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Endspurt 09: Welche Platte gewinnt?
09.12.2015
Abbildung © Staatliches Schtschussew Museum für Architektur, Moskau

Jetzt, wo die Abende lang und dunkel sind, ist die Zeit der Spiele gekommen. Warum also nicht wieder mal Quartett spielen? Am besten mit einem Kartensatz zum standardisierten Wohnungsbau in der Sowjetunion. Zumal „die Platte“, sprich das Errichten größerer Wohneinheiten aus vorgefertigten Teilen, in welcher Form auch immer unweigerlich wiederzukommen scheint, angesichts eines in Deutschland lange vernachlässigten sozialen Wohnungsbaus und vieler nach Europa drängender Flüchtlinge.

Signature Buildings findet man in dem Quartett keine. Aus einem „Beipackzettel“ (zu Risiko und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Architekten oder den Verleger) geht aber hervor, dass der sowjetische Massenwohnungsbau, so allgegenwärtig und von so immensem Ausmaß er war, gleichwohl ein einzigartiges Phänomen darstellt. Die aus ihm hervorgegangenen Wohnstädte prägten das alltägliche Leben der Sowjetbürger. Keine Stadt entging der intensiven Anwendung von Standardentwürfen. In den 1960er Jahren bildeten sie die Grundlage für mehr als 90 Prozent aller Wohnungsbauten in der UdSSR. Wobei, das darf nicht übersehen werden, das System durchaus auf Modifikation angelegt war, was im Verbund mit unterschiedlichen regionalen Baukulturen zu zahlreichen Varianten geführt hat.

Eingeführt worden war die serielle Entwurfsmethode, das Hauptprinzip der Vereinheitlichung, bereits Mitte der 1940er Jahre. Kurz darauf wurden die Standardentwürfe zudem in ein umfassendes Benennungssystem integriert. Als Schlüsseljahr gilt 1957, als unter Nikita Chruschtschow die Notwendigkeit, jeder Familie schnell und günstig eine Wohnung zur Verfügung zu stellen, zu einem völlig neuen System seriellen Massenwohnungsbau und zur Errichtung sogenannter „Mikrorajony“ – eigenständiger, außerhalb der Kernstadt gelegener Siedlungen in Plattenbauweise – führte.

Beim Spielen fällt einem sofort auf: Die erste Generation dieser Bauten fiel mit 4 bis 9 Geschossen noch vergleichsweise kompakt aus. In den Sechzigerjahren änderte sich das. Die Geschosszahl stieg bis auf 16, die Zahl der Wohneinheiten pro Block auf 200 und mehr. Die in den siebziger und achtziger Jahren realisierte dritte Generation wächst abermals in die Höhe und erscheint in vielerlei Hinsicht eintöniger. Man sollte sich beim Spielen also vorab einigen, ob ein Wohnblock mit möglichst vielen oder einer mit wenigen Wohneinheiten gewinnt. Meine Lieblingskarte aber ist ein Joker. Sie zeigt keinen Plattenbau, sondern Bauschmuck aus Taschkent: Ein Kosmonaut vor einer Scheibe mit den Tierkreiszeichen.

Wer tiefer in die Materie einsteigen möchte, der greife zu dem Band „Belyayevo Forever“ über die typische Alltagsarchitektur eines Mikrorajon. Belyayevo ist die Heimat vieler bekannter Künstler, insbesondere solcher des kritischen Moskauer Konzeptualismus. Das Buch, von Rem Koolhaas am Streika Institut initiiert, stellt eine Verbindung zu Aktion und Performances des Konzeptkünstlers Dmitry Prigov her, und sein Autor, der polnische Architekt und Wissenschaftler Kuba Snopek, plädiert dafür, den Stadtteil, dessen Fassaden und Plätze von Künstlern umgestaltet wurden, im Rahmen der UNESCO unter Denkmalschutz zu stellen. Oder man greift gleich zu Philipp Meusers großangelegter Studie „Die Ästhetik der Platte“. (tw)


Wohnungsbauserien Sowjetunion 1958-1980
37 Blatt, davon 36 Bildkarten plus Deckblatt mit rückseitiger Spielanleitung
1 Beipackzettel mit Informationen zu den Wohnungsbauserien
Blattformat 65 mal 100 Millimeter in Etui aus glasklarem Polystyrol
Karten aus Spielkartenkarton, beidseitig lackiert
DOM publishers, Berlin 2015
ISBN 978-3-86922-343-8 (deutsch)
ISBN 978-3-86922-443-5 (englisch)
je 9,95 Euro

Kuba Snopek
Belyayevo Forever
A Soviet Microrayon on its Way to the UNESCO List
Volume 39 of Basic Series
192 S., 130 Abb., Softcover, englisch/russisch
DOM publishers, Berlin 2015
ISBN 978-3-86922-438-1
28,00 Euro

Philipp Meuser
Die Ästhetik der Platte
Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost
728 Seiten, über 1.400 Abb., geb. mit Schutzumschlag
DOM publishers, Berlin 2015
ISBN 978-3-86922-399-5 (deutsch)
98,00 Euro

Abbildung © DOM Publishers, Zusammenstellung Stylepark
Abbildung © DOM Publishers, Zusammenstellung Stylepark
Abbildung © DOM Publishers, Zusammenstellung Stylepark
Abbildung © DOM Publishers, Zusammenstellung Stylepark
Abbildung © DOM Publishers, Zusammenstellung Stylepark