showroom Schaukästen voll mit Vormodellen und Mustern seiner Leuchtenklassiker. Selbst mitten in der Stadt waren Container aufgebaut, die mit Designikonen aus verschiedenen Jahrzehnten bestückt waren. Die Geschichte des Gegenständlichen, so scheint es, wird nun wie eine Sammlung von Käfern in Vitrinen gepackt, um sie vor dem Vergessen zu bewahren.
Die Inszenierung in einem Innenhof der Mailänder Staatsuniversität, die das Amsterdamer Designpaar Scholten & Baijings für die Automarke Mini realisierte, wirkte wie der Transfer dieser Ideen in einen größeren Maßstab. Und doch war sie gleichzeitig Rückkehr zum Wesen des Produktes Auto und Ausblick in seine Zukunft. Nachdem BMW bereits 2010 mit dem „The Dwelling Lab“ von Patricia Urquiola und Giulio Ridolfo den Mut bewiesen hatte, sich auf eine freie konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Thema Auto einzulassen, gingen BWM-Group-Designchef Adrian van Hooydonk und Mini-Chefdesigner Anders Warming mit der Auswahl des niederländischen Designduos noch einen Schritt weiter: Carole Baijings und Stefan Scholten haben in den vergangenen Jahren mit ihren subtilen Farb- und Materialkonzepten einen eigenen Stil entwickelt, der in den verschiedenen Marken wiedererkennbar bleibt. Dass sie kein klassisches Concept Car entwickeln würden, war wohl von Anfang an klar.
Gehäutet wie eine Zwiebel
Ihrer konzeptbetonten Herangehensweise blieben Scholten & Baijings auch für die Marke Mini treu. Fast schon wissenschaftlich forschend näherten sie sich für die Installation „Colour One for Mini by Scholten & Baijings“ dem Thema Fahrzeug an und zerlegten einen „Mini One“ Schicht für Schicht in seine Einzelteile. „Wir häuteten das Auto wie eine Zwiebel,“ so Stefan Scholten. Extrahierten Elementen wie Türen, Fenstern oder dem Cockpit ließen sie als „Art Parts“ mit neuen Texturen und Farben besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Sie überzogen verborgene Schönheiten aus dem Inneren des Fahrzeugs, wie das Armaturenbrett oder das abstrahierte Lenkrad, mit Pigmenten in Leuchtfarben, um ihre Ästhetik sichtbar zu machen. Sie reduzierten die Volumina der Bauteile so weit wie möglich, um die Wesensmerkmale des Autos wieder deutlicher herauszuarbeiten. Sie entwickelten Taschen für den Fahrzeuginnenraum oder eine Sonnenblende, die sich zur clutch bag umfunktionieren lässt. Oder hinterfragten die Sinnfälligkeit bestehender Funktionen und ersetzten sie durch erzählerische Lösungen.
Gemeinsam mit Vincent de Rijk entwickelten sie beispielsweise transparente Reifen aus Gießharz, mit denen die archaischste Form eines Fahrzeugs zu einem einteiligen Element wird und eine neue, seiner Bedeutung und Dynamik angepasste Ästhetik erhält. Sitze und Gurte versahen sie mit eigens entwickelten Stoffen, die Erinnerungen an die Rally-Vergangenheit der Marke wecken wollen und bei denen handwerkliche Stiche für einen Kontrast zum perfekten Massenprodukt sorgen sollen. Für die Funktion des Kühlergrills, den sie als wesentliches gestalterisches Merkmal vom Fahrzeug lösten und farblich betonten, ersannen sie eine simple Alternative: Sie durchbohrten die Außenhaut des Fahrzeugs, die nun wie ein vom Gesamtkörper gelöster und gebleichter Knochen wirkt, mit einem Raster aus Tausenden von Löchern, das zum Fahrzeugheck hin ausläuft und die Belüftung übernehmen soll. Die außerhalb des Fahrzeugs präsentierten Türen überzogen sie mit goldener Textur, mit einem matten Porzellanlack oder den für das Designerduo typischen Farbverläufen. Die Fahrzeugfenster schließlich bedruckten sie mit den verwischten Bildern vorbeiziehender Landschaften, die je nach Position des Fensters einen Blick in Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft vermitteln sollen.
Natürlich kann man all das als unrealistisch, allzu ästhetisiert, viel zu poetisch und fast schon esoterisch kritisieren. Man kann anmerken, dass das doch eher Kunst sei als Design. Man kann sich fragen, was der Autohersteller davon hat und ob davon tatsächlich Anregungen in die zukünftige Entwicklung bei Mini einfließen werden, wie Anders Warming auf der Pressekonferenz sagte. Doch hier geht es nicht vorrangig um das Beantworten konkreter Fragestellungen und das Entwickeln neuer funktionaler Lösungen. Es geht vielmehr um einen überraschenden Blick auf viel zu selten in Frage gestellte Typologien und ein unbefangenes Spiel mit der Schönheit der Formen, Texturen und Farben. Es ist eine kulturelle Reflexion des Bestehenden, ein Analysieren, ja geradezu Sezieren von Formen, die in ihrer Schönheit wiederentdeckt, neu geschliffen, vergoldet und gefasst werden.
Skizzenbuch oder Knochenorakel?
Unter dem transparenten Pavillondach präsentierten sich die einzelnen Elemente deshalb wie schillernde Insekten in einer Sammlervitrine. Die Inszenierung rief – je nach Betrachter – aber auch Assoziationen an die Objektanordnungen in einer „Car Clinic“ hervor, an ein Fahrerlager, an das wissenschaftlich präzise Entschlüsseln der DNA eines Lebewesens, an ein riesiges, dreidimensionales Skizzenbuch, an eine bunt zusammengewürfelte Sammlung ausgesuchter Preziosen in einer Wunderkammer oder auch an ein Knochenorakel, bei dem die vom Fleisch befreiten Objekte eine eigene bizarre Schönheit entfalten und in neuer Anordnung einen Blick in die Zukunft erlauben.
Die Installation von Scholten & Baijings für Mini war sicherlich eine der schönsten aber auch hintersinnigsten Präsentationen der diesjährigen Mailänder Designwoche. Hier ging es nicht um ein Concept Car, das nur dazu gebaut wurde, um mit großer Geste die Fortschrittlichkeit eines Herstellers zu bezeugen und doch nie in Serie geht, sondern um eine poetische und inspirierende Auseinandersetzung mit dem Thema, die spielerisch verborgene Schönheiten sichtbar macht, die Funktionen der Elemente eines Autos hinterfragt und die konzeptionelle Ideen auch Konzepte bleiben lässt, ohne sofort nach Vernunft und Realisierbarkeit zu fragen. Denn was in der Fahrzeugindustrie als Concept Car gilt, so Carole Baijings, ist kein Konzept, sondern ein fertiges Auto. Anders als die zu Ende gedachten Concept Cars auf den Automessen mit ihrem ewig gleichen Demonstrieren von Progressivität, Dynamik, Kraft und Macht bot die Installation von Scholten & Baijings tatsächlich Freiraum für Assoziationen, für die Reflexion über den Designprozess, über Vergangenheit und Zukunft der Marke, vor allem aber für einen subjektiveren und emotionaleren Zugang zu dem, was den Wert eines Autos in Zukunft ausmachen kann.