Richard Neutra (1892 bis 1970) wollte mehr als Häuser bauen. Er hat die Architektur herausgefordert und wollte jede Art von Formalismus und dogmatischem Funktionalismus mit Hinweis auf das Eingebundensein des Menschen in die Natur überwinden. Auch wenn er das ganz anders sah, er wurde trotzdem routiniert dem „International Style“ zugerechnet: „Zum ,internationalen Stil’“, notiert er 1965, „gehört mein Bauen nicht recht, kein Mensch kann genau das Loch finden, in dem eigentlich meine Arbeit hinein passt.“
In seinem noch immer – oder schon wieder – lesenswerten Buch „Wenn wir weiterleben wollen. Erfahrungen und Forderungen eines Architekten“ – das amerikanische Original erschien 1954 – plädiert Neutra denn auch gegen die Reduktion des Raumes aufs Geometrische und für eine konsequent „physiologische“ Auffassung, die aus seiner Sicht der biologischen Realität des Menschen und seiner Erfahrung angemessener erscheint. Von einem am Ende primitiven Funktionalismus will er nichts wissen, gebe es doch nicht nur Formen, die der Funktion folgten, sondern auch solche, die eine Funktion erst hervorbrächten.
Dazu passt, dass Neutra einen seiner Möbelentwürfe einem Kamel abgeschaut hat, dem er dabei zusah, wie es sich setzte. Der multifunktionale Tisch heißt folglich nicht nur „Camel Table“, er vermag die Bewegung des Kamels auch überzeugend nachzuvollziehen, kann doch auch er, wenn auch nicht ohne Zutun, in die Knie gehen und sich im Handumdrehen von einem hohen Esstisch in einen niedrigen Couchtisch verwandeln.
Einige der Möbel, die Neutra für Villen, Wohnbauprojekte oder für seinen persönlichen Gebrauch entworfen hat und die zum Teil nur in Form von Skizzen existierten, haben die VS Vereinigten Spezialmöbelfabriken in Zusammenarbeit mit Neutras Sohn Dion seit kurzem wiederaufgelegt und in einer „Neutra Furniture Collection“ zusammengefasst. Das „Camel Table“ (1951 für das Logar House entworfen) und der „Boomerang Chair“ (er entstand in den frühen 1940er Jahren für Channel Heights, einem Wohnbauprojekt für Werftarbeiter im kalifornischen San Pedro) gehören ebenso dazu wie das Wohngefühl, das Neutra erzeugen wollte und das sich nicht auf Sehen und Betrachten beschränkt, sondern auf die Gesamtheit unserer Sinne einzuwirken sucht.
Neutra hatte freilich noch weit mehr im Sinn als eine Architektur zu schaffen, die den ganzen Menschen in der Welt heimisch werden lässt. So schreibt er beispielsweise: „Es heißt: die Menschheitschance, am Leben zu bleiben, wird durch Mitgestalten unserer Umwelt und durch Nichtgebrauch unseres Verstandes vermindert – jenes Organs, das die Menschheit voranbringt. Nichtgebrauch unseres angeborenen Verstandes wird seine Verkümmerung zur Folge haben, Mißbrauch seine Leistungen dubios und seine Produkte schädlich machen.“ (tw)
Erleben Sie die Neutra Furniture Collection von VS auf der Heimtextil, 12. bis 15. Januar, Messe Frankfurt, im dortigen „Salon Interior.Architecture.Hospitality“ im Foyer 4.0, wo Vorträge für Architekten stattfinden.