Man lasse das Auge auf einer x-beliebigen topographischen Karte hierhin und dorthin schweifen – schon durchwandert man in der Vorstellung ferne Länder und Gegenden. Auf alten Exemplaren finden sich aber nicht nur Kontinente, bizarre Inseln und ferne Länder in Umriss und Gestalt, sondern manchmal auch auf Fabelwesen, Tiere, Schiffe und die Namen von Städten. Je nach Bedarf gibt es zudem Angaben zur Wassertiefe von Fahrrinnen oder zur Höhe von Bergen – und vieles mehr. Neutral, gar harmlos, waren Karten, das haben sie im Lauf ihrer Geschichte vielfach bewiesen, jedenfalls nie. Wer präzise Karten besaß, wusste, wo der Feind stand und wo er eine offene Flanke hatte. Zu Lande und zur See.
Die Bande zwischen Kartografie und Kunst waren dabei immer schon eng geknüpft, Gemälde und Karte miteinander verschwistert, zeichnen doch Maler wie Kartograf die Welt auf eine Fläche. Getrennt haben sich ihre Wege erst im 19. Jahrhundert. Wie also sollte das Künstler nicht elektrisieren? Zumal, wenn sie mehr und anderes auf ihnen verzeichnen, als die äußere Gestalt der Erde. Im Fall von Stephan Huber sind, seit er 1999 mit seiner künstlerischen Kartografie begonnen hat, jede Menge außergewöhnlicher Karten entstanden – angefüllt mit etwas anderen Angaben, Entfernungen und Routen, aber auch mit Fotografien, Namen, exotischen Archipelen und Arealen, damit man sich auch im unwegsamen Gelände der Phantasie orientiere und zurechtfinde.
Es geht also weit hinaus ins Innere. Dabei scheint es Stephan Huber dann und wann zu ergehen wie – in Büchners Erzählung – Lenz im Gebirg, dem es manchmal unangenehm war, dass er nicht „auf dem Kopf gehn konnte“. Schließlich ist er kein gewöhnlicher Geodät oder Landvermesser. Ihm ist es zu wenig, die Lage bestimmter Punkte auf der Erdoberfläche zu bestimmen, um sie auf ein planes Stück Papier zu projizieren. Auch Objektivität ist nicht seine Sache. Seine Künstlerkarten sind stattdessen Mutmaßungen, die unser vermeintlich so sicheres Wissen in einen anregenden Schwebezustand versetzen. Und weil er selbst und seine Sicht der Welt es sind, die er kartierend zu überblicken und ein wenig zu ordnen versucht, bezieht Huber Erinnerungen, Träume, Sehnsüchte, Wünsche, Gefühle, Gedanken und soziale Beziehungen ein und sortiert sie mittels „mapping“. Weshalb die fiktionalen Landkarten Stephan Hubers ganz nebenbei vorführen, wie aus einer allgemein-verbindlichen Geografie und auf objektive Verhältnisse bedachten Kartografie eine veritable Autogeografie werden kann.
Vor kurzem hat Huber nun seine sämtlichen Kartenwerke in einem wunderbaren Band vereint, der in Format und Aufmachung nicht zufällig den ersten, in braunes Leinen gebunden und mit Buchstaben in Goldschnitt versehenen Exemplaren des Diercke-Weltatlas bis aufs Haar gleicht, den viele aus der Schule kennen. Mit seinen großen, ausklappbarem Karten wirkt auch Hubers Atlas fast schon amtlich. Nur sind diejenigen, die man in Hubers Weltatlas findet, eben von ganz anderer Natur. Es gibt Weltkarten, regionale Karten, Stadtkarten, Personenkarten, Karten zur Kunst, politische Karten, Wissenschaftskarten und Semiwissenschaftskarten – und, sogar das, Karten der Liebe.
Schon „Karte 01“ thematisiert – sämtliche Karten sind mit ausführlichen Erläuterungen versehen – „die Gleichzeitigkeit kosmopolitischer Verschwörungstheorien und regionaler Lebensformen“, was bis zum Grundriss des Huber’schen Elternhauses reicht. An der Westspitze der Halbinsel „Westallgäu“ liegen lauter „Orte des Wohlgefühls“ mit Namen Paradies, Liebwies und Schönau, aber auch solche wie Einöd, Miesboden und Höllbauer.
Auf Karte Nummer 4 befindet sich südlich einer „Großen Barriere“, einem mächtigen, schneebedeckten Gebirgszug, das „Sowohl als auch-Land (Après la Terreur)“ samt den Arealen des „Irrtums“, der „Entfremdung“, der „Verdrängung“ und der „Aufarbeitung“. Und gleich neben dem „Areal der Hoffnung“ liegt das der „Utopie“, das an die Areale „des endlichen Ichs“ und „der Selbstsucht“ grenzt.
„Karte 06“ ist deutlich autobiografisch geprägt und behandelt die „Ursprungsfamilie des Kartografen“. Zwischen der „Huber’schen Nehrung“ sowie dem „Blauen Blut Meer“ im Norden, der „Inselgruppe der Seefahrerträume“ und dem „Meer der erschöpften Glücksversprechungen“ im Süden, erstreckt sich ein wässriger Archipel, aus dem hier und da Fotografien des Künstlers als Kind und als Mann auftauchen. Wobei auf „Le Papa Island“ Orte wie „Jähzorn“ und „Heilschlaf“ liegen. Springt man hingegen zu den „Karten der Kunst“, so findet man eine Seekarte mit Namen „Mypersonalartsystem“ – und auf die „Maleexcentricislands“ samt „Ludwigs Seelenpark“ und der „Isola D’Annunzio“.
Hubers Karten zelebrieren aber nicht nur lustvoll eine barocke Überfülle, sie unterscheiden sich auch in Farbe und Gestalt erheblich von gewöhnlichen Karten. Einen Höhepunkt erreichen seine kartografischen Erfindungen im Atlas in der Wanderkarte „Alles fließt, strömt und sprudelt“. Hier imaginiert der Künstlerkartograf ein grünes Arkadien, in dem viele Künstlerherzen schlagen und die Seen aus den Schattenrissen bekannter Werke von Künstlern geformt sind, die er schätzt. Und last but not least folgt man gebannt der „Passage durch den Überbau“, einer Karte, die verzeichnet, durch welche Zeiten der Geist des Künstlers gereist, auf welchem Meer der Vorbilder, Einflüsse und Ereignisse er gesegelt ist. Es ist ein Archipel verspielt marmorierter Eilande und Atolle, zu denen die „Theodor-Insel“ (Adorno) ebenso gehört wie die „Île Jean-François“ (Lyotard), ein Territorium in blau-orange, auf dem „das Inkommensurable ertragen wird“. Einen kleinen Nachteil hat der Weltatlas allerdings. Da viele Karten im Original recht groß sind und für den Druck verkleinert werden mussten, braucht man oft eine Lupe, um der Huber’schen Phantasie bis ins sprechende Detail folgen zu können.
So segelt Huber ein ums andere Mal auf einem Meer der Einbildungskraft zu Inseln einer subjektiven Wahrheit, die, wie bei Immanuel Kant „das Land der Wahrheit (ein reizender Name)“, umgeben sind „von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.“
Für Huber, der seine Kartografie als „Psychogeografie der Nachmoderne“ bezeichnet, thematisieren seine Karten „Einzugsbereiche, Empfindungen und Orte meiner privaten Biografie in antagonistischer Spannung zur Außenwelt. Sie konstruieren imaginäre Räume: Räume, die der Realität entzogen sind und im Bereich der Phantasmagorien angesiedelt werden.“ Nicht nur, aber eben auch „in Ulm um Ulm und um Ulm herum“.
Stephan Huber
Weltatlas
Mit Beiträgen von Stephan Berg u. Verena Krieger
186 S., 100 Abbildungen, inkl. 18 Klapptafeln
Leinen mit Goldprägung
Hirmer Verlag, München 2015
ISBN 978-3-7774-2387-6
49,90 Euro