Natur trifft High-Tech
Wenn sich ein spanisches Architekturbüro "Ensamble Studio" nennt, also nach dem Substantiv von ensablar, montieren, genauer vielleicht fügen, sollte man meinen, es geht primär um das Bauen als konstruktive Disziplin. Gefügtes erkennt man an den Fugen, an den sichtbaren Verbindungen – das Gefüge tritt unverhüllt zutage. Man denkt an Richard Buckminster Fuller, an Jean Prouvé, an Charles Eames, aber auch an die Meister der Spätgotik, für die die präzise Fügung fragiler Steingespinnste essenziell, weil Voraussetzung tektonischer Stabilität war. Der Industrie- und Laborbau Ensamble Fabrica in Madrid scheint dieses Credo wortgetreu zu illustrieren: ein feinnerviger Stahl-Glasbau von demonstrativer Stringenz. Was ihn allerdings aus der Masse ebenso schlichter, aber uninspirierter Industriebauten heraushebt, ist der spannungsreiche Kontrast zwischen der stereometrischen Quader-Großform und dem filigranen Netz der Konstruktion, die gleichzeitig Fassade ist. Statt weniger, kräftig dimensionierter Andreaskreuze zur Aussteifung des Tragwerks gibt es die Diagonalelemente feingliedrig über alle Felder verteilt. Durch die bewusst gestalterische Entscheidung wird das sehr rationalistische Konstrukt zum Artefakt.
Dieser poetische Zugriff bei der Ensamble Fabrica macht die beiden scheinbar widersprüchlichen Haltungen deutlich, die die ArchitektInnen in ihrer Arbeit vereinen. Gegründet wurde das Büro von dem Architektenehepaar Antón García-Abril, geboren 1969 in Madrid, und Débora Mesa, geboren 1981 in Madrid. Beide haben an der Polytechnischen Universität Madrid studiert und promoviert. Sie ist Design Critic in Architecture an der Harvard GSD und er ist Professor am MIT, wo sie 2012 das Prototypes of Prefabrication Laboratory POPlab mitbegründet haben. Die USA gehören bei den in Madrid beheimateten ArchitektInnen durch ihre nach wie vor intensiven Kontakte zur Universitätsszene und ein Zweigbüro in Boston auch beruflich zu einem bevorzugten Tätigkeitsfeld. Hinzu kommen Projekte in Fernost.
Von Anbeginn gehört der Bauingenieur Javier Cuesta zum Team. Er leitet die Fertigungswerkstatt in der Ensamble Fabrica und die technische Entwicklung von Bausystemen. Seit 2013 assoziiert ist der Architekt Borja Soriano, der sich um Bauleitung, Koordination und die BIM-Integration der Projekte kümmert. WoHo Lab heißt ein Startup, das die Gruppe 2020 zusätzlich gründete, um die Produktentwicklung im Bereich vorfabrizierte Bausysteme voranzutreiben. Mit Verve setzen sie sich dem allgemeinen Trend im Bauwesen Richtung Differenzierung und Spezialisierung der Gewerke am Planungs- und Bauprozess entgegen. So haben sie die Rolle des heute mehrheitlich auf seine Rolle als Gebäudedesigner reduzierten Architekten auf dem Umweg über interdisziplinäre Arbeitsweisen neu (oder wieder alt) definiert und seine Entwurfskompetenzen um die des Baumanagers, des Bauunternehmers, des Erfinders und Herstellers neuer Techniken und selbst die des Bauherrn ergänzt.
García-Abril nimmt einen erhöhten Standpunkt ein: "Der Architekt, der in der letzten Zeit auf eine grafische und dekorative Arbeit reduziert wurde, findet hier zu seiner wesentlichen Aufgabe zurück, einer so komplexen und für die Gesellschaft notwendigen Tätigkeit wie dem Bau des physischen Raums, der für das Leben und für die Architektur notwendig ist, um diesen eine Ordnung zu geben." Die philosophische Idee dahinter ist das Bewusstsein, dass alle Architektur aus der Erde kommt, die Baustoffe aus der Erde gewonnen werden und dann vom Menschen auf faszinierende Weise bearbeitet, gestapelt, gefügt und zu Räumen transformiert werden, die es zu feiern, zu entdecken und zu bewohnen gilt. Der Mensch sucht im Zuge dieser Entwicklung nach Effizienz, macht sich die Materie untertan, entwickelt Methoden und Werkzeuge, die Steine, die Fasern und die Metalle zu bearbeiten. Ins Heute weitergedacht bedeutet das, von althergebrachter lokaler, traditioneller, kleinteiliger Bauproduktion wegzukommen und fortschrittlichste Technologien der digitalen Fertigung, der Automatisierung und Robotik der Bauprozesse einzuführen, um Qualität, Effizienz, Perfektion, Wirtschaftlichkeit und Sicherheit zu erreichen, wie sie in anderen technischen Branchen längst Standard sind. Nichts anderes ist die Aufgabe von WoHo Lab.
Ein Start-Up Centre in Seoul aus dem Jahr 2017 sieht aus, als habe ein Kind mit dem Metallbaukasten gespielt. Man könnte auch an De Stijl denken angesichts der Konstruktion aus mächtigen stählernen Stützen und Trägern, die sich auf lockere Weise irgendwie zu einem Volumen zusammenfinden. Ein technisch perfektes, modern präfabriziertes Gebäude zweifellos, aber auch mit dem poetischen Hauch des Zufälligen, Dekorativen. Die kräftigen Profile ragen hier und da "sinnlos" heraus, scheinen alle etwas überdimensioniert, sind mehr Ausdruck als rationale Bauglieder. Das Motiv hatten die Architekten bei der Villa Hemeroscopium in Madrid, die 2008 Aufsehen erregt hatte, auf die Spitze getrieben: Gewaltige, raumhohe Betonträger in der Form von Doppel-T-Stahlträgern sind zu einem fragilen Gleichgewicht gestapelt, dem man kaum trauen möchte. Der Rest ist offen oder verglast, Wände gibt es keine. Ein Träger über dem Erdgeschoss ist als Wanne ausgebildet und mit Wasser gefüllt. Am höchsten Punkt, dem G-Punkt, wie ihn die Architekten ironisch nennen, lastet ein zwanzig Tonnen schwerer Granitblock, als ginge es bei dem ganzen Konstrukt nur darum, ihn in die Höhe zu stemmen. "Schwere Strukturen und große Aktionen sind so angeordnet, dass die Schwerkraft den Raum in Bewegung setzt. Auf diese Weise wird der Ort definiert", erläutern sie – der Ort, an dem die Sonne untergeht und den die Griechen Hemeroscopium nennen. Im Inneren fließt der Raum frei und ungehindert, der Blick geht bis zum Horizont, dorthin, wo die Sonne versinkt. Selbstverständlich wurde auch dieses Haus vorfabriziert und an Ort und Stelle innerhalb einer Woche montiert.
Die Polarität zwischen feinstem High-Tech und urtümlicher, fast roher Natur zieht sich durch das gesamte Werk von Ensamble Studio. Hier das präzise geschnittene, in Betonlamellen gekleidete Auditorium in Medina del Campo (2003), dort das Musikstudienzentrum in Santiago de Compostela mit seiner Außenhaut aus Granitquadern mit unbearbeiteten Oberflächen, als kämen sie geradewegs aus dem Steinbruch (2002). Manchmal gibt es beides an einem Bauwerk – den rohen Beton und die luziden, hinterleuchteten Glaswände wie beim Studio Valdès in Madrid (2004). Die Lust am baukünstlerisch-experimentellen Arbeiten zeigt sich an der häufigen Teilnahme an Ausstellungen. Der Big Bang Tower als Vorschlag für einen Nachbarn des Chicago Tribune Gebäudes wurde 2017 auf der dortigen Biennale gezeigt, The Cloud, eine kubistische Raumskulptur, die erdenschwer aussieht, aber zu 98 Prozent aus Luft besteht, 2010 in Madrid, der Balancing Act 2010 in der Corderia auf der Biennale in Venedig. Und als 2013 im Bregenzer Wald das legendäre Programm durch internationale Architekten künstlerisch gestalteter Bushaltestellen der Linie 25 aufgelegt wurde, waren Ensamble Studio mit dem Busstop Unterkrumbach Nord dabei, der aussieht, als hätte man nebenan aus der Sägerei Abfallbretter besorgt und zu einem Wartehäuschen gestapelt.
Eines der utopischsten Projekte ist Sea Homes, schwimmende Wasserhäuser, die, zu einem Ring angeordnet, eine Marina bilden, die man überall hinschleppen kann. Zurück zur Erde führt ein Projekt aus dem Jahr 2018, bei dem es darum ging, einen unterirdischen Steinbruch in Mares auf der Insel Menorca als Höhlenwohnung zu rekultivieren, als "Reise in das innere Wesen der Materie", "die uns Räume zu leben gibt". Das Ehepaar war mit seinen vier Kindern auf einem Segeltörn, als sie den Steinbruch entdeckten und sich spontan in den Ort verliebten. Sie erwarben ihn, beräumten ihn und machten ihn bewohnbar, ohne ihn freilich komfortabel auszubauen. Immerhin gibt es ein wunderschönes Zisternen-Schwimmbad. Ansonsten herrscht Campingstandard, wie sie augenzwinkernd einräumen. Die beiden tauften den Ort „Ca´n Terra“ – Haus der Erde. Der poetische, philosophische Zugang zum Wesen der Baukunst ist die Stärke des Teams und der Garant, dafür, dass bei allem Streben nach Wirtschaftlichkeit, Profit und Prosperität die ureigensten instinktiven Ziele des menschlichen Bauens, nämlich der Nestbau, die Schaffung von Lebensraum aus der Natur heraus, nicht aus den Augen verloren werden.